Islam verstehen

Was ist Islam? (1)

 

I. Argumentationen und Thesen Beckers

 

1. Zuerst spricht C. H. Becker vom Islam (1f.) als Religion, obwohl sich innerhalb des Islam sehr verschiedene Religionsformen ergeben haben und dieser Begriff inbezug auf den Islam nicht deckungsgleich mit unserem (protestantischen) Verständnis von Religion ist. Sodann wird der Islam als ein orientalisches Weltreich verstanden oder was davon übrig geblieben ist: die islamischen Staaten, die aus seinem Zerfall hervorgegangen sind. Aber auch die politische Theorie, die hier entstanden ist, muß dazu gerechnet werden. Und schließlich muß man von einer islamischen Zivilisation sprechen, worunter B. das „Religion und Staat umschlingende Kulturganze“ (2) versteht, wobei ansonsten der gesellschaftliche und kulturelle Zustand der zu ihr gehörenden Völker sehr verschieden sein kann, von ihrer „Rassenbeschaffenheit“ (ib) ganz abgesehen. Die einfache Frage: was ist Islam und was gehört alles zu diesem Begriff und muß unter ihm subsumiert werden, läßt sich damit in eine Vielzahl von Unterfragen aufteilen und bietet damit den Stoff für unzählige Problemstellungen.

 

2. Ganz generell bedeutet der Begriff Islam nach B.s Definition: „Das einheitliche (sc. religiöse) Bekenntnis, das einheitliche politische Ideal und die bei aller lokalen Differenzierung wenigstens in den Idealen zum Teil auch in der Praxis einheitliche Zivilisation.“ (2) Was das Ganze gegen alle „nationalen Kräfte der Völker“ zusammenhält, ist auch nach dem Urteil Beckers in erster Linie die Religion. Die Religion bildet im Großen (gegenüber dem weltweit verbreiteten Christentum) wie im Kleinen, nämlich im alltäglichen Leben der Muslime das entscheidende Einheitsband. Und darum kann Becker den Islam als eine auf der Religion begründete „Einheitszivilisation“ bezeichnen. So jedenfalls hat Becker den Islam noch in seiner Zeit erlebt und beschrieben. Daß die Entwicklung des Islam bis zu diesem Bild allerdings durch sehr unterschiedliche Phasen und Etappen gegangen ist, das steht auf einem anderen Blatt. Und dabei stellt sich ihm die erstaunliche Frage, ob die gängige Auffassung der Religion als alles beherrschende „Konstituante“ der islamischen Zivilisation nicht vielleicht sogar falsch, zumindest „reformbedürftig“ (4) sein könnte.

 

3. Das entscheidende („erste“) Problem des Islam ist daher für Becker: „Wie kommt die Einheitszivilisation des Islam zustande und welche Rolle spielt das religiöse Moment in diesem Entwicklungsprozeß?“ (4) Und er kommt zu folgender Vorstellung: Während die Anfänge der islamischen Bewegung in Mekka „rein religiös“ waren, tritt in Medina und von da an neben die Religion „der politische Machtgedanke als Stimulans“. Die „Parole“ laute nun nicht mehr „Bekehrung“, sondern „Unterwerfung“! (5) Solange der Islam sich noch innerhalb der Grenzen Arabiens befand, war die Übernahme der neuen Religion weitestgehend der Normalzustand („so äußerlich und formal das auch gewesen sein mag“). Aber mit der Eroberung der alten Kulturreiche Vorderasiens und Nordafrikas beginnt ein neues Kapitel. Religion und Staat sind nun zweierlei. Die unterworfenen Länder und Gebiete können ihre eigene Religion weitgehend behalten, wenn sie die neuen politischen Herrscher anerkennen. Eine Bekehrungsabsicht gab es zunächst nicht. „Die politische Eroberung des vorderen Orients durch die Araber ist also sachlich wie zeitlich von seiner Islamisierung scharf zu trennen.“ (6) Dazwischen liegen zum Teil mehrere Jahrhunderte.

