"Gottlose"
Der „Gottlose“ in der Bibel – Feindbild oder Nächster?
Teil I: Wer sind die „Gottlosen“ in der Bibel?
1.0 „Gottlos“ kann jeder Mensch [1] sein bzw. handeln.
1.1 Besonders die „Heiden“ [2] (Angehörige fremder „Völker“) werden gern als „gottlos“ bezeichnet, weil sie das Gesetz Gottes (Thora) nicht kennen.
1.2 Aber auch bei uns selber gibt es manche Gottlosigkeit zu beklagen und zu bekämpfen.
1.3 Doch wer umkehren will, den wird Gott nicht fallen lassen, dem will er helfen, zu ihm zurückzukehren (vgl. Lk 15: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der ja auch ein Gottloser ist, sowie im AT bes. Hesekiel 18).
1.4 Sehr oft denken die „Gottlosen“ der Bibel (die in der Regel wohlgemerkt Glieder des Volkes Israel und keine Heiden sind!) allerdings gar nicht an Umkehr, da sie offenbar mit ihrem Leben zufrieden sind und nach Gott nicht fragen. Sie haben ja alles und es fehlt ihnen an nichts.
1.5 Deswegen haben die Frommen oft daran gezweifelt, ob Gott gerecht ist [3], wenn er sie darben lässt, aber den (gottlosen) Reichen [4] anscheinend alles gelingt.
2.0 Aber die Erfahrung zeigt, dass es sich in Wirklichkeit ganz anders verhält:
2.1 Die Bäume der „Gottlosen“ wachsen nicht in den Himmel, sondern befördern diese in die „Hölle“ [5] (vgl. die Parabel vom reichen Mann und dem armen Lazarus, Lk 16, 19ff.)
2.2 Im Alten Testament heißt es, sie werden von Gott selbst „ausgerottet“ [6], er „kappt ihre Seile“ [7]. Sie mögen eine gute Zeit (auf Erden) haben, aber ihr Leben ist „verkürzt“ [8] und „schmachvoll“ [9] ihr Ende. Kurz, sie haben keine Zukunft. Sie sind eher eine Schande auf Gottes Erdboden [10] als eine Zierde in seinem Reich.
2.3 Deswegen ist der Vergleich der „Gottlosen“ mit den „Gerechten“ sehr beliebt [11]. Denn offenbar schneiden die Frommen (in ihrem Selbstbildnis) in dem für ein Leben vor Gott wichtigsten Punkt, nämlich der „Gerechtigkeit“ die vor Gott gilt, besser ab als die ihnen an Gerissenheit überlegenen „Gottlosen“. Darum lautet ja auch ihr „bescheidenes“ Motto: Lieber gerecht und arm als gottlos und reich. Oder: besser in den Vorhöfen des Tempels Hausmeister sein als in den Luxuswohnungen der Reichen ein gottloses Dasein führen [12].
3.0 Durch den darin erkennbaren religiösen Überlegenheitsdünkel dürften sie freilich nicht nur den Spott, sondern auch den Haß und die Verfolgung vieler „Gottloser“ auf sich gezogen haben, zumal sie zu ihrem Leidwesen sicher sehr oft auf reiche Geldgeber angewiesen waren, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen oder um fällige Schulden zurückzahlen zu können (Vgl. dazu die Erzählung vom sog. ungerechten Haushalter in Lk 16).
3.1 In der Tat gab es in der Lebensführung der Frommen einen unauflösbaren Widerspruch: Einerseits erwarteten sie zwar von besser situierten Mitbürgern ständig neue Unterstützungsleistungen, andererseits verunglimpften sie diese gnadenlos als „Gottlose“, wenn sie nichts von ihrem Reichtum abgeben wollten.
3.2 Es kann daher nicht verwundern, wenn die religiösen Eiferer als Reaktion auf ihre oft überzogene Kritik [13] von den „Gottlosen“ – zumindest hinter vorgehaltener Hand – gern als Schmarotzer dargestellt wurden, die lieber ihren religiösen „Geschäften“ nachgehen, als etwas zur Verbesserung ihrer Einkommenssituation zu tun.
