Festschrift
Unsere Jubiläumsschrift (Redaktion: Dr. Heike Müns) enthält Beiträge von (haupt- und ehrenamtlichen) Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, Gemeindegliedern und Zeitzeugen sowie einen Abriß der Geschichte der Erlösergemeinde und vieles andere mehr. (Umfang 131 Seiten)
Wer eine Festschrift erhalten möchte, kann sie noch bei mir oder in der Erlöser-Gemeinde käuflich erwerben. Selbstkostenpreis 5 Euro. Anfragen per email. Vielen Dank. (Als Postsendung mit entsprechendem Porto)
Die Textfassung der Festschrift (ohne Bilder, Umlaute und andere Zeichen nicht durchgängig korrigiert)
100 Jahre Erlöserkirche
Festschrift
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
2
Herausgeber:
Gemeindekirchenrat der Erlöser-Kirchengemeinde
Wikingerufer 9, 10555 Berlin
030/ 391 22 17, www.erloesergemeinde-moabit.de
Erarbeitet von einer Projektgruppe der ErlÄserkirche
unter Leitung von Dr. Heike Müns.
Layout: Heiko Hobohm
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
3
Inhaltsverzeichnis
1. Geleitwort................................................................................................................................ 5
2. Aus der Geschichte unserer Kirche .......................................................................................... 8
Kleiner Spaziergang durch Moabit ................................................................................................... 8
Warum noch eine fÅnfte Kirche in Berlin Moabit? ......................................................................... 11
Kleine Baugeschichte der ErlÄserkirche in Moabit ......................................................................... 15
Die ersten 10 Jahre ........................................................................................................................ 26
NS-Zeit – VerdrÉngte Zeit? ............................................................................................................. 38
„100 Jahre alt bin ich ja noch nicht…“ ............................................................................................ 38
„Beschwerden Åber Geistliche und Kirchenbeamte der ErlÄserkirche von 1934“ ........................... 39
Aus der Zeittafel ............................................................................................................................ 45
ZerstÄrung und Wiederaufbau....................................................................................................... 50
Die Wiedereinweihung der ErlÄserkirche am 9. MÉrz 1958............................................................ 58
3. Kirche heute – Kirche im Wandel........................................................................................... 64
Unsere Pastoren ............................................................................................................................ 64
Paul Tillich als Hilfsprediger in der ErlÄserkirche 1912/ 13 ............................................................. 65
PersÄnliche EindrÅcke von Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert ................................................... 69
Wolfgang Massalsky: Mein Dienst in der Erlösergemeinde ............................................................ 72
Wir engagieren uns: Moabiter Erklärung ....................................................................................... 75
Aus der Gemeindearbeit ................................................................................................................ 79
Jugendarbeit.................................................................................................................................. 79
Erinnerungen an die Junge Gemeinde ........................................................................................... 80
Ein Jugendprojekt .......................................................................................................................... 81
Fahrt nach Taizá 02.07.-10.07.2011 ............................................................................................... 87
Spätcafá ........................................................................................................................................ 88
Laib und Seele ............................................................................................................................... 89
4. Laudate Dominum ................................................................................................................. 90
100 Jahre Kirchenmusik in der Erlöserkirche .................................................................................. 90
5. Stimmen aus der Gemeinde .................................................................................................. 94
Familie Berndt – Ein Leben mit der Erlöserkirche ........................................................................... 94
Ein Geburtstagsstrauß mit vielen guten Wünschen........................................................................ 96
Schlusswort ................................................................................................................................. 100
6. Dokumentation.................................................................................................................... 101
Wortlaut der Urkunde, die am 18. November 1909 in den Grundstein eingelegt wurde .............. 101
Bericht zur Kreissynode aus der ErlÄsergemeinde 1931 ............................................................... 102
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
4
Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der Erlöser-Kirchengemeinde 1932 und 1933 .... 106
Wirksame Erwerbslosenhilfe In der Erlöser- Kirchengemeinde .................................................... 110
Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der Erlöser-Kirchengemeinde 1935 .................... 111
Kostenvoranschlag fÅr GlockenlÉutemaschine 1935 .................................................................... 113
Schreiben an die Metallsammelstelle von 1940 ........................................................................... 114
Das Sammellager in der Levetzowstraße und der Abtransport in die Konzentrationslager 1941 .. 115
Bericht über den Brand in der Kirche am 01. März 1943 .............................................................. 117
Die Not der Erlösergemeinde im Nachkriegs-Berlin ..................................................................... 119
Wiedereinweihung der Erlöserkirche: Zeitdokumente zur Einlage in die Turmkugel von 1956 ..... 121
Festpredigt anlässlich der Wiedereinweihung der ErlÄserkirche .................................................. 123
Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965 ............................. 129
Neuaufteilung unseres Gemeindebezirks Okt/Nov 1976 .............................................................. 130
Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................................................ 131
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
5
1. Geleitwort
Liebe Gemeinde, sehr verehrte, liebe Gäste!
In diesen Tagen, genauer gesagt vom 8. bis 15. Mai feiern wir den 100. Geburtstag unserer
Kirche und wir freuen uns besonders darauf, dass auch unser Bischof Dr. Dröge dabei sein
kann. Am 14. Mai 1911 war sie einst in Gegenwart des Prinzen August Wilhelm von Preuàen
eingeweiht worden. Die Ära von Thron und Altar ist bald darauf erloschen. Eine neue stürmische Zeit brach mit der Ausrufung der Republik an. Und bald danach wieder eine andere, die
durch die versuchte ideologische Gleichschaltung der Kirche durch den NS-Staat gekennzeichnet war, eine Zeit der KÉmpfe, in der auch unsere Gemeinde und besonders einer unserer Pfarrer manchen Zerreiàproben ausgesetzt war, und schlieàlich als Ergebnis dieser
schrecklichen Zeit der Trümmerhaufen am Ende des Krieges, eine Ruine unter Ruinen.
Was hat diese „Dame“ nicht alles in ihren 100 Lebensjahren an Höhen und Tiefen erlebt und
erlitten! Bis die Gemeinde sich in ihr erneut zu gemeinsamen Gottesdiensten sammeln
konnte, das war 1958, mussten Gottesdienste und sogar Konfirmationen viele Jahre lang in
der 1. Etage des Gemeindehauses abgehalten werden, weil der Wiederaufbau des Kirchenschiffs und die Erneuerung des Westwerks sich so lange hinzogen. Trotzdem erinnern sich
noch viele gern an die Zeit, die sie damals hier erlebten.
Unsere Kirche hat in den epochalen UmbrÅchen unserer Geschichte für viele Mitbürger und
Mitbürgerinnen, die sogar im roten Arbeiterbezirk Moabit lange Zeit mit der Christengemeinde fast identisch waren, das Erscheinungsbild und die innere Struktur des Lebens in
unserer Region mit geprÉgt und mit geformt – zusammen mit ihren „Kirchenschwestern“ St.
Johannis, Heilige Geist, Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis, dazu Heiland und Reformation, die inzwischen in der neuen Gemeinde Moabit West aufgegangen sind.
Einst als Ableger der Élteren Heilands-Kirchengemeinde und im Hinblick auf die neu zu
schaffende Erlösergemeinde gegründet, um den Abstand der Kirche von der Arbeiterschaft
am westlichen Rand des damaligen Kirchenkreises Berlin Stadt II zu verringern, kam es schon
bald zu einem regen pastoralen und seelsorgerischen Wirken mit für heutige Verhältnisse
erstaunlichen Zahlen von Gottesdiensten (Sonntagvormittag und -abend) und Amtshandlungen (Taufen, Trauungen, Konfirmationen). Mit dem spÉter fertiggestellten Pfarr-und Gemeindehaus am Wikingerufer mit seinen Diensten und Angeboten war die Volkskirche auch
in diesem Bereich Moabits voll funktionsfÉhig.
Heute wie damals ist das wuchtig wirkende, wehrhafte Westwerk unserer Kirche, der Abteikirche von Corvey nachempfunden, fÅr viele „Spreekieker“, Kanuten, Fracht- und Ausflugsschiffer eines der Wahrzeichen auf ihren Fahrten durch die Wasserstraàen Berlins, unter
Brücken hindurch, an Häuserschluchten und Parks sowie Industrie- und Forschungsstätten
vorbei.
Wie vor hundert Jahren winken ihre beiden Türme auch heute noch vielen Wasserwanderern, aber auch Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern, Menschen, die zur Arbeit fahren
oder am Abend auf dem Weg in den Feierabend sind, einen freundlichen Willkommensgruß
zu. Und wenn „Offene Kirche“ ist, hält so mancher bei ihr an und besucht sie auch von innen,
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
6
freut sich aus dem Gedränge des Verkehrs draußen in ihre Mitte einkehren, für ein paar Minuten stille werden zu können.
Also Grund genug dankbar zurückzublicken, eine Woche lang diese Zeit Revue passieren zu
lassen, dabei den Blick immer auch nach vorne gerichtet, nicht nur der Gegenwart, sondern
auch der Zukunft zugewandt.
Viele Generationen haben am Bau dieser Kirchengemeinde und ihrer Kirche mitgearbeitet.
Während die Ufer der Spree mit ihren unterirdischen Wasserarmen sich in dieser Zeit kaum
verändert haben, strebt die Gemeinde neuen Ufern zu: In diesem Jahr wurde die Erlösergemeinde Teil des neugegründeten Tiergartener Pfarrsprengels. Vielleicht gelingt es uns, daraus eines Tages eine neue Gemeindekonstruktion zu errichten, die die Gemeinden Tiergartens zu noch engerer Zusammenarbeit verbindet.
