Leben zwischen Fremdheit und Heimkehr
1. „Erzählung vom westlichen Exil“
(von Suhrawardi)
Der Fall in die Finsternis
Als ich einst mit meinem Bruder Asim „dem Unverletzlichen“ von den Gebieten jenseits des Flusses in die Länder des Westens reiste, um einen Schwarm von den Vögeln der Küste des grünen Meeres zu jagen, da fielen wir plötzlich herab in das Dorf mit den finsteren Einwohnern, ich meine die Stadt Kairuan. Sobald ihre Bewohner bemerkten, daß wir – Söhne des Scheichs, der als al-Hadi ibn al-Chair, „der Führer, Sohn des Guten“, der Jemenit, bekannt ist – ganz unerwartet zu ihnen gekommen waren, umringten sie uns. Sie fesselten uns mit Eisenketten und sperrten uns ein auf dem Grund eines Brunnens, dessen Tiefe unendlich war. Über dem Brunnen, der stillgelegt und nur mit uns besetzt war, erhob sich eine hohe Burg mit mehreren Türmen.
Sie sagten zu uns: „ Ihr habt keinen Schaden, wenn ihr am Abend ohne eure Kleider in die Burg hinaufsteigt, aber sobald der Morgen kommt, fallt ihr unweigerlich wieder hinab auf den Grund des Brunnens.“ Auf dem Grund des Brunnens gab es Finsternisse über Finsternisse. Wir konnten kaum die eigenen Hände vor den Augen sehen.
Aus dem Jemen kommt die sichere Nachricht
Zur Abendzeit jedoch stiegen wir in die Burg hinauf und blickten durch eine kleine Lichtluke hinab in das weite Land. Manchmal kamen Tauben aus dem Dickicht des Jemen zu uns und berichteten uns von dem heiligen Land. Und manchmal erreichten uns jemenitische Blitze, die auf der rechten, östlichen Seite aufflammten und uns von den verdammten Sippen des Nedschad 1 erzählten. Und die Winde des Arak-Baumes ließen unsere Leidenschaft immer stärker werden. Voller Verlangen sehnten wir uns nach dem Vaterland.
So stiegen wir jede Nacht hinauf und fielen am Tage wieder hinab. Da sahen wir einmal, wie in einer mondhellen Nacht der Wiedehopf durch die Lichtluke hereinkam und grüßte. In seinem Schnabel truger ein Stück Papier, das von der rechten Talseite auf dem gesegneten Stück Land vom Baum her kam.
Er sprach zu uns:
„Ich habe erfahren, auf welche Weise ihr beide befreit werden könnt, und bin zu euch gekommen von Saba mit einer sicheren Nachricht. Hier in dem Brief eures Vaters ist sie dargelegt.“
Wir lasen das Papier und fanden folgendes darin:
„Von al-Hadi („dem Führer“) eurem Vater: Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers. Wir riefen eure Sehnsucht an, aber ihr habt euch nicht gesehnt. Wir riefen euch auf zu kommen, doch ihr habt euch nicht auf den Weg gemacht. Wir gaben euch Zeichen, aber ihr habt nicht verstanden.“
Und er forderte mich in dem Brief auf:
„O du! Wenn du zusammen mit deinem Bruder befreit werden willst, dann werdet nicht müde in eurem Entschluß, euch auf den Weg zu machen, und haltet euch fest an unserem Lichtseil, dem Dschauzahar (Drache), der heiligen Sphäre, die über die Gebiete der Verfinsterung herrscht. Wenn du dann in das „Tal der Ameisen“ kommst, dann schüttle dein Gefolge ab und sprich: „Lob sei Gott, der mir Leben gab, nachdem er micht getötet hat, und zu dem die Auferstehung ist“ und vernichte deine Angehörigen. Töte dein Weib, denn sie war von den Vergangenen, und gehe hin, wohin du befohlen wirst, denn diese werden am Morgen vollkommen ausgerottet. Besteige das Schiff und sprich: Im Namen Gottes sei seine Fahrt und seine Landung.“ 2
Die Schiffahrt durch stürmische See
Auf dem Papier war alles erklärt, was es auf dem Weg geben würde. Der Wiedehopf ging voran, und die Sonne erschien über unseren Köpfen, als wir plötzlich den Rand des Schattens erreichten. Wir stiegen auf das Schiff, und es fuhr mit uns auf einer Woge, so hoch wie die Berge. Wir wünschten uns sehnlich, auf den Berg Sinai zu steigen, um zum Heiligtum unseres Vaters zu gelangen.
Die Woge trat zwischen mich und meinem Sohn, da war er einer von denen, die ertränkt wurden. Und ich begriff, daß für meine Leute die Zeit, die ihnen gesetzt ist, der Morgen ist. Ist der Morgen nicht nahe? Ich erkannte, daß in dem Dorf, welches Schlechtes zu tun pflegte, das Unterste zuoberst gekehrt und Steine von übereinander geschichtetem Ton auf es nieder regnen würden.