 

4. Becker greift zum Verständnis dieser Entwicklung den Gedanken einer arabischen (semitischen) Völkerwanderung auf (Winckler/Cateani). Ursache seien Klimawechsel und Austrocknung des Landes gewesen. „Nicht religiöse Begeisterung, sondern der Hunger treibt die Araber über die Grenzen ihrer Halbinsel...“(7), also primär wirtschaftliche Gründe. Und das war schon ein jahrtausendealter Prozeß und keine neue Entwicklung. Allerdings kommen neue Faktoren dazu, und B. nennt ausdrücklich die „junge(n) Militärmacht des Islam“ und die politischen Verhältnisse in den angrenzenden Ländern, die zu diesen Aktionen zusätzlich eingeladen haben, also keineswegs in erster Linie religiöse Motive! Wobei jedoch die Religion eine entscheidende Rolle spielte, das war die Überwindung der Stammeskriege auf der arabischen Halbinsel selbst (wenngleich noch wichtige Gegensätze zwischen den Nord- und Südarabern bestehen blieben oder sich sogar jetzt erst verfestigten) und damit die Herausbildung eines einheitlichen handlungsfähigen Staates. Um aller Beutegier der Sieger eine Grenze zu setzen, wurde das Verfahren der Besetzung versachlicht und eine funktionierende Verwaltung entwickelt, so daß die einheimische Bevölkerung den Vorteil dieser Situation gegenüber den Nachteilen des vorherigen Zustandes selber erkennen konnte.

 

5. Das „einigende Schlagwort“ sei zwar der Islam gewesen, aber „im Sinne einer Weltherrschaft der Araber“. Zusammengefaßt ergibt das die These: „Nicht Bekehrungseifer, nicht glühende Worte eines begeisterten Propheten haben die Araber zu einer Weltmission mit Wort und Schwert hinausgetrieben, sondern die wirtschaftliche Notlage, die Unruhe der Stämme.“ (8) „So entsteht das große islamische Weltreich.“ (9) Und wie kommt es nach der Eroberung neuer Gebiete zur Islamisierung der unterworfenen Bevölkerungen? Denn die Ausbreitung der islamischen Religion bedeutete einerseits die Vergrößerung der herrschenden Klasse, aber zugleich die „Verminderung der steuerzahlenden Untertanen“. Wenn jeder Muslim werden konnte, gab es niemanden mehr, der zur Kasse gebeten werden konnte, und wohin dann mit den Staatsfinanzen? Anders gefragt: Mußte diese für alle Menschen offene (Universal-) Religion nicht die inneren Grenzen des arabischen Nationalstaates sprengen? Ergaben sich damit nicht dieselben Probleme einer Multikultigesellschaft innerhalb eines Nationalstaates, wie sie heute auch wieder sichtbar sind, wenn ganze Bevölkerungsteile in den fremden Aufnahmeländern ihrer alten Religion treu bleiben wollen? Missionsarbeit im engeren Sinne war den Arabern nicht vertraut, und erst die zum Islam bekehrten Aramäer nahmen sich ihrer in größerem Maßstab an. Also waren in erster Linie wirtschaftliche Gründe für Massenkonversionen ausschlaggebend. Becker geht davon aus, daß es dazu erst dann kommen konnte, als das „arabische Staatsprinzip überhaupt“ (11) aufgegeben wurde, wie es erst im Laufe des ersten Jahrhunderts der Abbasidenherrschaft der Fall war. Für Becker war dafür jedoch nicht das religiöse Motiv maßgebend, sondern die erkennbare „Überlegenheit der materiellen und geistigen Kultur der unterworfenen Völker“, wie der Aramäer, Griechen und Perser (ib), die den eher schlichten Arabern an Bildung haushoch überlegen waren.