Das Charakteristische unserer Gemeindearbeit, was wir als Mitgift in eine zukünftige Regionalgemeinde Tiergarten einbringen kÄnnen, ist neben der großen Bedeutung der Kirchenmusik und der Chorarbeit für Jung und Alt (einschließlich Posaunenchor), das soziale Engagement.
So wurde nicht nur das Spätcafá bei uns aufgemacht mit Essen und anderer Versorgung für
viele Obdachlose und sozial Schwache, es kam in den letzten Jahren auch die Einrichtung
„Laib und Seele“ dazu, wo Menschen aus der ganzen Region und darüber hinaus sich das
ganze Jahr über Nahrungsmittel verschiedenster Art abholen können.
Daneben wurde die Verbindung von Politik und Kirche durch besondere Veranstaltungen nie
ganz aus dem Blickfeld verloren, aber auch der interreligiöse Dialog hat hier, seitdem dieser
Stadtteil durch seine muslimischen Mitbürger ein anderes Gesicht bekam, reges Interesse
gefunden. Auch bildungshungrige und theologisch interessierte Erwachsene konnten hier
auf ihre Kosten kommen, und deutsche und ausländische Kinder werden nicht nur in unserer
Integrations-Kita betreut, sondern sie können in der Kinderkirche („Kiki“) auch das
Einmaleins der Bibel und eines Lebens mit dem großen Kinderfreund Jesus lernen.
Wohin werden wir gehen, wenn wir nach dem Fest und den gemeinsam verbrachten Stunden wieder auseinander gehen? „Wohin sollen wir gehen?“, fragte schon Petrus seinen
Herrn. „Nur du hast Worte des ewigen Lebens“, erlösende Worte mitten in unserer Arbeits- und Leistungsgesellschaft, das wollte die Erlösergemeinde den Menschen, die zu ihr kamen
anbieten, Brot des Lebens, eine Speise, die Herz und Seele stärkt und zeigt, dass der Mensch
nicht nur von dem täglichen Brot lebt, das sauer verdient werden muss, „sondern von einem
jeglichen Wort, das aus Gottes Mund kommt“. Aber auch umgekehrt: Niemand sollte auf ein
besseres Jenseits vertröstet werden, dem das Nötigste zum Leben verwehrt wird. Dazu
möge der Gemeinde als ein wichtiger Schwerpunkt in dieser Region noch lange Zeit Platz
zum Wirken gegeben sein. Ihre Stimme war in der Vergangenheit nicht unwichtig.
Hoffentlich kann sie zum gemeinsamen Besten ihre Gaben, ihre Kraft und ihre Glaubensbereitschaft auch weiterhin klingend und singend, betend und verkündigend, arbeitend und
lachend, tröstend und segnend in den Gabenteller der Gemeinden dieser Region einbringen,
damit das Werk der vielen Pfarrer und Pfarrerinnen, der Kantoren und Kantorinnen, der
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
7
Gemeindehelferinnen und Jugendarbeiter, der Haupt- und Ehrenamtlichen, aber auch das
Leiden und Kämpfen, Bangen und Hoffen nicht umsonst gewesen ist.
Viel hängt freilich auch von den Gemeindegliedern selbst ab, wie sehr sie ihrer Kirche treu
bleiben, was sie zu ihrem Erhalt tun, was sie dazu in Wort und Tat beitragen können. Kirche
zu bauen, zwischen Dovebrücke in Charlottenburg, Turmstraße, Huttenstraße, Kaiserin-Augusta-Allee bis zur Jagowstraße und Hansabrücke, ist jetzt ein Jahrhundertwerk geworden.
Wie wird sich die Kirche in den nächsten Jahrzehnten entwickeln? Wahrscheinlich kleiner,
aber muss das heißen schwächer?
Möge sie uns weiterhin begleiten auf unseren Lebenswegen die alte und immer wieder
junge Erlöserkirche. Darauf richten sich heute die Wünsche vieler, wenn sie der 100 Jahre alt
gewordenen Kirchendame gratulieren kommen, wozu wir Sie alle sehr herzlich willkommen
heißen.
Pfarrer Wolfgang Massalsky Berlin, 28. April 2011
Die Erlöserkirche heute von der Gotzkowsky-Brücke aus.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
8
Erlöserkirche 1960
Erlöserkirche heute
Erlöserkirche und Gemeindehaus vor der Zerstörung.
2. Aus der Geschichte unserer Kirche
Kleiner Spaziergang durch Moabit
Erste Annäherung von der Gotzkowsky-Brücke aus:
Verkündigung durch Wort und Musik –
das sind die Grundpfeiler des Innenlebens in der Moabiter ‚Erlöserkirche’
seit nunmehr 100 Jahren. Die Wirkung
von Wort und Musik scheint durch die
betonte Sachlichkeit des nach der
Zerstörung 1943 durch einen
Luftangriff erst 1958 wieder eingeweihten Kirchenraumes verstärkt zu
werden.
1
Diesen Eindruck einer Konzentration auf das Wesentliche
vermittelt auch der wuchtige
schnörkellose Kirchenbau am Ufer der
Spree, der mit seinen beiden
markanten Türmen jeden grüßt, der sich der Gotzkowsky-Brücke nähert.
Die nach dem Kaufmann, Bankier und Besitzer einer Porzellanfabrik, Johann Ernst Gotzkowsky benannte Brücke wurde zwischen 1910 und 1911 erbaut. Ihr Name weist auf die Be-1
Vgl. Anhang, Dokumentation: Bericht über den Brand in der Kirche am 1. März 1943
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
9
deutung der rasanten industriellen Entwicklung der ‚Kaiserstadt Berlin’ nach der Reichsgründung 1871 hin. Die Betreiber der an den Ufern der Spree errichteten Fabriken, nutzten die
Wasserstraße für den Güterverkehr, neue Brücken wurden von den Industriefirmen um die
Jahrhundertwende benötigt. So wurde beispielsweise der ‚Borsigsteg’ 1905 als Fußgängerbrücke in Betrieb genommen, die an den ‚Lokomotiven-König’ August Borsig und seine
Maschinenfabriken in Moabit erinnert, 1909 folgte der Neubau der Hansabrücke zwischen
Moabit und dem Hansaviertel. Die für ihre Erbauungszeit (1910-1911) modern erscheinende
Gotzkowsky-Brücke, wichtig auch für den Industriestandort Franklinstraße, bildet den Abschluss dieser Spreebrücken, mit ihrer eigenwilligen Schönheit in einem Reiseführer für
Moabit treffend als ‚Brückensymphonie’ bezeichnet.
2
1894 hatte die Berliner Stadtverordnetenversammlung den Bau der Gotzkowsky-BrÅcke unter der Bedingung bewilligt, dass die anliegenden Industriefirmen einen finanziellen
Zuschuss von 30.000 Euro zahlten. FÅr die Gestaltung waren der Architekt Alfred Grenander
und die BrÅckenbaufirma der Maschinenfabrik von Ludwig Loewe an der Huttenstraàe in
Moabit zustÉndig. Auf 12 StahlbÄgen ruhend und geschmÅckt mit Tierplastiken des Bildhauers Walter Schmarje hat man von der BrÅcke aus einen wunderschÄnen Blick auf den
imposanten und ungewÄhnlichen Kirchenbau von ‚ErlÄser’.
Der Blick wird, auch wenn man mit dem Schiffsweg auf der Spree von Charlottenburg
kommt, sofort angezogen von der Westfassade der zweischiffigen Hallenkirche mit dem Glockenturm mit seinen beiden mit Kupfer beschlagenen TÅrmen (37,5 m). Ihr architektonisches
Vorbild zitiert deutlich das Westwerk der vorromanischen Abteikirche Corvey, der Gesamtbau orientiert sich am Stil mÉrkischer Backsteingotik. So leuchten die Klinker der ErlÄserkirche je nach Jahreszeit in warmen Farben durch die BÉume am Ufer der Spree.
Sie wurde und wird als Wahrzeichen in verschiedenen Richtungen und Funktionen wahrgenommen: FÅr die GlÉubigen als „VerbindungsbrÅcke besonderer Art zwischen den Menschen
und dem ‚lieben Gott’ in diesem damals nicht gerade von Zuspruch und Zuwendung seitens
der anstÉndigen BÅrger verwÄhnten Arbeiterviertel Moabits“, wie es Wolfgang Massalsky,
Pfarrer an der ErlÄserkirche, einmal ausdrÅckte
3
.
Für alle Berliner und Touristen dient sie als geographische Orientierung von der Charlottenburger Seite aus, und schließlich zeigt die weithin sichtbare Turmuhr an, welches Stündlein
geschlagen hat. Wer den Klang von Kirchenglocken liebt, wird den fein abgestimmten Klang
mit dem Geläut der Heilands- und Kaiser-Friedrich-GedÉchtniskirche als wohlklingend
empfinden.
Nichts scheint mehr darauf hinzudeuten, dass der schöne Kirchenbau durch einen Luftangriff
am 22.11.1943 bis auf die Grundmauern zerstört worden war, ist er doch ab 1956 nach Plänen von Walter Krüger in schlichterer, aber überzeugender Ausführung wieder aufgebaut
und am 9. März 1958 durch Bischof Dibelius wieder eingeweiht worden.
4
2
Jürgen Grothe: Ein Spaziergang durch Moabit….wie Bolle auf dem Milchwagen. Geschichte und Geschichten.
Kassel 2008, S. 89
3
Der Gemeindebrief der Evangelischen ErlÄser-Kirchengemeinde 2001, S. 5.
4
Vgl. Anhang, Festpredigt von Bischof Dibelius.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
10
Erlöserkirche noch ohne Gemeindehaus.