4.0 Soziologisch geurteilt, muß von gegenseitiger sozialer Diskriminierung [14] beider Gesellschaftsgruppen gesprochen werden, sogar von einer ins Ideologische gehenden Diffamierung, deren objektive Wurzel jedoch darin bestand, dass alte und neue Wirtschaftsformen sich zum Nachteil der Armen vermengt und überlagert hatten.
4.1 Weil es für die Schicht der wirtschaftlich Benachteiligten in diesem System keinen Ausweg aus der Dauerkrise jener Zeit gab, wenn sie sich nicht bei den noch Ärmeren "schadlos" halten konnten (Mt 18, 23ff. 28ff.), waren sie gezwungen, sich in Notsituationen verstärkt an die religiösen Institutionen oder an Personen ihres Vertrauens zu wenden, um von ihnen Hilfe zu erbitten – oder sich den „Gottlosen“ zu überlassen.
4.2 Die einzige Abhilfe in dieser Situation bildete für sie die Verschärfung der religiösen Regeln durch die unablässige Beobachtung der Einhaltung der Gebote, um die (Neu-) Reichen an ihre Verantwortung für die Armen zu erinnern.
5.0 Menschen, die einen rasanten gesellschaftlichen Abstieg hinter sich haben und nach den Ursachen dieses Ungleichgewichts zwischen Arm und Reich fragen, werden zunächst bezweifeln, dass der Reichtum der Bessergestellten mit legalen Mitteln erworben [15] wurde und sie werden zweitens danach fragen, ob die Reichen ihre religiösen und insbesondere ihre sozialen Pflichten den Armen gegenüber erfüllt haben.
6.0 Schon die Propheten haben überlegt, wie die Reichen und Mächtigen daran erinnert werden können, daß Gottes Gebote eine sozialpflichtige Dimension haben, die selbstverständlich auch für sie gilt.
7.0 Man wird allerdings in der Spätzeit des alttestamentarischen Judentums nicht davon ausgehen können, dass solche Kritik viel bewirkt hat: Wenn dadurch einzelne zum Umdenken gebracht wurden, war das schon viel. Die Mehrzahl der Reichen und Mächtigen wird sich jedoch gegen solche Vorhaltungen eher taub gestellt haben. (So wurde ja auch die Jobeljahr-Enteignung der Reichen praktisch nie wirklich umgesetzt.)
8.0 Aus Angst vor einem solchen Schicksal und der Hartherzigkeit [16] der Reichen flehen [17] die „Gerechten“ bzw. Frommen immer wieder inständig zu Gott, dass er ihnen beistehe, damit sie nicht in die Hände der „Gottlosen“ fallen bzw. daraus gerettet [18] werden (Schuldknechtschaft).
9.0 Aber worin genau bestand denn in den Augen der „Gerechten“ das gemeinschaftszerstörende Verhalten der „Gottlosen“? Nach den einschlägigen Texten (Psalmen und Proverbien) lässt sich Folgendes sagen: 1. Die Gottlosen handeln nicht nach Gottes Geboten [19] und sind Gott gegenüber verstockt, ja haßerfüllt [20]. 2. Ihre Absichten sind falsch [21], ihr Herz ist unbarmherzig [22] und unbeständig, ja ihr Sinnen und Trachten ist stets auf Böses gerichtet [23]. Selbst vor schlimmen Verbrechen wie Mord und Totschlag schrecken sie angeblich, wenn es um ihren Vorteil geht, nicht zurück. 3. Auch wer keinen materiellen Schaden durch sie erleidet, kennt sie nur als „hochmütig“ [24], „stolz“ [25] und „zornig“ [26]. (Muß nicht also, wer es mit ihnen zu tun hat, immer mit dem Schlimmsten rechnen? [27])
9.1 Das Problem ist, dass dieses Bild der Reichen (und Mächtigen) als Synonym für Gottlose in dieser Pauschalität den sozialen Frieden nicht weniger gefährden kann, als es die wirklichen Reichen mit den ihnen zur Last gelegten Taten und Untaten tatsächlich getan haben. Denn so wurden die Reichen, von deren (aus Verpachtung bzw. Verkauf ihrer Güter und Produkte stammendem) Geld große Teile der Wirtschaft abhängig waren, aus dem (vermeintlich gesunden) Volkskörper als eine verderbliche Klasse ausgegrenzt und stigmatisiert [28].
