Religion, Kultur und Säkularität
Thesen zum Arbeitspapier von Gudrun Krämer, Religion, Culture, and the Secular. The Case of Islam, 2021
Vorbemerkung:
Dem Titel folgend beschränke ich mich hier auf zusammenfassende Thesen zur Zielsetzung der Arbeit, zum Verhältnis von Religion und Kultur und zur Frage der Säkularität, die für eine Kultur, die ganz vom Religionsgedanken beherrscht ist, zum Problem werden muß. Vorweg muß ich allerdings feststellen, daß G. K. diese Arbeit aus der Perspektive der historisch vorgehenden „Islamischen Studien“ schreibt (eigentlich dachte ich, sie bezeichne sich als Islamwissenschaftlerin; dagegen wird der Begriff „Islam. Studien“ zumeist anstelle von Islamischer Theologie benutzt). Zu mehr ist hier nicht der Platz und die Zeit.
1. Zur Zielsetzung dieser Arbeit schreibt G.K.: Sie soll einen Beitrag leisten zur Debatte über die vielfältigen Säkularitäten, die im Rahmen der Bemühungen um eine Konzeptualisierung von Religion und Kultur diskutiert werden. Im Hintergrund steht immer auch die Frage nach der Rezeption der Moderne im Islam. Wieviel Modernität kann der Islam als Mischung aus Religion und Kultur aushalten, ohne sich permanent in seinem innersten (religiösen) Kern vom Westen und seiner Ideologie (Säkularismus?) bedroht zu fühlen, wobei allerdings Säkularismus noch etwas anderes ist als Säkularität. (vgl. auch die Arbeiten des Centre for Advanced Studies… an der Leipziger Universität zum Thema „Multiple Secularisation Beyond the West, Beyond Modernities“ (an der G. K. und F. Zemmin, FU Berlin, beteiligt sind/waren).
2. Religion und Kultur:
Die heute vorherrschende Sichtweise (Shahab Ahmed) ist, daß der Islam eine Religion ist, die eine Zivilisation (Kultur) hervorgebracht hat und daß es schwierig bis unmöglich ist, beides zu trennen. Man könne also weder Religion von Kultur noch Kultur von Religion abtrennen, ohne beide zu einem Schattendasein zu verurteilen. Diese Anschauung kann im Extremfall dazu führen, daß sogar eine bloße Kategorialisierung von Religion und Kultur für unakzeptabel erklärt wird.
2.1 Dagegen wendet G. K. ein, daß es in jeder Kultur auch Bereiche des alltäglichen, nur wenig oder gar nicht von der Religion beeinflußten Verkehrs der Menschen untereinander gibt. Wenn es allerdings in der modernen Kultur, wie sie schreibt, verstärkt um Identität und Identitätspolitik geht, ist dann nicht doch die Einbeziehung der religiösen Thematik positiv und negativ notwendig? Und umgekehrt gefragt: gibt es nicht auch im Islam Menschen, die bestimmte islamische Werte bejahen, aber nicht alle Glaubensvorstellungen teilen, vielleicht auch nicht in die Moschee gehen? Sind das alles Häretiker?
2.2 Shahab Ahmed versteht die Konzeptionalisierung des Islam als eine Art Atlas über einen alles umfassenden Bedeutungskontinent, der nicht in säkular und religiös zerteilt werden kann, ein lebendiger Organismus, der von einem Ende zum anderen die verschiedensten (kulturellen) Formen annehmen kann und dennoch aufgrund der überall gleichen religiösen Anschauungen, Werthaltungen und Bedeutungen eine Einheit bildet. (Ob das nicht eher eine Idealisierung darstellt, als ein realistisches Bild der Wirklichkeit des Islam?)
2.3 Gegen diese Auffassung legt G. K. ihren Protest ein. Nicht nur Westler haben den Islam zu Zwecken der Analyse zu kategorisieren versucht, auch im Islam selbst gab es das. Aber auch sie sieht, daß es die verschiedensten Zusammenhänge zwischen Religion und Kultur im Islam gibt, die nicht so ohne weiteres auseinander gerissen werden können. Deswegen hält sie den Begriff entanglement für sehr gut; er erlaubt Unterscheidung, ohne von Trennung der integralen Elemente sprechen zu müssen.
2.4 Darüber hinaus ist G. K. davon überzeugt, daß der Islam von Anfang an, aber insbesondere seit seiner Ausdehnung über die arabischen Grenzen hinaus ein Produkt vielfältigen kulturellen und religiösen Austauschs sei, der freilich nicht reibungslos verlaufen sei (frictions), eine Meinung, die allerdings von vielen Muslimen bestritten wird, für die schon in der Offenbarung (Herabsendung) des Qur‘an seine Absolutheit und Unantastbarkeit begründet ist. Aber gilt das auch für den darin begründeten Islam, wie er in den verschiedensten Kulturen dieser Welt heimisch geworden ist? (Die Zukunft wird zeigen müssen, ob diese beiden Positionen unversöhnbar sind; dazu gehört auch der Gegensatz von Essentialismus und Relativismus.)