Will man die ErlÄserkirche von der Hansabrücke aus kommend erreichen, so scheint sie sich
zu verstecken, bildet sie doch als ‚Eckkirche’ gleichsam den Schlussakkord der
Levetzowstraàe neben der heutigen Heinrich von Kleist–Oberschule.
5
Im Verlauf der Levetzowstraße erinnern zahlreiche vor den HÉusern eingelassene Stolpersteine aus Messing mit den eingravierten Daten an die jüdischen Bewohner, die bis 1938
unsere Nachbarn waren. Eine Gedenkstätte,
6
eine stilisierte Rampe mit einem
Eisenbahnwaggon, dahinter eine metallene Schrifttafel mit den Daten der von Berlin ausgehenden Transporte in die Vernichtungslager an der Stelle der ehemaligen Synagoge mahnt
uns, dass auch die einhundert jährige Geschichte der Erlöserkirche nicht nur Freudenzeiten
kannte, sondern auch mit belastenden Situationen konfrontiert war.
5
Das damalige Kleist-Lyzeum wurde zwischen 1927-1929 gebaut.
6
Errichtet von dem Bildhauer Peter Herbich und den Architekten Theseus Bappert und JÅrgen Wenzel, eingeweiht am 14.11 1988.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
11
Warum noch eine fünfte Kirche in Berlin Moabit?
oder: Kirchlich unversorgte Massen als politische Gefahr
7
ZunÉchst stellt sich die Frage: Warum noch eine fünfte Kirche in Moabit? Will man verstehen, in welchen kulturpolitischen und sozialen Kontext der jüngste Kirchenbau in Moabit zu
stellen ist, so kommen hier mehrere Aspekte in Betracht: Als älteste Kirche im Stadtteil
Moabit gilt die St. Johanniskirche, ein Bau von Karl Friedrich Schinkel im Auftrag von
Friedrich Wilhelm III, die 1835 geweiht wurde. Ihr folgte 1894 die Heilandskirche an der
Thusnelda-Allee. Aus ihrer groàen Gemeinde erwuchsen mit dem zunehmenden Wachstum
der Stadt dann drei neue Gemeinden: Reformation, Heilige Geist und Erlöser.
Neben den Problemen viel zu groàer Gemeinden in Berlin mag zusätzlich eine weitere Komponente Beachtung finden: Nach dem Machtantritt Wilhelm II ist eine neue Politik, eine
Neuausrichtung im Hinblick auf die Stellung zu Kirchenneubauten zu registrieren, die nicht
nur der tiefen Religiosität des Kaiserpaares geschuldet scheint. Wenn auf einer Tagung der
Vereinigten Kreissynoden im Juni 1886 der VizeprÉsident des Evangelischen Oberkirchenrats,
Hermann Freiherr von der Goltz, die Meinung vertrat, dass das Anwachsen ‚ kirchlich unversorgter Massen’ auch eine politische Gefahr darstelle, so bestätigte er damit BefÅrchtungen
monarchischer Kreise vor einem Umsturz und politisierte die damals so genannte ‚Kirchennot’.
8
Viele Kirchenleute hatten zu Ende des Jahrhunderts das Fehlen von Kirchen beklagt und Berlin als ‚kirchenärmste Stadt der christlichen Welt’ bezeichnet.
9
Mit der explodierenden
Bevölkerungsentwicklung in Berlin hatte die kirchliche Versorgung bei beiden Konfessionen
nicht mithalten können, so dass Gottesdienste an andern Orten wie Krankenhauskapellen,
HÄrsÉlen oder Turnhallen stattfinden mussten.
Eine aufschlussreiche Begründung bietet der Kammerherr des Kaisers, E. Freiherr von Mirbach, in der Einleitung seines Buches: „Die drei ersten Kirchen der Kaiserin für Berlin“ (Erlöser-Kirche
10
. Himmelfahrt- Kirche. Gnaden- Kirche)“: „Bei dem schnellen äußeren Emporblühen Berlins, bei dem gewaltigen plötzlichen Aufschwunge der Stadt seit den sechziger Jahren
war für alle kirchlichen Verhältnisse sehr wenig…geschehen. Die Mahnrufe mancher Getreuen verhallten in dem Taumel der blendenden Entwicklung, wo die Stadt von einigen hunderttausend Seelen zur Millionenstadt anschwoll; nur wenige Kirchen wurden gebaut, in unÉbersehbaren Gemeinden…wucherte die Gleichgültigkeit und die Feindschaft gegen die Kirche
empor, und fanden je mehr und mehr die Umsturzgedanken verhängnisvolle Ausbreitung.
Damit ging Armut, Elend und Sünde jeder Art Hand in Hand.“
11
Mit dieser Einschätzung bezieht er sich auf mehrere mündliche und schriftliche Äußerungen
des Kronprinzenpaares seit November 1887. Auf die so genannte ‚Kirchennot’ waren kirchli-7
Paradoxon: Wie man am Beispiel der ‚Stillen Revolution’ in der ehemaligen DDR erkennt, bilden auch ‚Kirchlich versorgte Massen’ eine politische Gefahr!
8
Vgl. Stephan Goetz: Kirchen fÅr Berlin. Der Wilhelminische Bauboom, Berlin 2008, S. 140f.
9
Blasius: Die Noth an Kirchen in Berlin, 1888, S.1. Hier nach Goetz 1988, S. 38.
10
Gemeint ist die ErlÄserkirche in Rummelsburg!
11
E. Freiherr von Mirbach: Die drei ersten Kirchen der Kaiserin fÅr Berlin. ErlÄser-Kirche. Himmelfahrt-Kirche.
Gnaden-Kirche. Berlin 1901.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
12
A. von Levetzow, Leiter und MitbegrÅnder
des Ev. Kirchlichen Hilfsvereins. Aus
Mirbach, 1901.
Siegel des Ev. Kirchlichen Hilfsvereins. Aus
Mirbach, 1901.
che Kreise also schon vorher aufmerksam geworden. Interessanterweise ist Åbrigens Mirbachs Buch dem Landesdirektor der Provinz Brandenburg A. von Levetzow
12
gewidmet, und
da unsere ErlÄserkirche den Eckpunkt der Levetzowstraàe bildet, gewinnt dieser Fakt im
JubilÉumsjahr besonderes Interesse.
Den 28. November 1888 darf man wohl als Beginn einer intensiven Bauphase evangelischer
und katholischer Kirchen werten: „An diesem Tage trafen sich etwa 40 Vertreter verschiedener politischer und kirchlicher Richtungen auf Einladung des spÉteren Kaiser Wilhelm II, um
„im ganzen Lande eine allgemein Sammlung fÉr die kirchlichen NothstÅnde zu veranstalten“,
auch mit dem Ziel, die Berliner Stadtmission zu unterstÅtzen.
Da auf diesem Treffen in der Wohnung des Grafen Waldersee im GeneralstabsgebÉude vorgeschlagen wurde, einen Verein zu schaffen, der Mittel zur VerfÅgung stellen konnte, wenn
kirchliche MÄglichkeiten erschÄpft waren, ist dieser Tag als ‚Walderseetreffen’ in die Kirchengeschichte eingegangen und gilt als Geburtsstunde des dann im Mai 1888 endgÅltig begrÅndeten ‚Evangelisch Kirchlichen HÅlfsvereins’.
13
12
Albert Erdmann Karl Gerhard von Levetzow, 1827-1903, Politiker, 1867 Landrat des Kreises KÄnigsberg/
Neumark, von 1881-1884 und 1888-1895 ReichstagsprÉsident. MitbegrÅnder des Evangelischen
Kirchenbauvereins. Den Ev. Kirchlichen Hilfsverein leitete er bis zu seinem Tode 1888. Die Straàe wurde 1886
nach dem Adelsgeschlecht der von Levetzow benannt.
13
Vgl. neben Mirbach zuletzt Stephan Goetz, 1982 und die dort angegebene Literatur.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
13
Zum Vorsitzenden wurde von Levetzow bestimmt, das Protektorat Åbernahm Kronprinzessin
Victoria
14
mit Genehmigung ihres Schwiegervaters, Kaiser Friedrich II, der am 9. Mai durch
eine Kabinettsordre ihrem Wunsch entsprach: „Eurer kaiserlichen Hoheit will ich, ihrem
Wunsche gern entsprechend, hiermit die Erlaubnis erteilen, das Protektorat Åber den zu
grÅndenden ‚Evangelisch Kirchlichen Hilfsverein’ zur BekÉmpfung der religiÄs-sittlichen
NotstÉnde in den groàen StÉdten anzunehmen.“ Der Dankesbrief der Kronprinzessin vom 1.
Mai 1988 an Levetzow fÅr die åbernahme des Amtes des Vorsitzenden nennt die GrÅnde der
Vereinsbildung deutlich:
„Sehr geehrter Herr von Levetzow!
Da seit Jahren an den Kronprinzen und mich von verschiedenen Seiten WÉnsche zur
UnterstÉtzung der BekÅmpfung der geistlichen MissstÅnde unter den groÇen Volksmassen,
vor allem in Berlin, gerichtet worden sind, und da diese stets wachsenden NothstÅnde eine
dauerndes, vereintes Eintreten aller derjenigen erfordern, denen eine AbhÉlfe und das Wohl
des Volkes wahrhaftig am Herzen liegt, so regte der Kronprinz den Gedanken der Bildung
eines HÉlfsvereins an, mit dem Wunsche, daÇ ich demselben meine dauernde FÉrsorge widmen mÑchte.
Ich thue dies von Herze gern. DaÇ Sie, geehrter Herr von Levetzow, trotz ihrer mit GeschÅften
bereits ÉbermÅÇig in Anspruch genommenen Zeit, auf des Kronprinzen und meine Bitte den
Vorsitz des Vereins Ébernommen haben, dafÉr sage ich Ihnen unseren aufrichtigsten Dank.-Mir ist es eine besondere Freude, das Protektorat mit AllerhÑchster Genehmigung fÉhren zu
dÉrfen.