9.2 Obwohl es darüber keine verläßlichen Zeugnisse gibt, paßt diese gegenseitige Herabwürdigung gut zu den damaligen sozialen Spannungen. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die „Gerechten“ meist die Schwächeren waren [29] (und darum „den Kürzeren zogen“). Denn wenn die „Gottlosen“ in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Arbeitsnormen für ihre Mitarbeiterschaft willkürlich heraufsetzen oder die Einkünfte abhängiger Pächter senken wollten, konnte sie niemand daran hindern. Ihrer Macht waren alle Untergebenen hilflos ausgeliefert. Es konnte sie daher kaum überraschen, daß über sie ein so wenig schmeichelhaftes Bild verbreitet wurde. Mochten sie sich auch noch so sehr über dieses schlechte Image ärgern und gegen die nachstellende, religiöse Verurteilungswut der „Frommen“ zur Wehr setzen, den Makel der „Gottlosigkeit“ wurden sie als Reiche nie los.
9.3 Was den „Gottlosen“ im einzelnen vorgeworfen werden konnte, ist allerdings nur schwer zu konkretisieren: hauptsächlich wohl mangelnde Solidarität mit den Armen und Schwachen; Bestechung [30] (Korruption); Ausbeutung der Mitmenschen; Gier [31] nach fremdem Eigentum; betrügerisches [32] Verhalten in geschäftlichen Dingen.
(Dabei „opfern“ sie Gott ihre Gaben wie alle anderen auch und geben sich auch sonst gern den Anschein korrekter staatstragender, dem Ganzen verpflichteter Gesinnung.)
9.4 Ob es sich bei diesen Qualifizierungen der „Gottlosen“ nur um unzulässige Pauschalurteile oder bereits um feste Bestandteile eines angstbesetzten und zu bekämpfenden Feindbildes handelte, ist eine Frage, die allerdings nicht mit letzter Sicherheit beantworten werden kann.
9.5 Ich persönlich tendiere zur zweiten These und vermute, dass sowohl niederschmetternde Einzelerfahrungen (mit sehr machtbewußten und arroganten Einzelpersonen im eigenen kommunalen Umfeld) als auch die Personalisierung alles dessen, was ein Thora-gelehrter Gerechter aus innerster Überzeugung ablehnen soll, zu diesem Feindbild führten.
Aufgabe für die Bibelarbeit: Gibt es biblische Personen (Individuen), auf die Beschreibungen, wie sie für die „Gottlosen“ typisch sind, Anwendung finden können?
9.6 Zwar ist die Ablehnung der „Gottlosen“ eindeutig. Dennoch wird bei aller klammheimlichen Freude über den schließlichen Untergang der Gottlosen vor offen zur Schau gestellter Schadenfreude gewarnt [33].
9.7 Denn Gott kann nicht nur die „Gottlosen“ strafen [34], die in aller Öffentlichkeit sündigen, sondern er kann auch die „Gerechten“ durch ein schlimmes Schicksal heimsuchen [35], z. B. durch Krankheit oder Verlust von Besitz und Familie, ohne dass sie etwas Böses getan haben, siehe die Hioberzählung.
10.0 Schwach und stark kann jedoch im Prinzip nicht nur mit arm und reich verbunden sein, sondern auch mit Glaubensstärke bzw. Glaubensschwäche.
10.1 Dann sind die Starken die, die auch im schlimmsten sozialen Absturz noch an Gottes Macht und Gerechtigkeit glauben und insofern die Gerechten bilden. Und obwohl auch sie mancherorts – vor allem von den Begüterten, aber auch von den Vertretern der sog. Vergeltungstheorie [36] – wegen ihres schrecklichen Schicksals als „gottlos“ bezeichnet werden konnten, waren sie doch in Wirklichkeit (jedenfalls nach biblischer Darstellung) alles andere als „gottlos“, sondern im Gegenteil: die eigentlich und vorbildhaft Frommen.