 

6. Schließlich kommt er zu folgendem Ergebnis, wie es sich schon bis hierher abgezeichnet hat: „Nicht die islamische Religion hat die einheitliche Zivilisation erzeugt, sondern die aus ganz anderen Gründen entstandene einheitliche Zivilisation des Kalifenreiches ist die Voraussetzung für die Ausdehnung und das bis in die Gegenwart hinein siegreiche Vordringen der islamischen Religion.“ (13) Damit lehnt er die bisher herrschenden philologischen und theologischen Anschauungen (13f.) zu diesem Komplex ab. Er greift sogar noch weiter zurück, um das Entstehen der islamischen Einheitszivilisation zu erklären, und zwar auf die „weltgeschichtliche Tatsache des Hellenismus“ (15): „Ohne Alexander den Großen keine islamische Zivilisation!“ (ib). Vielleicht müßte man sogar noch weiter zurückgehen, nämlich auf die „altorientalistische Kultur“, denn die Einheitlichkeit der Verhältnisse nach den Diadochenreichen hat jedenfalls den Boden bereitet für das Zusammengehen der arabischen Weltherrschaftsvorstellungen mit den relativ selbstgenügsamen Folgestaaten der Diadochenzeit, wenn es auch große Entwicklungsunterschiede gab zwischen dem abendlandisierten Ostrom (Byzanz) und dem „asiatisierten“ Orient. Wir haben es hier mit einer weltgeschichtlich bedeutenden Bewegung zu tun, dem Aufeinandertreffen Asiens auf den Hellenismus einerseits und das römische Weltreich andererseits. Eine bedeutende Rolle in der Vermittlung dieser verschiedenen kulturellen Einflüsse und der Heraufführung einer weltgeschichtlichen Rolle des Islam spielt dabei die aramäische Christenheit (ib). Daß die Araber schon in vorislamischer Zeit von der aramäischen Zivilisation abhängig gewesen sind, steht heute ebenfalls fest. Mehr noch: „Die islamische Zivilisation ist eine Weiterentwicklung der aramäischen und zwar in der gleichen Richtung, in der sich die aramäische Zivilisation bis zum siebten Jahrhundert entwickelt hatte.“ (16)

 

7. Global gesehen, verlagert sich damit auch der Schwerpunkt dieses islamischen Weltreichs mehr und mehr nach Asien, weil die abendländischen Einflüsse zurückgehen und die asiatischen Einflüsse zunehmen. Die Verlagerung des Mittelpunkts von Mekka und Medina zuerst nach Damaskus und dann nach Bagdad sind deutliche Anzeichen dieser Entwicklung. Darum kann man nach Becker das Kalifenreich sogar als „Fortsetzung des Chosroenreiches auf breiterer politischer Basis“ (17) ansehen. Solange der Einheitsstaat die Dominante ist, ist die Prägung der Kalifenkultur eher zweitrangig und beliebig. Die Mischung vieler kultureller Einflüsse (in den verschiedensten Sektoren dieser vielgestaltigen Gesellschaft) ist geradezu ein Markenzeichen dieses islamischen Einheitsstaates. „So wird allmählich aus dem aramäischen See durch starke Zuflüsse von mannigfachen Seiten das große einheitliche Meer der islamischen Zivilisation.“ (18) Und ab jetzt kommt es auch zur religiösen Aufbauarbeit in großem Stil. „Der Sieg des Kalifats … der Abbasiden über das Königtum … der Omajjaden ist nicht nur der Sieg der religiösen Idee Muhammeds über die heidnischen Tendenzen der mekkanischen Aristokratie, sondern zugleich der Sieg des persischen und christlichen Staatskirchentums, der ultareligiösen Weltauffassung des alten Orients überhaupt über die religiöse Indifferenz des rein weltlichen Reiches der arabischen Nation. Der Name Islam bleibt, aber sein Inhalt wird ein vollkommen anderer.“ (19) Und „erst (jetzt) ist der Islam die Mischung von Religion, Staatsideal und Zivilisation, die ihn zu einer Weltmission befähigt“. (ib) Und diese religiöse Kraft des Islam sollte auch das Untergehen des Einheitsstaates überleben. Davon zeugt in gewissem Sinne noch die Beibehaltung des Kalifentitels in späterer Zeit, auch wenn die religiöse Komponente der Politik der islamischen Staaten mehr und mehr gegenüber anderen Zwecken zurücktreten mußte. Dafür erhält das Lebens- und Bildungsideal, „aufs engste verbunden mit der Religion“ (20), ein immer größeres Gewicht. Der Scharia ergeht es nicht viel anders: nur „ihre rein religiösen Teile“ bleiben im Alltag wirksam. In der Gegenwart Beckers, so wie er die Verhältnisse im Orient und in den islamischen Staaten ganz allgemein beurteilt, sei „das religiöse Moment des Islam zu dem eigentlich wirksamen geworden“, und was die Muslime in aller Welt verbindet, sei „heute“ primär „in der Gemeinsamkeit des Bekenntnisses, in der Einheit ihrer Ideale“ zu erblicken. (20) Dieses „einende Band“ der Religion, so glaubte es Becker damals bereits zu erkennen, verliere jedoch in der Zeit des Auflebens nationaler und liberaler Werte zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch im Islam langsam an Spannkraft.