Die von dem Vorstande ausgearbeiteten Statuten habe ich mit groÇem Interesse gelesen und
hoffe, dass der Verein, von Ihnen in bewÅhrter Treue, im Lande die nÑthige UnterstÉtzung
finden, segenbringend wirken und dem einst ausgesprochenen Willen und Wunsche unseres
dahingeschiedenen unvergesslichen Kaisers
15
gemÅÇ dazu beitragen werde, dem Volke sein
wichtigstes Kleinod, die Religion zu erhalten.
Ihre dankbare ergebene
Victoria, Kronprinzessin
16
“
Ein zweites Schreiben der Kronprinzessin, das Levetzow vor 300 Teilnehmern der GrÅndungsversammlung am 28. Mai 1888 im ReichstagsgebÉude verlas, wiederholt die Klagen
Åber die ‚religiÄs-sittlichen NothstÉnde’ und fordert auf, neue, notwendige Arbeiten anzuregen. Das Schreiben der Kronprinzessin, so Mirbach, „bildete die Grundlage nicht allein fÉr
die Arbeiten des Evangelisch-Kirchlichen HÉlfsvereins, sondern auch fÉr den spÅter von demselben fÉr Berlin begrÉndeten Kirchenbau-Verein.“
17
Zu den bekanntesten Mitgliedern gehÄrten Kaiserin Auguste Victoria, Pastor Friedrich von
Bodelschwingh, der LandesprÉsident der Provinz Brandenburg Albert Erdmann Karl Gerhard
von Levetzow, der Privatbankier Ernst von Mendelssohn-Bartholdy, Albert Graf von Ziethen
als Mitglied des Preuàischen Herrenhauses.
14
Der spÉtere Kaiser Wilhelm II., Éltester Sohn des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preuàen, hatte 1881 Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg geheiratet.
15
Kaiser Friedrich III, der aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung nur 99 Tage regierte, starb am 15. Juni
1888.
16
Mirbach, a.a.O., S. 15.
17
Ebenda, S. 20; am 26. 4. 1921 wurde die AuflÄsung des Vereins beschlossen und arbeitete danach als
Kirchenbau-Kommission im Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
14
Auf der zweiten Jahresversammlung am 23. Mai 1889 regte die Kaiserin dann erstmals neue
Kirchenbauten fÅr Berlin an. Aber es gab vorher auch schon AktivitÉten fÅr kirchliche Neubauten. Wie wichtig der Kirchenneubau erschien, verdeutlicht die hohe Zahl der aufeinander
folgenden Bauten. FÅr die Regierungszeit von Kaiser Wilhelm II ist ein regelrechter Bauboom
auffÉllig, wurden doch zwischen 1888 und 1914 gleich 66 Kirchen in Berlin errichtet.
Neu gebaute evangelische Kirchen bis 1900
18
Frieden 1888-91
ErlÄser (Rummelsburg) 1890-92
Gethsemane 1890-93
Himmelfahrt 1890-93
Emmaus 1890-93
Gnaden 1890-95
Kaiser- Wilhelm-GedÉchtnis 1891-95
Luther 1891-94
Heiland 1892-94
Auferstehung 1892-95
Samariter 1892-94
Apostel Paulus 1892-94
VersÄhnung 1892-94
Immanuel 1892-93
Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis 1892-95
Simeon 1893-97
Garnison 1894-96
Trinitatis 1896-98
Kapernaum 1897-02
Golgatha 1898-00
Johannes Evangelist 1898-00
Es folgten 24 weitere evangelische Kirchen bis 1912
Stephanus 1902-1904
Martha 1903-04
Tabor 1903-05
Genezareth 1903-05
Melanchthon 1904-07
Epiphanien 1904-06
Heilig Geist 1905-06
Passion 1905-08
Reformation 1905-07
Lazarus 1905-07
Zwingli 1906-08
Segen 1906-09
Pfingst 1906-08
Martin Luther 1908-09
18
Goetz 1988, aus dem Anhang S. 246.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
15
Hochmeister 1908-10
Paul Gerhardt 1908-10
Elias 1909-10
GalilÉa 1909-10
ERLÉSER 1909-11
Advent 1910-11
Oster 1910-11
KÄnigin Luise GedÉchtnis 1910-11
Heilsbronnen 1911-12
Nikodemus 1912-13
In diesem Kontext ist also auch der Neubau der vierten Kirche in Moabit zu sehen.
Kleine Baugeschichte der ErlÄserkirche in Moabit
Auf Antrag der KÄrperschaften der Heilands-Gemeinde beschloss die Stadtsynode auf ihren
Sitzungen am 28. und 29. April 1904, fÅr den Bau von Kirche und Gemeindehaus das 1.188
m
2
bzw. 83,75 Quadratruten groàe GrundstÅck fÅr 144.636,- Mark von der ‚Neuen Hansaviertel Terrain-Aktiengesellschaft’ zu kaufen. Einen
BeschluÑ XXIII, betreffend Ankauf eines GrundstÅcks zur Errichtung einer dritten Kirche fÅr
die Heilands-Gemeinde
19
, hat die Stadtsynode dahin gefasst:
1. Sie gibt ihre Zustimmung zu dem beigefÉgten, am 21. Dezember 1903 zwischen dem
geschÅftsfÉhrenden Ausschuss und der neuen Hansaviertel Terrain-Aktien-Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage Éber den Ankauf des in demselben und auf dem angefÉgten Lageplan genauer bezeichneten, am Wikinger Ufer, Ecke Levetzowstraße
belegenen Grundstücks in Größe von 1.188 qm = 83,75 Quadratruten.
2. Die Kosten des Grundstücks in Höhe von 144.636 M sollen aus Anleihemitteln
entnommen werden.
3. Sobald die Genehmigung der Aufsichtsbehörden und die Auflassung des Grundstücks
fÉr den Stadtsynodalverband erfolgt sein werden, wird dieselbe zwecks Errichtung einer dritten Kirche der Heilands-Kirchengemeinde Éberwiesen.
4. Die Stadtsynode räumt der Heilands-Gemeinde den ungestörten und unentgeltlichen
Besitz, Gebrauch und Genuß des Grundstückes solange ein, als auf demselben eine
landeskirchlichen Zwecken dienende Kirche sich befindet.
5. Dafür übernimmt die Heilands-Kirchengemeinde die auf dem Grundstücke ruhenden
Lasten und Pflichten für die Zeit des Besitzes vom Tage der Übergabe an die Gemeinde an.
6. Die Heilands-Kirchengemeinde verpflichtet sich, zum Bau der auf diesem Grundstücke
zu errichtenden Kirche die auf märkischem Provinzialrecht beruhende Bauverpflichtung der politischen Stadtgemeinde in Anspruch zu nehmen.
Nr. 410 des Notariats-Registers pro 1903
19
Beschlüsse der Berliner Stadtsynode in den Sitzungen am 28. und 29. April 1904, gedruckt bei J. Sittenfeld,
Berlin 1904, S. 39.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
16
Lageplan für den Bau der Erlöserkirche von 1904
Berlin, den 24. Dezember 1903
Der Kaufvertrag wird am 24. Dezember 1903 vor dem Notar Felix Tichauer durch die Personen Louis Oehmke im Namen des geschÉftsfÅhrenden Ausschusses der Berliner Stadtsynode
für den Berliner Synodalverband und Otto Coulon und Albert Wichmann als Vertreter der
‚Neuen Hansaviertel Terrain-Aktiengesellschaft’ geschlossen und in der Sitzung der Berliner
Stadtsynode am 29. April 1904 angenommen.
20
20
Beschlüsse der Berliner Stadtsynode in den Sitzungen am 28.und 29. April 1904, Berlin 1904, S. 43.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
17
Entwurf der Erlöserkirche von Dinklage
und Paulus 1907
Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht an einen Kirchenneubau gedacht werden konnte,
wollte die Heilands-Kirchengemeinde Vorsorge treffen für den Fall, dass durch die vorhersehbare Vergrößerung ihrer Gemeinde Neubauten nötig werden. Ausschlaggebend für die
Wahl des Grundstückes an der Gotzkowsky-Brücke war die überlegung, „dass die an die
neue Gemeinde angrenzende, von der Charlottenburger Luisengemeinde sehr entfernt liegende und darum schwer pastoral zu versorgende Gebietsteile wie die Helmholtzstraße,
Franklinstraße, Hallerstraße u. s. w. und vom Martinickenfelde (Beusselstraße, Erasmusstraße, Reuchlinstraße) u. s. w. in die neue Gemeinde eingepfarrt werde sollten.“
21
Warum eine Eckkirche?
Die Erlöserkirche war nicht die einzige Eckkirche in
Berlin, auch Advent und Oster, Immanuel, Kapernaum, Epiphanien und Heilige Geist wurden in dieser AusfÅhrung errichtet. Zwar gab es schon Erfahrungswerte durch den bisherigen Bauboom, aber
auch stÉdtebauliche Grenzen schienen erreicht, so
dass Eckkirchen eine neue LÄsung in der engen
Bebauung boten.
Auàerdem gab es ab 1900 aufgrund von Prozessen
zwischen Stadt und Kirche keine unentgeltlichen
BauplatzÅbertragungen mehr, so dass z.B. die Neubauten Simeon, Golgatha und Johannes-Evangelist
„als Blockkirchen auf den GrundstÅcken gebaut
wurden, auf denen schon Éltere Kapellen standen.“
22
Bis dahin stammten die BauplÉtze fÅr die neuen
Platzkirchen bis auf zwei Ausnahmen von staatlicher oder kommunaler Seite.