10.2 Schwach und insofern gottlos sind dann unter dem Gesichtspunkt subjektiver Glaubensstärke vielmehr die, die aufgegeben haben, mit diesem Gott zu rechnen, weil die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen katastrophal geworden sind, von den „Gottlosen“ im Sinne von 9.0 und 9.3 ganz zu schweigen.
10.3 An Gott zu glauben, obwohl es sinnlos geworden zu sein scheint, das ist der einzige Weg, wie der als gottlos Verschriene und gesellschaftlich Ausgegrenzte zum von Gott Gerechtfertigten werden kann.
Ergebnis: Der Mensch als solcher ist trotz des sog. Sündenfalls (Gen 3) nicht völlig von Gott getrennt und darum auch nicht von Geburt an „gottlos“. Aber er kann „gottlos“ werden. Das hängt nicht nur von seinem Verhalten ab. Es kann auch an den sozialen Umständen liegen (Strukturen).
Der Gegensatz von gerecht/fromm und gottlos ist daher kein prinzipieller. Der Gottlose kann wieder zum Gerechten werden, wenn er sein Verhalten ändert, sich um Vergebung seiner Schuld bemüht und in Zukunft die Gebote Gottes strikt einhält. Umgekehrt kann der Gerechte in Gottlosigkeit geraten bzw. zurückfallen, wenn er sich in seinem Handeln nicht an Gottes Gesetz hält.
Auch die sozialen Kategorien arm und reich waren keineswegs immer schon mit fromm bzw. gottlos verbunden gewesen. Aber Reichtum („Mammon“) kann dazu verführen, ihn egoistisch zu missbrauchen, ihn zu seinem „Gott“ zu machen.
Solange Israel eine Solidargemeinschaft war und als solche von allen empfunden wurde, wurden die Reichen wohl kaum als gottlos verteufelt.
Das änderte sich aber, als sich um die Armen (Witwen und Waisen) und Elenden niemand mehr kümmerte, und die Reichen genußsüchtig und verantwortungslos ihren Reichtum allein verzehrten und allenfalls noch Almosen für die Armen übrig hatten.
Andererseits ist davon auszugehen, dass es vor allem in der Spätzeit des alttestamentarischen Judentums einen falschen, gesetzesgläubigen „Gerechtigkeits“-Kult gegeben hat, vergleichbar dem heutigen Fundamentalismus. Wie sonst ist dieses wahnhafte Gerechtigkeitsstreben der Frommen zu erklären? Und dabei muß wohl auch sehr viel Selbstgerechtigkeit im Spiel gewesen sein!
(Es soll hiermit aber keineswegs bestritten werden, dass es daneben auch eine durchaus ehrbare und anerkennenswerte Gesetzestreue gegeben hat, die nicht hinter jedem Fehlverhalten anderer böse Mächte und finstere Gottlosigkeit am Wirken sah und sich außerdem auch nicht scheute, das eigene Handeln einer selbstkritischen Gewissensprüfung zu unterwerfen.)
Die reflexhafte Verknüpfung von reich und gottlos bzw. arm und gerecht kann die Spaltung der Gesellschaft des Volkes Gottes nicht überwinden.
Das gelingt erst, wenn erkannt wird, dass Glaube im tieferen Sinn nicht an das gesellschaftliche oder wirtschaftliche Schicksal gekoppelt werden darf, dass Glaube eigentlich erst da anfängt eine echte Lebenskraft zu werden, wo er dem Menschen hilft, seine Menschlichkeit zu bewahren (oder neu zu gewinnen) trotz eines äußerlich miserablen und scheinbar gottlosen Schicksals.
Von Solidarität des „Gerechten“ mit dem „Gottlosen“ kann im Alten Testament keine Rede sein. Verständnis für den „Gottlosen“ gibt es nicht. Er erleidet (aufgrund seiner Taten) immer das Schicksal, das er verdient. Er verdient nicht das Mitleid, sondern die Verachtung des Gerechten.
Der „Gerechte“ muß wahrscheinlich erst die Erfahrung gemacht haben, dass auch er durch Unglück oder Krankheit o.ä. in die unangenehme Lage kommen kann, über Nacht plötzlich als „Gottloser“ dazustehen, um zu erkennen, wie lebensbedrohlich diese Situation für jeden Menschen werden kann.