Als wir an einen Ort kamen, wo die Wellen heftig gegeneinander prallten und die Wasser wogten, nahm ich meine Amme, die mich gestillt hatte, und warf sie in die offenen See. Wir fuhren auf einem Schiff aus Planken und Nieten. Dann schlugen wird ein Loch in das Schiff aus Furcht, daß ein König hinter uns jedes Schiff aus Zorn nehmen könnte.
Das gedrängt volle Schiff war mit uns an der Insel Gog und Magog vorbeigezogen bis zur linken Seite von al-Dschudi. 3
Bei mir waren welche von den Dschinnen, die unter meinem Befehl handelten, und eine Quelle von flüssigem Kupfer stand in meiner Macht. Ich sprach zu den Dschinnen: „Blast hinein, bis es wie Feuer wird.“ Dann errichtete ich einen Damm, damit ich von ihnen (Gog und Magog) getrennt würde. Und es bewahrheitete sich. Und meines Herrn Verheißung ist Wahrheit.
Auf dem Weg sah ich die Schädel von den Ad und Thamud, und ich ging in jenen Gebieten herum, die in Trümmer lagen. 4
Die Überwindung der Sphären
Ich tat die beiden Lasten mit den Sphären zusammen, und ich steckte sie einmal mit den Dschinnen in eine runde Flasche, die ich hergestellt hatte und auf der sich Linien befanden, die aussahen als ob sie Kreise wären.
Dann schnitt ich die Flüsse aus dem Inneren des Himmels ab. Als aber das Wasser von der Mühle getrennt wurde, stürzte das Bauwerk ein, und die Luft strömte frei zur Luft.Und ich warf die Sphäre der Sphären auf die Himmel, so daß sie die Sonne, den Mond und die Planeten zermahlte.
Dann wurde ich aus vierzehn Schreinen und aus zehn Gräbern erlöst, aus denen der Schatten Gottes hervorgeht, damit er mich sachte zu sich nimmt in das Heilige, nachdem er die Sonne zu einem Hinweis auf es machte. Ich fand den Pfad Gottes, und ich begriff, daß dies mein Weg, ein gerader Weg ist.
Für meine Schwester und meine Familie hatte ich in nächtlichem Angriff von Gott eine Strafe erhalten, da brachten sie einen Teil der Nacht in Finsternis zu, und sie hatten Fieber und einen Alpdruck, der sich zu einer heftigen Tollheit entwickelte.
Ich sah eine Lampe, in der Öl war, und von der ein Licht ausströmte, das sich im gesamten Haus verbreitete, so daß seine Nische hell aufloderte und es seine Bewohner durch die strahlende Helligkeit des Sonnenlichtes auf ihnen entzündete. Dann stellte ich die Lampe in den Mund eines Drachens, der im Sternbild eines Rades wohnt, unter dem das Rote Meer liegt und über ihm Sterne, von denen niemand die Orte ihrer Strahlen kennt außer dem Kundigen, der ein gründliches Wissen hat.
Ich sah den Löwen und den Stier sich entfernen, und der Schütze und der Krebs waren in der Umdrehung der Gestirne durcheilt worden. Die Waage blieb gleichmäßig, als der jemenitische Stern aufging hinter zarten Wolken hervor, die aus dem bestanden, was die Spinnen von den Ecken der Welt des Urspungs in der Welt des Seins und Vergehens woben.
Mit uns zusammen waren Schafe. Doch in der Wüste verließen wir sie, denn die Erdbeben vernichteten sie, und das Feuer eines Blitzes fiel auf sie herab.
Als die Strecke endete, der Pfad erlosch und der Ofen kochte, der eine konische Form hatte, da sah ich die oberen Himmelskörper. Ich vereinigte mich mit ihnen und hörte ihre Melodien und die Klänge ihrer Saiten. Ich lernte ihre Lieder, und ihre Töne klangen in meinen Ohren wie das Geräusch einer Kette, die über einen massiven Felsen gezogen wird. Beinahe zerrissen meine Sehnen und lösten sich meine Gelenke, solch eine Freude kam über mich. Dies wurde bei mir solange wiederholt, bis die Wolken sich aufgelöst hatten und die Plazenta zerrissen war. 5
Die Quelle des Lebens am Sinai
Und ich ging aus den Grotten und Höhlen hinaus, bis ich die Steine hinter mir gelassen hatte und mich der Quelle des Lebens zuwandte. Da sah ich einen mächtigen Felsen auf der Spitze eines Berges, so gewaltig wie ein Berg. Ich fragte die Fische, die in der Quelle des Lebens versammelt waren und voller Freude und Wonne lebten, nach dem hochragenden mächtigen Schatten: „Was ist das für ein Berg? Und was ist dieser mächtige Felsen?“
Einer von den Fischen schwamm in einem Schwarm durch das Wasser. Und er sagte: „Das ist, was du die ganze Zeit gesucht hast. Dieser Berg ist der Sinai, und der Felsen ist das Heiligtum deines Vaters.“
Da fragte ich ihn: „Wer sind diese Fische?“, und er antwortete: „Sie sind deinesgleichen. Ihr seid die Söhne eines Vaters. Ihnen geschah dasselbe wie dir, sie sind deine Brüder.“
Als ich dies hörte und als wahr erkannte, umarmte ich sie. Ich freute mich über sie, und sie freuten sich über mich.
