"Inkarnation" oder "Inlibration"
„In-karn-ation“ und “In-libr-ation“
Zur Idee der Weihnacht1 im Christentum und im Islam
Auswahl biblischer (B) und koranischer Texte (Q):
vgl. B-Texte: Lk2,1-20; Mt 2, 1-13; Joh 1, 1-18;
vgl. Q-Texte: Suren 97 (Nacht der Bestimmung, al-qadr); 19, 1-40 (mekkanisch); 3, 33-64 (medinisch);
Zur Diskussion:
1. These: In der Geschichte Jesu, wie sie uns die synoptischen Evangelien berichten, ist im eigentlichen Sinne von einer „Inkarnation“ nicht die Rede.
1.1 Er ist aber immerhin als „Gottes Sohn“ bezeichnet worden. Aber sicher nicht im (ontologischen) Sinne der Dogmatik von Chalkedon, sondern mehr im jüdisch-alttestamentlichen Sinne, als ein messianologischer Titel.
1.2 Aber erste Ansätze zu einer solchen Vergöttlichung Jesu gibt es vielleicht schon bei Johannes, wenn man den Prolog des Johannes (mit dem Begriff „Logos“) betrachtet, obwohl auch dies von der neutestamentlichen Exegese bestritten wurde (so bei P. v. d. Osten-Sacken).
1.3 In den folgenden Jahrhunderten ist die Vergöttlichung Jesu Christi als die zweite der drei trinitarischen Personen aber dogmatisch behauptet und vollzogen worden, ohne den historischen Jesus ausreichend zu berücksichtigen.
1.4 Denn Jesus wollte keine neue Religion stiften mit ihm als Mittelpunkt, wie es das Christentum ja später geworden ist. Er war vielmehr angetreten, das gesetzestreue Judentum wiederherzustellen, wenn auch nicht im pharisäischen, sondern im Sinne einer unbedingten Liebe zu Gott und dem Nächsten, im Vertrauen auf sein bald kommendes Reich.
1.5 Die ihm zugeschriebenen Wunder ließen jedoch die Möglichkeit zu, ihn in eine engere Beziehung zu Gott, dem Vater, zu stellen (und zu verehren), als sie je einem anderen Menschen innerhalb der jüdischen Glaubensgemeinschaft zuteil wurde.
1.6 Daß daraus sogar eine Wesensgleichheit mit Gott geworden ist, eines Gottes, der in ihm „Mensch“ geworden ist, hätte die Vorstellungskraft eines normalen Juden und erst recht Jesu sicher überfordert und gesprengt.
Anregungen zum Gespräch:
1. Stellt der Islam nicht gegenüber dem Christentum die eindeutige(re) Bejahung des Monotheismus dar (wegen der dortigen Gefahr eines Tritheismus), zumal sich das Christentum selbst in seinen eigenen Reihen viele kritische Fragen gefallen lassen mußte? Christus = wahrer Gott und wahrer Mensch – wie paßt das zusammen? Denn genau wegen dieser Problematik ist es ja im Laufe seiner Geschichte immer wieder zu verhängnisvollen (und von der Großkirche als häretisch bekämpften) Kirchenspaltungen gekommen.
2. Läßt diese Problemlage nicht erkennen, warum sich der Islam als die bessere, authentischere Verwirklichung der im Judentum angelegten, aber nicht verwirklichten, universalen Botschaft des einen Gottes an alle Welt verstanden hat?
2. These: Die dogmatische Vorstellung einer (ontologischen) Gottessohnschaft Jesu (wie sie De Incarnatione Verbi von Athanasius vertritt, ca. 295 bis 373 n. Chr.) war deshalb lange Zeit sehr umstritten. Aber für die Staatskirche (nach der konstantinischen Wende) genügte nicht mehr der am Kreuz scheiternde Christus zur Repräsentanz Gottes in dieser Welt. Ihrem Anliegen als der maßgeblichen Autorität gegenüber dem weltlichen Staat entsprach der auferstandene und triumphierende Christus, den die Kirche verkörperte (Kirche im heiligen Geist als göttliches Institut, als „Leib Christi“ existierend), inzwischen viel besser. Diesem Selbstverständnis der Kirche bot die im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und verfeinerte Dreieinigkeitslehre mehr Gestaltungsmöglichkeiten, um ihren Machtanspruch auf allen Ebenen des Staates (und des Volkes bzw. der Völker) durchzusetzen.