Die Innenausstattung der neuen Kirche
Eine pompÄse Innenausstattung war zu bestaunen. In der handschriftlichen Chronik
23
heiàt
es dazu: „Die Ausmalung der Kirche, die Glasmalerei des Altarfensters sowie die Verglasung
sind eine SchÑpfung des Prof. Oetken. Das Altarfenster zeigt die Weihnachtsgeschichte. FÉr
die Darstellung der Weihnachtsgeschichte hat man die ohne Perspektion arbeitende SpÅtgothik gewÅhlt, damit die fÉnf dicken Steinrippen nicht wie eine unertrÅgliche ZerreiÇung
wirken, sondern einfach unbeachtet bleiben. Die Muster der anderen Kirchenfenster sind
Vorlagen im Utrechter Dom nachgebildet“
24
21
Maschinenschriftliche Chronik der ErlÄserkirchengemeinde, ohne Verf., S. 1.
22
Goetz, a.a.O., S. 164.
23
Handschriftliche Chronik von Pfarrer Carl Schmidt in: Acta der ErlÄsergemeinde VIII, Nr. 1. ErlÄser-Kirche.
Bau. o. p.; Neue ZÉhlung: Archiv der ErlÄserkirche ,1101.
24
Handschriftliche Chronik.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
18
Innenansicht der ErlÄserkirche von Prof. Oetken (oben).
Als Motiv fÅr einen Konfirmationsschein in den 40er Jahren (unten).
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
19
Die drei Guss-Stahlglocken, angefertigt vom Bochumer Verein fÅr Bergbau und
Gussstahlfabrikation wurden musikalisch abgestimmt mit dem GelÉut der Heilandskirche
und Kaiser-Friedrich-GedÉchtniskirche, so erklingen die Glocken mit den TÄnen es, g und b.
Die auf ihnen angebrachten BibelsprÅche sind bestimmt durch den Gedanken der ErlÄsung:
Die es-Glocke: Gelobt sei der Herr, denn er hat bewahrt und erlÄst sein Volk (Lukas 1,68)
Die g-Glocke: Ich weià, dass mein ErlÄser lebet (Hiob 19,25)
Die b-Glocke: ErlÄse und von allen åbeln
Bei der Abnahme des GelÉuts gab es kleine Beanstandungen: „Die grÑÇte und die kleinste
Glocke sind absolut rein im Ton, wÅhrend die mittlere eine kleine Schwankung nach oben hat,
die bei LÅuten aber ausgeglichen wird.“
25
Der Bochumer Verein fÅr Bergbau und
Gussstahlfabrikation gibt daraufhin einen Nachlass von 100 M. Den Auftrag fÅr den Orgelbau
hatte die damals in Berlin noch recht unbekannte Firma Schuke aus Potsdam erhalten, die
stolz auf ihren ersten Orgelbau in Berlin war.
26
Die Turmuhr baute die Firma C.F. Rochlitz aus
Berlin-NeukÄlln.
Das eigene Leben der ErlÄsergemeinde begann erst am 1. August 1912, nachdem sie von der
Heilands-Kirchengemeinde mit ca. 14.000 Seelen laut Errichtungsurkunde des KÄniglichen
Konsistoriums und des PolizeiprÉsidenten vom 6. Juli 1912 abgezweigt worden war. Sie
wurde zunÉchst provisorisch verwaltet und dann am 7. Dezember amtlich geleitet von Pastor
Schmidt, ab 18. Mai 1913 dann mit weiterer UnterstÅtzung durch Pastor Manger aus Flieth
(Uckermark). Seit 1912 gilt die ErlÄsergemeinde endgÅltig als selbstÉndiger Kirchenbezirk mit
ca. 14.000 GlÉubigen.
Die Architekten Paulus & Lilloe entwarfen auch das Gemeindehaus, ebenfalls in rotem Backstein, in dem auch eine Krankenstation, eine Kleinkinderschule, ein VorlÉufer der Kita, ihren
Dienst aufnahmen. So konnte vier Wochen spÉter, am 1. September 1912, eine weitere
Einweihung vollzogen werden: Die Einweihung des Pfarr- und Gemeindehauses durch Generalsuperintendent D. Lahusen. Das schÄne Haus beherbergte zwei Wohnungen fÅr die beiden Pfarrer, aber auch Wohnungen fÅr KÅster und Kirchendiener. Alle Wohnungen galten
durch die ErklÉrung der KÄrperschaften in ihrer Sitzung vom 17. Dezember fÅr Dienstwohnungen.
Wiederum an einem Sonntag Kantate, am 30. MÉrz 1913, konnte Pastor Hoppe vom OberlinMutterhaus-Nowawes die TÅr der Schwesternstation der ErlÄsergemeinde aufschlieàen.
Und am 8. Oktober 1913 kam schlieàlich auch noch eine ‚Kleinkinderschule’ mit 15 Kindern
dazu, in der die Kinder morgens von 8-12 und nachmittags von 14 bis 16 Uhr von einer
unentgeltlich (!) arbeitenden Helferin betreut wurden. Lediglich ein Beitrag von 1 Mark pro
Kind und Monat wurde verlangt.
25
Brief von Friedrich Kerper am 6.August 1910, der im Auftrag der Baukommission der Heilandsgemeinde die
fÅr ErlÄser gegossenen Glocken auf ihre Stimmung hin prÅfte.
26
Vgl. Beitrag von Edda Straakholder.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
20
So schienen zu diesem Zeitpunkt alle Voraussetzungen fÅr ein gutes Gemeindeleben erfÅllt,
bis der erste Weltkrieg diese Entwicklung unterbrach und die nÉchste Einweihung, nÉmlich
von Gedenktafeln, nicht mehr den Lebenden, sondern den Toten galt.
Seine MajestÖt der Kaiser und KÄnig haben geruht…
Der PrÉsident des ‚KÄnigliche(n) Konsistorium der Provinz Brandenburg, Steinhausen, Åbersendet dem Kirchgemeinderat der Heilands-Kirchengemeinde am 10. Juli 1909 mehrere
Zeichnungen der Architekten Dinklage, Paulus & Lilloe (Berlin N.W. Alt Moabit 110) und einen Kostenvoranschlag von 230.000 M. Dazu der Aufforderung, sich wegen des Termins der
Grundsteinlegung mit dem Generalsuperintendenten von Berlin ‚ins Benehmen zu setzen’
und Programm und Feier mit dem Vertreter des KÄniglichen Konsistoriums, Ober-Konsitorialrat Dr. Crisolli zu besprechen. „Wegen der Benennung der Kirche als ‚ErlÑserkirche’ haben
wir heute dem Evangelischen Ober-Kirchenrat Vortrag gehalten.“
27
FÅr den Bau der ErlÄserkirche wurde wegen der ungÅnstigen BodenverhÉltnisse, d.h., des
sumpfigen Bodens, die Bewilligung um 30.000 Mark erhÄht, weil kostspielige Fundamentierungsarbeiten notwendig waren. Auch die finanziellen MÄglichkeiten der kaiserlichen Schatulle waren offenbar erschÄpft. „Die Summe aller 53 Kirchen, die in der ersten Phase des
Wilhelminische Kirchenbaus erbaut wurden, betrug nach dem Jahresbericht von 1903 24,1
Millionen M., inklusive des Wertes der BauplÅtze 30,2 Millionen. Die Gesamtaufwendungen
des Kirchenbauvereins sowie des Engeren Ausschusses des Hilfsvereins in und um Berlin
wurden mit 11,6 Millionen Mark angegeben.“
28
Die Kosten betrugen beispielsweise:
ErlÄser (Rummelsburg)
Himmelfahrt
Gnadenkirche
Kaiser-Wilhelm-GedÉchtnis
Kapernaum
919.303 M
545.466 M
1.537.615 M
4.499.802 M
603.300 M
29
Am 19. August 1909 teilt das KÄnigliche Konsistorium dem Gemeinderat der Heilands-Kirchengemeinde mit:
„Seine MajestÅt der Kaiser und KÑnig haben die Beilegung des Namens „ErlÑserkirche“ fÉr die
in der Heilands-Kirchengemeinde in Berlin zu erbauende zweite Kirche zu genehmigen geruht.“
Planung und AusfÅhrung lagen also in den HÉnden der Architekten August Georg Dinklage,
Ernst Paulus und Olaf Lilloe. Der Tag der Feier der Grundsteinlegung am 18. November vormittags durch den Generalsuperintendenten von Berlin, Wilhelm Faber, unter Beteiligung
kirchlicher AmtstrÉger, von Mitgliedern des KÄniglichen Konsistoriums, aber auch des PolizeiprÉsidenten von Berlin, v. Jagow; dem OberbÅrgermeister von Berlin, Kirschner, dazu
27
Brief des KÄniglichen Konsistoriums der Provinz Bandenburg, Abt. Berlin an den Gemeinde-Kirchenrat der
Heilands-Kirchengemeinde vom 10. Juli 1909.
28
Goetz, 1988, a.a.O., S. 165.
29
Goetz,1988, a.a.O., S. 165
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
21
Grundsteinlegung der ErlÄserkirche 18.11.1909
Vertretern der Architektenfirma, gehÄrte zu den ersten festlichen HÄhepunkten im Leben
der ErlÄser-Kirchengemeinde. Wie wichtig dieser Tag den Verantwortlich erschien, belegt
das liebevoll mit Zierleisten im Jugendstil gestaltete Programm
30
und die aufwÉndige
Zeremonie:
Der Chor unter dem Organisten Reinhold Kurth, der Vater des langjÉhrigen Kantors Johannes
Kurth, sang die Motette des Berliner Komponisten Friedrich Silcher mit dem beziehungsreichen Text: Herr, ich habe lieb die StÉtte deines Hauses, die Festansprache hielt Pfarrer Lehmann, die Stiftungsurkunde verlas der KirchenÉlteste Prof. Hoerenz. Mit einer Eigenkomposition von R. Kurth, einer Mottete mit dem Text ‚FÅrchte dich nicht’ begann dann die Grundsteinlegung, die Weihe erfolgte durch den Generalsuperintendenten von Berlin, Propst D.