Dennoch wird niemand einen zu Recht als „gottlos“ angesehenen und verurteilten Menschen in Schutz nehmen, es sei denn, er beginnt ein neues Leben. Der Gottlose als solcher findet im Alten Testament keine Rechtfertigung vor Gott. Nur wenn er von Gott rehabilitiert ist (durch Reue und Umkehr), kann er wieder an seinen angestammten Platz in der Gemeinschaft zurückkehren.
Teil II: Die Rechtfertigung des „Gottlosen“
Die Vertiefung des Glaubensverständnisses (von der oben bereits die Rede war) lässt sich an Hiob und an den Gottesknechtsliedern des zweiten Jesaja (siehe besonders Jes 52/53) ablesen, ganz besonders aber an Texten des Neuen Testaments, z. B. Mt 5, 1-12.
Nach evangelischem Verständnis geht es im NT (bes. im Evangelium, wie es von Paulus verkündigt wird) zentral um die Rechtfertigung des Gottlosen.
Wer die Texte des Apostels Paulus heranzieht, wird den Eindruck bekommen können, es handle sich bei der Rechtfertigung des Gottlosen um ein eher theoretisches Phänomen.
Dagegen liefert uns der Evangelist Lukas eine konkret-bildhafte Darstellung dessen, was Jesus unter der Rechtfertigung eines Gottlosen verstand.
Das lässt sich beispielhaft an der lukanischen Gegenüberstellung des Verhaltens eines Pharisäers und eines Zöllners im Tempel zeigen (Luk 18, 9-14).
Für Lukas gibt der parallele Besuch dieser beiden Männer im Tempel das Paradebeispiel für die Rechtfertigung eines Sünders durch Gott ab.
Beide wenden sich in ihrem Gebet an Gott; der eine (Zöllner) in der Haltung dessen, der aus dem Abseits seiner Gottlosigkeit heraus erneut das Gespräch mit Gott sucht, wohl wissend, dass er dazu ganz und gar auf dessen Gnade und Barmherzigkeit angewiesen ist; der andere (Pharisäer) in der Haltung des gesetzesstolzen Rechtgläubigen, der anhand des Gesetzes Gott seine positive Bilanz vorträgt, um von ihm salviert zu werden.
Letzterer erwartete selbstverständlich von Gott, gerechtfertigt zu werden – und wurde es doch nicht. Warum stattdessen der andere, der nichts vorzuweisen hat als nur das Bewusstsein seiner Schuld? Weil Gott als Gott angesprochen werden will und nicht als Wirtschaftsbilanzprüfer, der Entlastung ausspricht, wenn die Rechnungslegung sachlich richtig erfolgt ist.
Wenn wir Gott so gegenübertreten, wie es der Pharisäer in dieser Erzählung tut, dann begegnen wir ihm nur als abstraktem Richter [37] und verfehlen sein wahres Wesen: seine dem Einzelnen zugewandte Barmherzigkeit. (Dieses Wesen Gottes der ganzen Welt bzw. der jüdischen Gemeinschaft in Palästina in letzter Konsequenz offenbar gemacht zu haben, ist das eigentliche Verdienst Jesu. Seine Glaubensforderung gilt primär diesem Gott, weniger dem abstrakten Richtergott, der uns nur nach unseren Taten richtet.)
Ein Problem ist in dieser Geschichte freilich nicht zu übersehen. Das ist die abstrakt verstandene Bußgesinnung des Sünders. Sie kann ihn nämlich durchaus auch leer ausgehen lassen, statt ihm die erneute Lebensgemeinschaft mit Gott zu ermöglichen und damit neues Leben zu schenken. Das hängt davon ab, ob hier bloß eine formale Höflichkeitsgeste vorliegt. Denn wenn ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott gar nicht intendiert ist, bleibt diese Geste, wie der Kniefall als Zeichen der Unterwürfigkeit eines Untertans im Verhältnis zu einem Höhergestellten, ohne tiefere Bedeutung, ein Untertanenritual. Nur wenn in diesem Akt der Annäherung an Gott Bekehrung und Lebensänderung eingeschlossen oder zumindest mit intendiert sind, kann sich daraus etwas Neues, Befreiendes, Leben Ermöglichendes ergeben. Die bloße Verinnerlichung der Bußmentalität als solche ist nicht Glaube. Sie schafft jedenfalls keine Befreiung des in Schuld verstrickten Lebens, sondern nagelt den Glaubenden nur noch tiefer darin fest.