 

II. Schlußbetrachtung und kritische Überlegungen

 

8. Man kann also den Islam nicht als eine primitive Religion abwerten, z.B. als (Wüsten- oder) Steppenreligion oder als Religion und Kultur der Araber, und ebenso wäre es zu simpel und eine Unterbestimmung des Islam, ihn allein aus dem Koran und dem Leben Muhammads erklären zu wollen. Becker zeichnet im Gegenteil von ihm aufgrund seiner Geschichte ein sehr viel komplexeres Bild, wenn man dessen geschichtliche Entwicklung als Maßstab für „den“ Islam nehmen darf: Dieser ist demzufolge Religion, Kulturträger, ja sogar die Kraft zur Staatenbildung, wobei erst der Einheitsstaat die eigentliche Basis für die weltweite Islamisierung geschaffen habe. Auf die Gemeinschafts- und Herrschaftsformen bezogen, unterscheidet B. die religiöse Gemeinschaft der Anfangszeit (Mekka), die Bildung eines arabischen, aristokratischen Staates (Medina) und schließlich die Wiederherstellung der altorientalischen Despotie (Kalifat der Abbasiden).

Aber mit diesem Ansatz will Becker keinem Mitarbeiter an dieser Zeitschrift das eigene Denken und Forschen vorschreiben. Er kann nur als Anreiz verstanden werden, in gemeinsamer Anstrengung den wirklichen Islam aus alten Vorurteilen herauszuheben.

 

9. Was ich allerdings kritisch zu diesem Ansatz bemerken möchte ist folgendes: 1. Warum wird bei Becker das kritische Verhältnis von Sunna und Schia und damit die grundlegende politische Spaltung des Vorderen Orients aus dem innersten Wesen seiner Religion mit keinem Wort erwähnt? Gerade der heutige Dualismus zwischen Iran und Arabien, der Krieg Iraks gegen den Iran und die kriegerischen Aktionen Amerikas gegen ihn, um Saudi-Arabien zu schützen, ein Dualismus, der den ganzen Vorderen Orient betrifft, findet daher vom Ansatz Beckers aus keine befriedigende Erklärung. Dabei ist trotz der Übernahme des Islam durch den Iran die (gegenüber Arabien) kulturell viel reichere Welt des Iran und seine ganze vorislamische Geschichte in den politischen Machtkampf im Vorderen Orient immer mit einzubeziehen.

 

10. Und 2. wie paßt Weltherrschaftsstreben (Arabiens) und Migrationsbewegung (Flucht vor Hungersnot) zusammen? Das sind doch zwei gänzlich entgegengesetzte Antriebsrichtungen, die man nicht gleichsetzen kann! Oder sollte es bei den arabischen Eroberungszügen einzig um die Aneignung und Versorgung mit den wirtschaftlich notwendigen Ressourcen gegangen sein, die es im eigenen Land nicht gab? Freilich wenn man den Europäern die Inbesitznahme Amerikas aus wirtschaftlichen Gründen – u.z. weil die indigene Bevölkerung den Nutzen des Landes nicht zu würdigen wußte – nicht übelnehmen sollte (wie Locke meinte), kann man das in der Tat auch den Arabern nicht verübeln, wenn sie sich fremde Länder und Gebiete aneigneten und ihre Kulturideen in alle Herren Länder auszubreiten suchten. Läßt sich so aber nicht jeder Machtanspruch der Mächtigen rechtfertigen? Darf man es ihnen wirklich gestatten, dafür irgendeine wirtschaftliche Zwangslage anzugeben, um ihre ins Grenzenlose gehenden Machtansprüche objektiv zu entschuldigen?