Faber unter Vollziehung der drei HammerschlÉge’.
Und traditionsgemäß wurde auch eine Urkunde in eine Zinkkapsel eingelötet und in den
Grundstein unter der Vorhallenfläche mit eingelegt. Der Hauptteil des Urkundentextes beschäftigt sich, gemäß dem Namen der neuen Kirche mit dem Erlösungsgedanken. Der vollständige Wortlaut des zeittypischen Dokuments ist im Anhang abgedruckt.
30
Preuàe’sche Buchdruckerei, Berlin, Turmstraße 24
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
22
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
23
Zur Einweihung des neuen Gotteshauses am Sonntag Kantate am 14. Mai 1911 hoffte die
Kirchenleitung auf die Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II, der jedoch Pfarrer Lehmann (Heilandsgemeinde) telegraphisch am 10 Mai um 5.42 aus dem Schloss in Wiesbaden wissen
lieà:
„seine majestÅt der kaiser und koenig haben mit allerhoechst ihrer vertretung bei der am 14.
d. mts. bevorstehenden einweihung der erloeserkirche seine koenigliche hoheit den prinzen
august wilhelm von preussen zu betrauen geruht=der geheime kabinettsrat von valentini“
Und noch eine Zweite Absage brachte der Telegraphenbote, nun aus dem Neuen Palais am
13. Mai zu Pastor Lehmann in die Ottostraàe 17:
„ihre majestÅt die kaiserin werden sich bei der einweihung der erloeserkirche durch besondere entsendung einer prinzessin nicht vertreten lassen = von winterfeld kammerherr“
Vielleicht war man ein wenig enttÉuscht, doch bekamen die Telegrammformulare einen Ehrenplatz in der Akte Nr. 1 der ErlÄsergemeinde, und immerhin konnte man das gedruckte
Programm fÅr die Einweihung, das minutiÄs den Ablauf regelte, mit dem Namen des Prinzen
schmÅcken.
Vor dem Festgottesdienst scheint zunÉchst alle Aufmerksamkeit dem Protokoll fÅr den Prinzen zu dienen. Er wird an der KirchentÅr empfangen vom Generalsuperintendenten von Berlin, D. Faber, dem Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten Staatsminister
D. v. Trott zu Solz, dem PrÉsidenten des Evangelischen Kirchenrates Voigts und weiteren Excellenzen, dem OberbÅrgermeister, den Geistlichen der Heilands-Kirche, dem Gemeindekirchenrat, den Mitgliedern der Baukommission, den Architekten Paulus und Lilloe u. a. m.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
24
Ordnung der Einweihungsfeier der ErlÄserkirche von 1911
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
25
Die Beilage zum Evangelisch-Kirchlichen Anzeiger berichtet Åber die Einweihungszeremonie
in ihrer nÉchsten Sonntagsbeilage am 20. Mai: „Durch die Einweihung der ErlÑserkirche in
Moabit, am Wikingerufer an der Ecke LevetzowstraÇe, ist Berlin um ein bemerkenswertes,
zweitÉrmiges Gotteshaus reicher geworden. Mit seinen oben verbundenen TÉrmen ist es
weithin sichtbar. Die Kirche ist von den Architekten Paulus und Lilloe erbaut; sie hat 1000
SitzplÅtze und wird der neugebildeten, von der Moabiter Heilandsgemeinde abgezweigten
Gemeinde dienen…
Beim feierlichen Einzug sang der Kirchenchor der Heilandskirche unter Leitung des Organisten
Kurth den 98. Psalm. Den Weiheakt vollzog unter Assistenz des Sup. Fraedrich und des Pastors Schmidt von der Heilandskirche Gen. Sup. D. Faber, der seine Ansprache anknÉpfte an
Matth. 20,28:“ Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern
dass er diene und gebe sein Leben zur ErlÑsung fÉr viele.“ Nachdem die Gemeinde – nicht
mehr mit Posaunenbegleitung, sondern zum ersten Mal unter Begleitung der Orgel – gesungen hatte: “Ich habe nun den Grund gefunden“, bestieg Pfarrer Lehmann die Kanzel zur Festpredigt Éber HebrÅer 9,2.: „Christus hat eine ewige ErlÑsung erfunden.“ Mit Gesang und Gebet schloss die Éberaus stark besuchte Feier, der auch Geistliche aus der Umgebung beiwohnten.“
Schon vor 100 Jahren war man auf Spenden angewiesen
Nach den Mitteilungen in der handschriftlichen Chronik scheint sich die Heilands-Kirchengemeinde besonders um die AusschmÅckung ihrer Tochterkirche bemÅht zu haben.
Es wurden gespendet:
ï‚· Heilige GerÉte fÅr Taufe und Abendmahl von den KÄrperschaften der HeilandsKirchengemeinde
ï‚· Kruzifix von Rektor Labs
ï‚· Rotes Festtags- Antependium fÅr Altar und Kanzel von den Konfirmandenkindern von
Pastor Schmidt
ï‚· Weiàe Altardecke vom Jungfrauenverein der Heilands-Kirchengemeinde
ï‚· Ein Teppich vom positiven Parochialverein der Heilands-Kirchengemeinde
ï‚· Eine groàe Krone von Frau Oberamtmann Gehricke und ihrer Tochter
ï‚· Das Altarfenster durch Geldspenden der St. Georgen, Petri-, Friedrich-Werder-Gemeinde sowie durch Sammlungen in der Gemeinde.
Es mutet uns heute mÄglicherweise eigenartig an, wenn der Kaiser ausgerechnet zur Einweihung einer neuen Kirche in Moabit eingeladen wird – zu der er dann schlieàlich Prinz August
Wilhelm schickte – ist doch Åberliefert, dass Wilhelm II. Hofbeamten seine Abneigung ihnen
gegenÅber mit der Bemerkung einleitete: „Na, Sie alter Moabiter!“
Aber selbstverstÉndlich hatte die kirchliche Obrigkeit Wilhelms Stellung als summus episcopus, als hÄchster Landesbischof der Evangelischen Landeskirche der Élteren Provinzen Preuàens zu berÅcksichtigen, der in dieser Funktion auch den Namen ‚ErlÄserkirche’ fÅr den
neuen Sakralbau am 19. August 1909 genehmigte.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
26
Und der Kaiser war Åberzeugt vom Gottesgnadentum der Hohenzollern, der Einheit von
Thron und Altar. Bis heute werden vielfach AussprÅche zitiert wie: „…dass Wir Hohenzollern
Unsere Krone nur vom Himmel nehmen und die darauf ruhenden Pflichten dem Himmel gegenÉber zu vertreten haben“
31
oder 1888 beim Empfang der Berliner stÉdtischen BehÄrden:
„Sorgen Sie dafÉr, dass in Berlin Kirchen gebaut werden!“
32
Die tiefe ReligiositÉt des Kaiserpaares war bekannt, besonders die Kaiserin „gehÄrte zu den
Menschen, die nur von der FrÄmmigkeit aus zu verstehen sind “
33
. Der gutmÅtige Spott der
Berliner sprach zwar respektlos von der ‚Kirchenjuste’, aber ihr Einsatz um den Neubau von
Kirchen in Berlin verdiente Achtung: „Der Name der Kaiserin und kirchliche Vorhaben – beide
Begriffe begannen miteinander zu verschmelzen. Die Berliner quittierten das mit gutmÉtigem
Spott, doch insgesamt nicht ohne Stolz selbst bei jenen, deren Bindung an die Kirche mit all
ihren Einrichtungen gering oder gar nicht vorhanden war.“
34
Die ersten 10 Jahre
Bei ihrer GrÅndung 1911 gehÄrten von den 16.414 Einwohnern 14.000 ‚Seelen’, zur neuen
Gemeinde, die in den ersten 20 Jahre von den Pfarrern Carl Schmidt und Martin Manger
seelsorgerisch betreut wurde.
Der Umfang der ErlÄsergemeinde geht hervor aus dem: Kirchlichen Bericht fÉr die ErlÑserGemeinde Éber das Jahr 1913, ausgegeben Neujahr 1914.
Darin heiàt es: „Die ErlÑsergemeinde umfaÇt den sÉdwestlichen Teil Moabits, der durch die
LevetzowstraÇe (beide Seiten), JagowstraÇe (beide Seiten), Alt- Moabit westwÅrts (beide
Seiten), GotzkowskystraÇe (b. S.), TurmstraÇe 61- 66, BeusselstraÇe 1- 14, Spreelauf aufwÅrts
bis zur HansabrÉcke umgrenzt wird. “
Es gehÄren also zur ErlÄser-Gemeinde:
Agricolastraàe, Alt-Moabit 36-76, Solinger Straàe,
Beusselstraàe 1-14a, Eyke-von-Repkow-Platz, Turmstraàe 61- 66, Tile-Wardenberg-Straàe,
Gotzkowskystraàe, Hansa-Ufer , Wikingerufer, Wullenweberstraàe,
Jagowstraàe, Levetzowstraàe, Zinzendorfstraàe, Zwinglistraàe 16-27.
Da es sich bei der Erarbeitung unserer kleinen Festschrift herausgestellt hat, dass kaum noch
jemand die ‚alte Schrift’ lesen kann, mÄgen hier von dem Verfasser der handschriftlichen
31
Aus dem Trinkspruch des Kaisers beim Besuch des Provinzial-Landtages in KÄnigsberg im Mai 1890, vgl.