Glaube = Schuldbewusstsein aber ist pervers.
Jesus hat das Gesetz Gottes natürlich nicht abgelehnt, im Gegenteil: Er hat es sogar in mancher Hinsicht verschärft, ja überboten, und zwar in erster Linie gegenüber den Frommen (beispielhaft ist hierfür seine Pharisäer-Kritik), um sie zu warnen, den Bogen der Selbstgerechtigkeit nicht zu überspannen. Das Gebot der Feindesliebe gehört vermutlich auch in diesen Zusammenhang.
Ebenso zeigt das Beispiel der Übernahme seiner Kritik am falschen Richten, dass sich in der christlichen Gemeinde eine allmähliche Abkehr von der strafenden Vergeltungs-Ethik vollzieht (die allerdings bei dem früheren Pharisäer Paulus noch relativ lange nachgewirkt hat, vgl. seine massive Kritik an mangelnder Gemeindedisziplin und unkorrektem Verhalten [38]).
Denn mit der Liebe zum Nächsten, ja sogar zum Feind, ist ein grundsätzlich neuer Maßstab für den Umgang (nicht nur mit normalem, sondern) auch mit abweichendem Verhalten gegeben. Ob und inwieweit dieser neue Maßstab das Leben in der Gemeinde selbst wirklich bestimmt hat und ob er dort über das normale Maß der gesetzlich geforderten Nächstenliebe immer hinausgeht, ist angesichts der vielen ungelösten Konflikte in den urchristlichen Gemeinden eher zweifelhaft.
Biblische Texte:
Luk 18: Die Gleichnisse vom Richter und vom Pharisäer und Zöllner;
Römer 4,5: Dem aber, der … an den glaubt, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.
Röm 5, 6: Christus ist für uns „Gottlose“ gestorben…;
Mt 20, 1-16: Die Arbeiter im Weinberg – wieviel ist der Letzte noch wert?
Röm 1, 18: Gottes Zorn wird offenbart … über alles „gottlose“ Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen…
Teil III: Leben in der Gemeinde Jesu
als Kampf gegen
die widergöttlichen Mächte
Diese Auffassung christlicher Existenz als Kampf gegen widergöttliche Mächte in der Welt geht zurück auf die ursprünglich apokalyptische Deutung von Zeit und Gegenwart als bestimmt durch das (in Form einer Katastrophe) bald hereinbrechende Gottesgericht als "Ende der Geschichte". Wann das sein wird, weiß allein Gott. Bis dahin hat die irdische Gemeinde Jesu die Aufgabe, in der Kraft des Heiligen Geistes, den ihr der auferweckte Christus verliehen hat, die widergöttlichen Mächte des Bösen in Schach zu halten und zu bekämpfen (vgl. u.a. Röm 12, 21). Mit der Auferstehung Jesu beginnt die eigentliche Endphase dieses Kampfes. Nach 1. Kor 15, 24 u. 28 wird Christus am Ende seines (universellen) Regiments, wenn sein Auftrag (durch die Gemeinde) erfüllt ist, sein Reich definitiv seinem himmlischen Vater übergeben, „auf dass Gott sei alles in allem“.
Der Beitrag der Gemeinde Jesu zu diesem Kampf besteht [39] in dreierlei: a) „Kampf des Geistes gegen das Fleisch“ (Fleisch = griech. sarx, bedeutet: individuelle Gottlosigkeit und egoistische Selbstfixiertheit), b) „Hoffnung und Geduld im Leiden“, c) Handeln in der Kraft der Liebe Christi (das bedeutet: Anteilnahme am Schicksal anderer, Bereitschaft sich für die Bedrängten einzusetzen, Änderung und Verbesserung der Lebensverhältnisse, Integration der Ausgegrenzten). Dieser Beitrag ist konkret angewandte Kreuzestheologie [40]. Initiiert und vorangetrieben wird diese religiöse Praxis durch den apokalyptischen Schrei nach Erlösung [41] vom Todesverhängnis (Röm 7, 24), der in der ganzen Schöpfung zu vernehmen ist (Röm 8, 22).