 

11. Wenn, wie Becker behauptet, die Ausweitung der Macht des politischen Islam über seine alten arabischen Grenzen hinaus nur den durch die aramäisch (-christlich) geprägte Zivilisation des Vorderen Orients (die bis nach Indien reichte) gelegten Spuren folgen mußte, dann wundert es nicht, wenn Luxenberg und andere den Islam und sogar den Koran im Grunde genommen als auf syrisch-aramäischen Grundlagen aufgebaut ansehen. Aber das scheint mir trotz allem Verständnis für solche Überlegungen denn doch eine Verkürzung der Problematik des inneren Aufbaus und der Funktionsweise des Islam zu sein. Im übrigen braucht der Islam ja solche Einflüsse und Abhängigkeiten gar nicht zu leugnen oder zu verdrängen, denn jede kulturell und geschichtlich durchschlagende Gesellschaftsformation bezieht einen Großteil ihrer Überzeugungskraft gerade aus ihrer Fähigkeit zur Adaption und Integration der leitenden religiösen Ideen und der geschichtlich wirksamsten Kulturtechniken der vorhandenen Systeme in ein neues System auf einer höheren gesellschaftlichen Stufe (wenn es sich regional oder global durchsetzt). Ist es das, was Becker eigentlich am Islam rühmt, ohne es explizit auszusprechen?

 