Eugen Richter –Archiv, Politisches ABC Buch, 9.Aufl. 1898.
32
Ebenda.
33
Walter Wendland: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte in Berlin, Berlin 1930, S. 337.
34
Iselin Gundermann: Kirchenbau und Diakonie: Kaiserin Auguste Victoria und der Evangelisch-Kirchliche
Hilfsverein.“ In: Hefte des Evangelischen Kirchenbauvereins, Bd. 7, p 4 hier: Webfassung von Dr. Hermann
Detering, S. 4.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
27
Chronik, Pfarrer Carl Schmidt, Teile des Berichts, aus der RÅckschau von 1929 geschrieben,
folgen. Mit ihm beginnt die „Acta der ErlÄsergemeinde No.1 ErlÄser-Kirche. (Bau)“.
„Mit dem Bau der ErlÑserkirche an der Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg kam eine
Bewegung zum AbschluÇ, die vor 1202 von der Åltesten Seite Berlins in dem kleinen Fischerdorfe, von der Nikolai-Kirche ihren Anfang nahm. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts gab es weit
drauÇen gelegen eine Kapelle St. Georgen, die zunÅchst AussÅtzige, dann Arme und Sieche
und schlieÇlich die Einsamen der neu entstandenen VorstÅdte: Spandau-Vorstadt, Friedrichstadt, KÑnigstadt betreute, kirchlich jedoch zu Nikolai gehÑrte. 1686 wurde dieser Teil mit
seiner Hospitalkirche St. Georgen abgetrennt und zur selbstÅndigen St. Georgen-Gemeinde
erhoben. Die weite Entfernung vieler Vorstadtbewohner zum Gotteshaus legte den Wunsch
nach einem eigenen Gotteshaus nahe, den die 3. Gemahlin Friedrich I., Sofia erfÉllte.
1713 war sie selbst bei der Einweihung der nach ihr benannten Kirche und von Georgen abgezweigten Gemeinde zugegen. Bauliche Ausdehnung sowie weiter drauÇen entstehende
Neusiedlungen drÅngten zu weiteren Abzweigungen. 1718 war durch die Ansiedlung franzÑsischer FlÉchtlinge in dem GelÅnde zwischen der heutigen Paul- und KirchstraÇe, die Friedrich
Wilhelm I. zur Anlage von Maulbeerpflanzungen und zum Betrieb von Seidenraupenzucht
dorthin gewiesen hatte, ein neuer Lebenspunkt und Entwicklungspunkt entstanden, der
schon 1730 den Namen Moabiter Land fÉhrte. Die frommen, aus der Bibel lebenden
FlÉchtlinge, haben sicher oft das Jesaiaswort 16,4 gebraucht, das nach der unverÅnderten
Luther-ábersetzung lautet: LaÇ meine Verjagten bei dir wohnen, lieber Moab, sei du ihr
Schirm vor dem ZerstÑrer, so wird der Treiber ein Ende haben .Aus dankbarer Bezeugung hieÇ
es immer wieder: Pays de Moab. „Mein liebes Moab.“
Aus Moabiterland, wie die Berliner diese Kolonie dann nannten, wurde allmÅhlich Moabit.
Die Entwicklung war in 100 Jahren soweit gediehen, dass fÉr diese zur Berlingemeinde gehÑrenden Moabiter ein eigenes Gotteshaus gebaut werden musste, das Friedrich- Wilhelm IV.
entstehen lieÇ und 1835 einweihte, die Johanniskirche. Als Moabit 1861 in Berlin eingemeindet und zu 100.000 Seelen angewachsen war, wurde 1896 die Abzweigung der Heilands-Gemeinde und 1907 die der Heilige Geist-Gemeinde notwendig. Bald waren die FreiflÅchen der
Heilands-Gemeinde nach Charlottenburg zu bebaut und ermÑglichten 1907 die Abtrennung
der Reformationsgemeinde, 1912 die der ErlÑsergemeinde. Die zu bildende ErlÑsergemeinde
sollte nicht nur Teile Moabits, sondern auch Teile von Charlottenburg, die sogenannte Insel
zwischen Spree und Landwehrkanal umfassen…“
Es folgen die Namen der Spender. Und weiter heiàt es: „Die vier kleinen Figuren Éber dem
Eingangsportal sollen Petrus, Paulus, Augustin und Luther darstellen. Die Baukassen AktenbestÅnde befinden sich in unseren HÅnden. PlÅne und Polizeischeine waren bei der HeilandsGemeinde verblieben und sind als Altpapier verkauft worden.“
Nachrichten Åber Moabit aus der ‚Moabiter Chronik’ von Wilhelm Oehlert
Will man den riesigen QualitÉtsunterschied zwischen dem alten lÉndlichen und nun stÉdtisch
erscheinenden Moabit wÉhrend der letzten Jahrzehnte vor der Einweihung der ErlÄserkirche
begreifen, muss man sich einige Akzente der Geschichte Moabits vor Augen fÅhren: Generell
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
28
Karte von Moabit 1861. Aus Oehlert, Moabiter Chronik, S. 112.
kann bei Fragen nach der Geschichte Moabits auf die detailreiche Chronik von Wilhelm
Oehlert verwiesen werden, die 1910 im Selbstverlag des Verfassers erschien.
35
Oehlert berichtet u. a. von den Ausgrabungen slawischer åberreste, der ersten Ansiedlung
durch wendische Fischer, der Anlage des Tiergartens durch den Groàen KurfÅrsten, der diesen zum Schutze des Wildes 1656 eingattern lieà, der Besiedelung des heutigen Moabit, beginnend 1685, mit einem ‚Staakensetzerhaus’, auàerhalb des Geheges des Tiergartens, die
Ansiedlung von Hugenotten sowie die beginnende Industrialisierung des Moabiter Stadtgebietes. Auch die Grundsteinlegung fÅr die ErlÄserkirche wird von Oehlert fÅr das Jahr 1909
vermerkt. Aus dieser Moabiter Chronik ist offenbar nach einem Teilabdruck in einer Berliner
Sonntagsbeilage immer wieder zitiert worden.
Sehr ausfÅhrlich berichtet der Verfasser Åber die Ansiedlung der franzÄsischen GlaubensflÅchtlinge durch Friedrich Wilhelm I. und diskutiert die Thesen Åber den Ursprung des Namens ‚Moabit’. Nach Durchsicht der zeitgenÄssischen Literatur mit ihrer Vielzahl von Deutungsversuchen von „terre maudite“ – Fluchland Åber „terre (pays) des Moabites“ unterstÅtzt er die These des ersten Direktors des Luisen-Gymnasiums in Moabit, Dr. Wilhelm
Schwartz. Dieser vertrat die Ansicht, dass die Benennung eines ‚Fluchlandes’ nicht zu der
Stimmung der franzÄsischen FlÅchtlinge passen kÄnne. Anzunehmen sei eher, dass die bibelfesten Hugenotten sich auf die ErzÉhlungen des Alten Testamentes bezogen wie Jesaja
16,4. Eine åberzeugung, die dann auch der Verfasser der handschriftlichen Chronik, Pfarrer
Carl Schmidt, teilt.
35
Moabiter Chronik. Festgabe zur Feier der fÅnfzigjÉhrigen ZugehÄrigkeit. des Stadtteils Moabit zu Berlin. Von
Wilh. Oehlert. Im Selbstverlag des Verfassers. Berlin NW 21, 1910. Zu beziehen durch Albert Loewenthal, Berlin.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
29
Carl Schmidt,
1912-1930 Pfarrer an der
ErlÄserkirche
Bis zur Eingemeindung 1861 bot Moabit noch ein ausgesprochen lÉndliches Bild: es gab auàer der Moabiter Chaussee weder gepflasterte StraàendÉmme noch Straàenbeleuchtung.
Man kannte dort weder BÅrgersteige, Wasserleitung oder Kanalisation. GrÄàere Mietskasernen fehlten. Kleine HÉuschen mit GÉrten bestimmten den Charakter. Im Norden erstreckten
sich Felder, an der Spree Wiesen. Ein riesiger Aufschwung setze erst mit der ReichsgrÅndung
1871 ein. Oehlert nennt fÅr diese AktivitÉten beispielsweise Konferenzen der Bezirksvorsteher, freie AusschÅsse der BÅrgerschaft, Vertreter Moabits im Stadtparlament.
„Albert Borsig, der Fabrikbesitzer Lehmann, der Baumeister Wieck, vor allem aber der Kaufmann Wilhelm Gericke, ein eingeborener Moabiter (geb. 29.1.1838), dem schlieÇlich im
Volksmunde der Ehrentitel des „KÑnigs von Moabit“ zuteil wurde, verdienen hier besondere
ErwÅhnung.“
36
In dem Band: Deutsche Kirchen – Die evangelischen Kirchen in Berlin, ist zu diesen Aspekten
nachzulesen: „Es ist ein historischer Boden, auf dem die ErlÑser-Kirche steht, denn hier wurden durch Ausgrabungen wendische Ansiedlungen festgestellt, die aus der Uebergangszeit
der heidnisch-slavischen zur Christlich-deutschen Herrschaft stammten. Hier wurde auch auf
dem jetzigen GrundstÉck Alt Moabit 61- 66 durch den GroÇen KurfÉrsten dem Zaunsetzer und
WÅchter ein Haus errichtet, das auf dem Stadtplan aus dem Jahre 1675 verzeichnet ist. Es
war die erste dauernde Ansiedlung auf dem heutigen Moabiter Gebiet.“
37
Wie das kirchliche Leben an ‚ErlÄser’ begann
In den ersten Jahren wurde Pfarrer Carl Schmidt bei den kirchlichen Amtshandlungen durch
den jungen, damals noch ganz unbekannten Licentiaten Paul Tillich unterstÅtzt, ein Name,
der unter den Theologen BerÅhmtheit erlangt sollte.