3. These: Für den Qur‘an ist dagegen Jesus lediglich ein Gesandter oder Prophet Gottes, nicht der (ontologisch verstandene) Gottessohn. Als solcher wird er im Islam als zu Unrecht auf eine Stufe mit Gott gestellter und erhobener „zweiter Gott“ betrachtet und abgelehnt (wobei die Rede vom „zweiten Gott“ im Christentum selbst benutzt wurde, und gar nicht einmal im negativen Sinne, sondern in bezug auf den Menschen schlechthin, vgl. Nikolaus von Kues). Der Q spricht hier von „Beigesellung“ (schirk), die Gottes Einzigkeit (Monotheismus) nicht nur antastet, sondern ganz aufhebt, und damit einen Rückfall in den überwunden geglaubten Polytheismus darstellt.
4. These: Der Islam kennt daher keine "Inkarnation" (Menschwerdung, von lat. caro, carnis = Fleisch abgeleitet) Gottes, sondern eher so etwas wie eine „Inlibration“. Der Q ist das von Ewigkeit her bei Gott vorhandene „Buch“ (lat. liber/librum), dessen Inhalt durch Gott an Muhammad übergeben („offenbart“) worden ist, auch wenn diese Offenbarung nicht in einem Stück, sondern nur nach und nach geschehen konnte. Der Q ist also göttlichen Ursprungs und nicht Menschenwerk. Eine historisch-kritische Untersuchung des Q kennt der Islam nicht und würde er auch nicht zulassen.
5. These: Andererseits kann man fragen, ob nicht damit im Islam der Qur‘an an die Stelle Jesu getreten ist. Während die Gottheit (= besser Göttlichkeit) Jesu bestritten und abgelehnt wird, wird die Erstschrift des Q als „göttliches Buch“ für präexistent bei Gott und ewig gültig gehalten, das bis zur Offenbarung für Muhammad dort (quasi zur Rechten Gottes) aufbewahrt war. Offenbar soll seine Übergabe an Muhammad dazu dienen, dem Wirrwar der verschiedenen Glaubensformen (neben dem Poytheismus der arabischen Stämme) auch innerhalb des Monotheismus ein Ende zu bereiten. Denn Religionen, die sich gegenseitig bekämpfen, können ihren Gläubigen kein sicheres Heil versprechen. Demzufolge will der Q einen Schlußstrich unter die leidigen Religionskämpfe ziehen, weil nur dessen Befolgung ewiges Leben garantiert, - wie es freilich auch das ewig gültige Wort Gottes der Bibel (für Judentum und Christentum) verspricht, als deren Erbe sich letztlich auch der Islam verstehen läßt.
6. These: Auf dieser Ebene scheint es daher keine wirkliche Überwindung des Gegensatzes zwischen den Religionen zu geben, sondern nur eine Vermehrung der Probleme. Es wäre daher ein Paradigmenwechsel notwendig, der davon auszugehen hätte, daß zwischen diesen drei Religionen eine Art Ökumenischer Friede hergestellt werden kann und muß, wenn die Religionen etwas zum Weltfrieden beitragen wollen. Ist das überhaupt vorstellbar?
Zum weiteren Gespräch:
1. Was sind die Vorzüge und Nachteile dieser drei Religionen?
2. Und können diese drei Religionen lernen, sich zu vertragen?
3. Oder verurteilt ihr jeweiliger Wahrheits- und Absolutheitsanspruch diese Zielsetzung von vornherein zum Scheitern?
Wolfgang Massalsky
AK Bibel und Theologie / Reihe „Christentum und Islam“, 15.12. 22,
1 „Unwissentlich vollziehen die Muslime in der leylat al-qadr das Weihnachtsfest.“ (Barbara Köster, Der missverstandene Koran, 2. Aufl. 2015, S. 222)