Wie läßt sich dieses Verständnis des Christseins, wonach dessen Übernahme durch die Taufe die Verpflichtung zu einem dem kreuzestheologischen Programm des Apostels Paulus entsprechenden Handeln des Christen in dieser Welt in Fortsetzung des Handelns Christi selbst einschließt, mit der reinen reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen (Sünders) allein durch den Glauben in Einklang [42] bringen?
Muß hier nicht das Motiv des von Jesus begonnenen und von der Gemeinde Jesu weiter zu führenden Kampfes mit dem davon zu unterscheidenden, ihn allererst begründenden Glaubensakt als solchen kollidieren? Jedenfalls muß nach lutherischer Auffassung beides unterschieden bleiben.
Der ins Universelle ausgeweitete Kampf um die Zukunft der Schöpfung als einzig sachgemäße Interpretation der apokalyptischen Dimension des Glaubens an Jesus Christus und die dem einzelnen Gläubigen dafür, dass dies geschieht, aufgebürdete Verantwortung – bedeutet das nicht eine das Wesen des Glaubens verletzende Überforderung seiner Möglichkeiten? Apokalyptisches Denken ist weniger auf eine Welterneuerung durch eigenes Handeln (und sei es ökologisch noch so wichtig) ausgerichtet als auf das katastrophale Ende der irdischen Weltsysteme, dem Geschichte und Natur unserer Welt mit zunehmendem Tempo entgegen gehen [43] und das offenbar machen wird, wer der im Verborgenen schon jetzt wirkende Herr der Schöpfung ist.
Von der positiven „Utopie“ eines „verwirklichten Messianismus“ [44] weiß die Apokalyptik über die (mythologische) Restauration vergangener Urzustände (Paradies bzw. Davidsreich) hinaus nichts Nennenswertes zu berichten. Sie ist eher eine immer wieder auftauchende häretische Versuchung [45] sowohl des jüdischen als auch des christlichen Glaubens in ihrer gemeinsamen Geschichte gewesen [46].
Wolfgang Massalsky, 13. 9. 2012
Für den „Arbeitskreis Bibel, Theologie, Kirche“
[1] Zu den Gottlosen gehören alle Sünder, Frevler, Böse, Übeltäter, ja alle „Feinde“, wer immer sich dahinter verbirgt; aber auch die Toren, die mit Gott nichts zu tun haben wollen.
[2] Psalm 9, 6. 18
[3] Ps 10, 13
[4] Ps 73, 12; 92. 8
[5] Ps 31, 18; Spr 2, 22
[6] Ps 101. 8; 37, 28. 34. 38; 104. 35;
[7] Ps 129, 4
[8] Sprüche 10, 27
[9] Spr. 18, 3
[10] und sollen „verschwinden“: Ps 104, 35; 119, 119
[11] vgl. z. B. Spr. 10, 3.6f.; 12, 7; 14, 14-16. 18f. 19; 24, 16; 28, 28; 29, 27
[12] Ps 84, 11; 37, 16
[13] Ps 58, 4
[14] allerdings überwiegend nur rekonstruierbar, weil die religiöse Sprache der Psalmen und Sprüche zum Thema "Gottlose" erstens von den "Frommen" stammt und die sog. Gottlosen sich nicht verteidigen können, zweitens die religiöse Gemeinschaft mehr und mehr den Religiösen (Frommen) vorbehalten und von ihrer Abneigung, ja Feindseligkeit gegen „Gottlose“ bestimmt wird.