3. Säkular bzw. Säkularität (Islamicate):
G.K. hebt hervor, daß Säkularität nicht erst ein modernes Phänomen ist, sondern bereits im vormodernen Islam bekannt war, und wie sie meint, sogar selbstverständlicher als heute akzeptiert war, wobei hier die Unterscheidung eines eher antireligiösen Säkularismus von einem in der Religion selbst angelegten, zumindest nicht religionswidrigen säkularen Verhältnis zur Welt als ganzer (obwohl sie als Schöpfung Gottes verstanden wird) notwendig erscheint.
3.1 Das widerspreche allerdings nicht der Überzeugung, die auch G.K. vertritt, daß der Islam insgesamt eine Religion sei. Doch müsse sichergestellt sein, daß er nicht wie eine „Zwangsjacke“ dem einzelnen Muslim übergestreift wird, um ihn gleichsam zum Muslim zwangszurekrutieren und jede individuelle Glaubensart zu unterdrücken. - Interessanterweise hat es im vormodernen Islam keinen Begriff für das individuelle Gewissen gegeben, und trotzdem hätten auch damals die Muslime in vielen Bereichen ihre Selbständigkeit bewahrt, wie literar. Gattungen, gesetzliche Texte und philosophische Abhandlungen zeigen.
3.2 Die dem Westen unterstellte Neigung, Religion in einen intellektuell-innerlichen (Glaube/Herz) und in einen praktisch-äußerlichen (Gesetze, Riten, Werke) Teil zu scheiden, hält sie sogar inbezug auf das protestantische Christentum für sehr übertrieben. Daraus dürfe man jedenfalls kein Gesetz machen, zumal es ja entscheidend ist, ob sich der Mensch in dieser Welt seinem Glauben entsprechend verhält und handelt. Das Festhalten des Islams an der Unteilbarkeit dieser beiden Seiten (Inneres-Äußeres) ist daher auch für eine westliche Denkweise selbstverständlich. Die Frage ist eher die, ob es sich um die eigene Glaubensüberzeugung handelt oder um ein von außen auferlegtes Glaubensdiktat.
3.3 G.K. sieht einen möglichen Ansatzpunkt für Toleranz gegenüber anderen oder abweichenden Glaubensformen innerhalb des islamischen Machtbereichs schon in der Zeit nach der Auswanderung der Muslime aus Mekka nach Yathrib (Medina) durch das Abkommen mit den dort ansässigen heidnischen bzw. jüdischen Stämmen, wie später im „Pakt von Umar“ (der allerdings erst Jahrhunderte später ausgearbeitet wurde). Dem kommt entgegen, daß Muhammad sowohl als Religionsführer (Prophet) als auch als Richter inbezug auf heidnische, außermuslimische Angelegenheiten anerkannt war. Darin könne man bereits eine prinzipiell mögliche Unterscheidung zwischen religiösen und staatlichen Vollzügen erkennen. Trotzdem bilden die Superioritätsansprüche des Islam gegenüber anderen Religionen, selbst gegenüber den monotheistischen (abrahamitischen) Religionen, überall auf der Welt einen erheblichen Vorbehalt, was ein respektvolles Miteinander (wie es das House of One in Berlin anstrebt) angeht. Das Umschlagen von Differenz in Hierarchie seitens des Islams, was sein Verhältnis zu Christentum und Judentum angeht, kann hier in Europa kaum geduldet werden. Hier werden Selbstkorrekturen notwendig sein.
3.4 Ist die Vorstellung eines Islamicate (M. Hodgson, W. C. Smith, L. Gardet) ein Weg dazu? Anknüpfend an die Auffassung, daß der Islam beides gewesen sei: politisch-soziale Gemeinschaft und religiöse Tradition, insbesondere an die frühe parochiale, kooperationswillige Periode des Islam, der zu dem Zeitpunkt noch keine religionsgesetzlich herrschende Klasse kannte, versuchte die Idee des Islamicate ein dem Islam als Religion gemäßes Kulturverständnis zu erarbeiten. Es gelte daher, meinte schon Sh. Ahmed, den Islam zu rekonzeptualisieren; es bedürfe dazu neuer Terme und eines fruchtbaren Maßstabs, um die aus der Geschichte stammenden normativen Widersprüche des Islam in ein wohlgeordnetes Ganzes zu integrieren.
3.5 Obwohl G. K. zweifellos ein großes Interesse an der Lösung dieser Problematik hat, ist sie doch sehr zurückhaltend, was die Lösungsvorschläge dieser Probleme im einzelnen angeht. Insbesondere teilt sie nicht Hodgsons Auffassung, Gesellschaft und soziale Beziehungen als Islamdom von der Kultur als Islamicate zu unterscheiden. Dennoch will sie ihren eigenen Ansatz durchaus als von Hodgson inspiriert ansehen, aber sie teilt in gewisser Weise auch die Anschauungen von Sh. Ahmed, sofern er sowohl Ambiguität als auch Widerspruch innerhalb des Islam für zulässig hält.
Wolfgang Massalsky, 13. 1. 22
Literatur u.a.: M. Hodgson, The Venture of Islam; Sh. Ahmed, What ist Islam?