Das Gespräch mit dem Vaterhaus
Ich stieg auf den Berg und sah unseren Vater, wie einen weisen Alten, dessen Licht so erhaben war, daß es fast die Himmel und die Erde zum Bersten brachte. Ich war bestürzt und verwirrt. Als ich zu ihm hinkam, begrüßte er mich. Da fiel ich vor ihm nieder und ich war nahe daran, in seinem strahlenden Licht zugrunde zu gehen. Darauf weinte ich eine Zeitlang und klagte bei ihm über die Gefangenschaft in Kairuan. Er sprach zu mir: „Wie gut! Du bist befreit, allerdings mußt du noch einmal in die Westliche Gefangenschaft zurückkehren, denn du hast die Fessel noch nicht vollständig abgelegt.“
Als ich sein Wort hörte, verlor ich beinahe den Verstand. Ich stöhnte und schrie so sehr, daß ich fast umkam und flehte ihn an. Da sagte er:
„Die Rückkehr ist zu diesem Zeitpunkt notwendig. Aber zwei Dinge verkünde ich dir: Erstens, daß du, wenn du in die Gefangenschaft zurückkehrst, zu uns kommen und in unseren Gärten hinaufsteigen kannst, wann immer du es wünschst. Das zweite ist, daß du am Ende frei in unsere Hoheit eingehen und das westliche Land und seine Gefangenschaft endgültig verlassen wirst.“
Ich freute mich über das, was er sagte. Dann sprach er zu mir:
„Wisse, daß dieser Berg der Sinai ist. Über ihm gibt es einen weiteren Berg Sinai, die Wohnstätte meines Vaters und deines Großvaters. Meine Beziehung zu ihm ist nicht anders als als deine Beziehung zu mir. Und wir haben weitere Vorfahren, bis die Kette bei dem König endet, der der erhabene Urahn ist, der keinen Vorfahr und keinen Vater hat. Wir alle sind Seine Diener, durch Ihn werden wir erleuchtet und von Ihm entnehmen wir das Feuer. Er besitzt die erhabenste Schönheit und die höchste Glorie und das mächtigste Licht. Er ist über allem, was oben ist, und er ist das Licht des Lichtes, und er ist über dem Licht in aller Ewigkeit. Er offenbart sich allen Dingen, und alles ist dem Untergang geweiht außer Ihm.“ 6
Erneute Rückkehr in die Länder des Westens
Nun, ich bin (noch) in dieser Geschichte, denn mein Zustand änderte sich. Und ich fiel aus der Höhe hinab in den Abgrund unter Leute, die nicht glaubten, und war gefangen in den Ländern des Westens. Doch in mir war noch immer eine Freude, die ich nicht mit Worten beschreiben kann. Dann weinte ich, flehte und war voll Schmerz über die Trennung. Jener Zustand der Ruhe war zu Träumen geworden, die schnell entschwinden.
Möge Gott uns befreien aus der Gefangenschaft der Natur und den Fesseln des Stoffes! Sprich: Lob sei Gott. Er wird euch seine Zeichen sehen lassen, so daß ihr sie erkennt. Und dein Herr achtet wohl auf das, was ihr tut. Und sprich: Lob sei Gott. Aber nein, die meisten von ihnen sind Unwissende.“
Segen sei mit seinem Propheten und alle von seiner Familie.
Hier endet „die Erzählung vom westlichen Exil“.
2. Vergleich mit der biblischen Erzählung vom verlorenen Sohn
Zum weiteren Vorgehen: Besprechen und Vergleichen dieser Erzählung Jesu mit Luk 15, 11-32: Der verlorene Sohn.
11 Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
14 Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre.
27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre.
30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Wolfgang Massalsky
für den AK am 21. 3. 2019
1 Eine Landschaft in Arabien
2 Vgl. zu diesem Abschnitt die folgenden Koranzitate:
3 Weitere Koranzitate
4 Gemeint ist der Berg, wo die Arche Noahs angelegt haben soll.
5 Die Koranzitate dieses Abschnitts sind die folgenden:
6 Q 28, 88