[15] Spr 15, 6
[16] Spr 12, 10
[17] Ps 140. 5
[18] Ps 97. 10; 17, 13; 140, 5
[19] Ps 119, 53; 110. 155
[20] Hiob 8, 22
[21] Spr 10, 16
[22] Spr 12, 10
[23] Spr 12, 12; 21, 10
[24] Spr. 10, 32
[25] Ps 10, 4
[26] Ps. 10, 4
[27] Spr 12, 5
[28] Ps 26, 5; 28, 3
[29] So zeigt Spr 18, 5, dass die Begüterten vor Gericht stets einen besseren Stand haben als die weniger Begüterten und Armen, so dass Rechtsbeugung an der Tagesordnung ist.
[30] Spr 17, 23
[31] Ps 140, 9
[32] Ps 37, 21
[33] Spr 24, 17. 19. 20
[34] Ps 91, 8
[35] Ps 11, 5; Hiob 9, 22
[36] Sie besagt, dass man Schuld auf sich geladen haben müsse, wenn man von einem schlimmen Schicksal geplagt wird.
[37] Wobei Gericht nur als „Abrechnungstag“ verstanden wird!
[38] vgl. 1. Kor 5, 1-5; Röm 2, 12ff.
[39] nach P. v. d. Osten-Sacken, Die paulinische theologia crucis als Form apokalyptischer Theologie, in Evangelische Theologie 39/6 (1979), 477-496, S. 485
[40] vgl. Osten-Sacken ebd. 488. Diese paulinische Form von Kreuzestheologie bezeichnet v. d. Osten aufgrund ihrer apokalyptischen Funktion als "Theologie des befristeten Übergangs" (ebd.) zur Neuschöpfung dieser Welt. - Was den Beitrag der Christen und Gemeinden zur Umsetzung des apokalyptischen Programms angeht, verwundert das Fehlen des Missionsgedankens (in dieser Aufzählung bei v. d. O.-S.), weil die Mission doch ansonsten die Kreuzestheologie des Paulus auf Schritt und Tritt begleitet.
[41] ebd. 492
[42] v. d. O.-S. scheint selbst die Unvereinbarkeit beider Gedanken zu meinen, wenn er von den hier sich „meldenden … Synergismusängsten“ spricht, ebd. 492
[43] wenn die Menschheit nicht endlich umkehrt und neue bzw. andere Wege im Umgang der Völker miteinander und mit der Natur geht
[44] Zweifellos hat dieses apokalyptisch-messianische Konzept, wie es von Gershom Scholem herausgearbeitet wurde, v. d. Osten-Sacken ebd. 477f., den neutestamentlichen Christologien in der einen oder anderen Form ursprünglich zugrunde gelegen. Aber es ist dahingehend abgewandelt worden, dass nunmehr Christus selber, der am Kreuz „Erhöhte“ und durch seine Auferstehung Wiedergekommene, die bereits geschehene, wenngleich sehr nüchterne Verwirklichung des bei den Apokalyptikern ins Phantastisch-Utopische und Ungreifbare gesteigerten Messianismus geworden ist.
[45] Vgl. die Bemerkungen von G. Scholem über die „Verführung zur messianischen Aktion“ (140) zur Herbeiführung oder Beschleunigung der Erlösung. Die gewaltsam zu verwirklichende Utopie ist in diesem apokalyptischen Programm eine naheliegende Option, weil die Erlösung nur die Innenrealität des Menschen und nicht das äußere Dasein dieser Welt verändert und revolutioniert. (Über einige Grundbegriffe des Judentums, es 1970, 139ff.)
[46] vgl. Ernst Blochs Müntzer-Bild. Prof. Jacob Taubes interpretierte einst in einem mündlichen Beitrag im interdisziplinären Kolloquium (Forschungsprojekt) zum Thema „Eschatologie und Geschichte“, FU Berlin SS 1972 u. WS 1972/73, die Apokalyptik (und die Gnosis als nach innen gewendete Apokalyptik) als Ausdruck geistiger und politischer Opposition mit universeller Tendenz und beurteilte beide Bewegungen, die apokalyptische wie die gnostische, als Ausbruchsversuche aus dem Ghetto, in das das Judentum, ja das existenzielle Menschsein überhaupt, durch den verordneten ideologischen Pluralismus und Polytheismus Roms eingesperrt und so lebensunfähig gemacht worden waren.