12. Die Bedeutung des Orients ist in der deutschen Geschichtsschreibung jener Epoche deutschen Großmachtstrebens nach Weltgeltung durchaus nicht unumstritten gewesen. Man braucht sich nur an die unterschiedlichen Stellungnahmen zu den Orientunternehmungen der Wirtschaft sowie den Gedankenspielen politischer Gremien in Deutschland in der Zeit zwischen Bismarcks Votum, „daß der Orient nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sei“ und dem Votum A. Marschall von Biebersteins, seit 1897 Botschafter in Konstantinopel, zu erinnern: „Wenn ich ein Zukunftsbild ausmale, wie die Dinge sich einst gestalten werden, wenn Deutschland fortfährt, sich im Orient wirtschaftlich auszustrecken“, dann „tritt dem vorausschauenden Auge der Moment entgegen, in dem der berühmte Ausspruch, daß der ganze Orient nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert sei, eine interessante historische Reminiszenz, aber keine aktuelle Wirklichkeit mehr bildet“ (bei W. J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, PGD 7/2, 1995, 352. 354), um zu erkennen, was für ein Wandel in der Wahrnehmung der Möglichkeiten eines wirtschaftlichen und politischen Engagements im Orient (Osmanisches Reich) eingetreten war. Mommsen spricht von „nationalistischen Strömungen in der deutschen Öffentlichkeit“, von „deutschen Expansionsbestrebungen“ und dem Traum „von blühenden deutschen Siedlungskolonien auf türkischem Boden“ (ib 355). Davon ist bei dem protestantischen Theologen Troeltsch, Beckers geistiger Freund, wenig zu spüren. Er hat vielmehr die Weltgeschichte als ein vom Orient auf die Europäer und Amerikaner übergegangenes Projekt („unter Ausschluß des Orients“, wie Becker schreibt) zu deuten versucht. Demgegenüber verweist B. nicht nur mit Recht auf die im Orient liegenden Ursprünge des Christentums (was natürlich auch Troeltsch wußte), sondern er ist davon überzeugt, daß ohne das beide Hemisphären verbindende Element Islam Europa gleichsam ohne ein ausreichendes Fundament für eine aktivere Orient-Politik dasteht. Ausdrücklich fordert er ja „die Einbeziehung der vorderasiatisch-islamische(n) Welt in die europäische“, gegen den Versuch, die islamische Welt von der christlich-abendländischen Welt loszulösen, zumal beide die griechische Antike in ihrer geistigen DNA enthalten, wenn auch in unterschiedlicher Weise: So fehle im Islam etwas, was dem Humanismus Europas als einer Art Wiedergeburt der Antike im Westen gleichwertig wäre.  Man könnte noch weitergehen und sagen, der Islam hat auch nie eine Aufklärung erlebt! Was die heutige Weltlage angeht, scheint es in der Tat so zu sein, daß ohne die Einbeziehung des Mittleren Ostens in eine West und Ost verbindende politische Strategie auch die Probleme der Migrationsbewegungen und der dauerhaften Veränderung der Bevölkerungsstrukturen des europäischen Westens nicht zu lösen sind. Es muß im Interesse des Westens liegen, diesen Teil des Orients in seine eigenen Planungen und Strategien nicht nur punktuell, sondern in Form von Bündnissen dauerhaft einzubauen und sich dort nicht nur wirtschaftlich oder mit Blick auf Israels schwierige Existenzlage zu engagieren. Und vor allem sollte man sich nicht überall da aus der politischen Verantwortung zurückziehen, wo Rußland sich mit ganz anderen Zielsetzungen erfolgreich an die Seite jener Staaten stellt, die dort aus den verschiedensten, zumeist selbstverursachten Gründen in Bedrängnis geraten sind. Das ist kaum verhüllter Imperialismus! Der Argumentation Beckers sollte man dagegen nicht imperialistische Absichten unterstellen! Es geht eher darum, die Unterentwicklung des Orients nicht länger hinzunehmen und nach Auswegen aus den dortigen Dauerkrisen zu suchen, auch wenn diese keineswegs alle, wie gern behauptet wird, das Erbe des imperialistischen Kolonialismus sind. (Wahrscheinlich bedeutet das aber auch, daß man die Zeit der militärischen Enthaltsamkeit des Westens und damit der Hilflosigkeit des demokratischen Europas bei den wachsenden Konflikten an den Grenzen zu Rußland, auf der die Nachkriegsordnung Europas basierte, was aber zugleich zur ständigen Abhängigkeit von Amerika führte, nicht – blind gegenüber den Realitäten – beliebig fortsetzen kann.)

 

13. Daß der Islam, wie es heißt, inzwischen zu Deutschland gehöre, hätte sich bei aller Sympathie Beckers für den Islam, dieser wahrscheinlich nicht träumen lassen, und ob er diese Entwicklung gut gefunden hätte, ist sehr zu bezweifeln. Das macht ihn aber noch nicht zum imperialistischen Ideologen oder Rassisten, beides Vorwürfe, die mancherorts gegen seine Darstellung erhoben wurden. Zweifellos gibt es der damaligen Zeit entsprechend auch in seiner Darstellung sprachliche Anklänge an jene Ideologien. Aber kulturgeschichtlich vertritt er ja eher die gegenteilige These, daß „die islamische Welt zur europäischen, nicht zur asiatischen gehört“. Wenn dahinter eine imperialistische Grundhaltung stehen sollte, dann jedenfalls keine gegen den Orient selbst gerichtete; allerdings mag man sich fragen, ob dahinter bereits die im nationalsozialistischen Deutschland sich zeigende Vorliebe für den – in Teilen antisemitischen – Islam stehen könnte. Aber solche Einseitigkeit konnte ich in diesen Texten von Becker bisher nicht entdecken und ist auch nicht wahrscheinlich.

Auf der Basis von C. H. Becker, Der Islam als Problem, In: Der Islam 1, 1910, 1-21

 

Wolfgang Massalsky, 12. 2. 2022

 

Benutzte Literatur, die nicht im Text angegeben wurde: C. H. Becker, Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, ZDMG 76 (= N.F.1)1922, 18-35