38
Vor welchen Aufgaben standen die neuen Pfarrer der
jÅngsten Kirche in Moabit, deren Gemeindemitglieder
ebenso wie sie mit einer unbekannten Situation fertig werden mussten? Denn: Nicht nur an neue Pfarrer, eine neue
Kirche, sondern auch an einen neuen Friedhof musste sich
die neue Gemeinde gewÄhnen. Dass das zunÉchst nicht ohne
Folgen blieb, ist an den KirchenbÅchern ablesbar: Es gab
Austritte, und ganz besonders betraf das Verharren im BewÉhrten bei dem Wunsch der Begleitung durch den vertrauten Pfarrer im Tode.
36
Oehlert, a. a. O., S. 123
37
Wilhelm LÅtkemann: Deutsche Kirchen Bd.1 – Die evangelischen Kirchen in Berlin. Berlin 1926, S.43; 70.
38
Vgl. den Beitrag Wolfgang Massalsky.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
30
Titelblatt
Kirchlicher Bericht
ErlÄser-Gemeinde 1913
Da von den Pfarrern minutiÄse Statistiken verlangt wurden
Åber kirchliche Amtshandlungen, aber auch von Angaben, die
bei uns heutigen Lesern Verwunderung auslÄsen wie etwa die
Frage nach vorheriger Verehelichung, die im ‚Normalfall’ mit
dem Eintrag ‚Jungfrau’ belohnt wurde, oder der
Krankheitsursache im Todesfall, lassen sich einige Aussagen
treffen Åber den Beginn des Gemeindelebens an ‚ErlÄser’ oder
auch die soziale Zusammensetzung der Gemeinde.
Aus unseren KirchenbÅchern
In den ersten zehn Jahren von 1912 bis 1921 wurden getauft (nach Auskunft der KirchenbÅcher und der von den Pfarrern ausgefÅllten Statistik).
Taufen
27 Kinder taufte der amtierende Pfarrer Schmidt, 64 der junge
Hilfspfarrer Tillich, zwei Kinder tauften Pfarrer aus anderen
Kirchen. In der Rubrik: Bemerkungen findet man dazu Hinweise
Åber die Taufen von Kindern, deren Eltern als ‚Dissidenten’
bezeichnet werden, Eltern also, die keiner Religionsgemeinschaft
angehÄren, Åber die Taufe eines Erwachsenen, „dessen beide
Eltern mosaisch sind“, die Taufe eines Israeliten und von zwei
Juden.
Vor welchen Aufgaben die Pfarrer in dieser Gemeinde mit ihren
oft schwierigen sozialen VerhÉltnissen standen, verdeutlicht
bereits die erste Amtshandlung: Das erste Kind wurde von Pfarrer
Schmidt in einer Nottaufe am 14.08.1912 auf den Namen Erwin Kurt Erich getauft. Sein
katholischer Vater, Friedrich Knorr, war BÉcker, der Beruf seiner evangelischen Mutter,
Marianne Lienkowski, wurde, wie damals Åblich, nicht eingetragen. Die Eltern waren nicht
kirchlich getraut. Bei der Mutter verzichtete man grundsÉtzlich auf die Angabe des Berufes,
wohl nach der traditionellen Vorstellung, dass eine Frau das Haus besorgte? Das erste
MÉdchen, getauft am 18.08.1912, hieà Elfriede Wilhelmine, sein Vater war der Postschaffner
Karl Friedrich Wilhelm Brose. wohnhaft Alt-Moabit 55.
Der Auswahl des ‚richtigen’ Namens wurde zu allen Zeiten Bedeutung beigemessen, keine
Rolle spielten damals die Namensvorbilder etwa von Filmhelden oder berÅhmten PersÄnlichkeiten, oder von Heiligen wie bis heute bei den Katholiken, sondern man bevorzugte
noch traditionell Namen der Vorfahren, der Élteren Generation. Viele Kinder trugen drei
Namen. Auch die Namen der Paten wurden eingetragen.
1912 93
1913 148
1914 230
1915 218
1916 136
1917 120
1918 117
1919 143
1920 199
1921 167
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
31
Die Angaben Åber die Berufe der VÉter widerspiegeln gut die soziale Zusammensetzung und
die ArbeitsmÄglichkeiten generell in Moabit: Von den 93 angegebenen Berufen sind angegeben: 15 Arbeiter, 10 Schlosser, dazu kommen Werkmeister, Maschinenmacher, Mechaniker,
Installateure, Glaser, Tapezierer, Maler, BÉcker, Drucker, Tischlermeister, Heizer.
Aber es gibt auch mehrere Oberlehrer, Kaufleute und fÅr den damaligen Stand des Verkehrswesens wichtig: einen Straàenbahnschaffner und sogar einen Oberpostschaffner. Und
auch das nahe gelegene Moabiter GefÉngnis brauchte GefÉngnisaufseher. So lassen allein
die Namen der Getauften und die Berufe der VÉter ein Bild Åber das Leben und die ArbeitsmÄglichkeiten in Moabit entstehen. Weitere Eintragungen in den alten sorgsam gefÅhrten
KirchenbÅchern geben Erkenntnisse etwa auf problematische WohnverhÉltnisse und mangelnde Hygiene in vielen HÉusern, die sicherlich auch eine Ursache fÅr die damalige hohe
Kindersterblichkeit waren. Als ein Beispiel seien die so genannten ‚NissenhÅtten’ im Bereich
der Wullenweberstraàe genannt.
EheschlieÑungen und Trauungen von Evangelischen
Ohne hier in Einzelheiten gehen zu wollen, scheint, was die ‚messbare’
ReligiositÉt anbelangt, der damalige Einzugsbereich von ‚ErlÄser’ nicht an
der Spitze zu stehen und auch nach der sozialen Zusammensetzung der
Gemeinde gehÄrte sie nicht zu den ‚Reichen’. So erwiesen sich die
kirchlichen Amtshandlungen im Vergleich zu den 11 anderen Kirchen der
DiÄzese II in Berlin (Dankeskirche, Gnadenkirche, St. Golgathakirche,
Heilandskirche, Heilige Geistkirche, St. Johannis (Baptist Moabit) Kirche,
St. Johannis-Evangelistkirche, Kapernaumkirche, Nazarethkirche,
Osterkirche, St. Philippus-Apostelkirche, Reformationskirche) von der
Anzahl her etwas geringer.
Die Heilandskirche beispielsweise mit 1000 SitzplÉtzen (ErlÄser 960) verzeichnet 1914 an
Taufen 415, Konfirmanden 597, Trauungen 172, Beerdigungen 273. Dennoch erscheinen die
Zahlen im Vergleich zur Gegenwart nahezu gigantisch, und auch fÅr die Gemeindemitglieder
von ErlÄser war es sicherlich ein imposanter Anblick, wenn der lange Zug der Konfirmanden,
angefÅhrt von den Pastoren in ihrem schÄnen Talar in die Kirche einzog. Die vergleichsweise
prÉchtige Gestaltung der Konfirmationsscheine belegt, dass die Symbole, die Ikonographie
dieser Generation noch bekannt waren und zum religiÄsen Allgemeinwissen gehÄrten: wie
der Hinweis auf den Psalm: „So wie der Hirsch nach frischem Wasser schreit“, die Gesetzestafeln von Moses, die Krone als Symbol fÅr Treue und das Ewige Leben.
1912 10
1913 80
1914 59
1915 87
1916 68
1917 59
1918 66
1919 92
1920 119
1921 83
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
32
Konfirmationsschein von KÖthe Luise Margarethe Klamm vom 19.09.1920 (siehe Kapitel 5).
Klagen der Pfarrer Åber den RÅckgang der Konfirmationszahlen und den mangelnden Gottesdienstbesuche der Konfirmanden und Åber die Suche nach GrÅnden lesen wir nicht nur
1913, sondern auch in einem kleinen inhaltsreichen Faltblatt von Pfarrer Karl Schulz zum
50jÉhrigen JubilÉum. Einiges erscheint bis heute aktuell, wie aus dem Bericht zu erfahren ist:
„Mit groÇer Sorge sehen wir in diesen Zahlen einen Mangel an VitalitÅt in der jungen Generation, die entweder in der Ehe ganz auf Kinder verzichtet oder sich nur auf ein Kind beschrÅnken will. Die jungen Leute machen sich nicht klar, dass es unter diesen UmstÅnden in kommenden Jahren keine arbeitsfÅhigen Menschen mehr geben wird, die die Renten fÉr ihre alten Eltern werden erarbeiten kÑnnen. WÅhrend die Zahl der Hunde zunimmt, nimmt die Zahl
der Menschenkinder ab. Welche Folgen das fÉr die kirchliche Jugendarbeit, fÉr den kirchlichen Unterricht haben wird, kann man sich leicht ausmalen, wenn man die Zahlen der Konfirmanden einst und jetzt vergleicht.“
39
39
Karl Schulz: Kleines Faltblatt mit dem Titel: Aus der Geschichte der ErlÄserkirche Berlin – Moabit 1961.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
33
Die Konfirmierte KÖthe Luise Margarethe
Klam vom 19.09.1920. (Siehe Kapitel 5).
Heute scheint ein Gegensatz zu klaffen zwischen dem
deutlichen Interesse vieler Jugendlicher an den kulturellen Angeboten der Kirchen sowie der Akzeptanz ihre
Hilfsangebote fÅr BedÅrftige und der Verpflichtung,
sich als aktives Gemeindemitglied auch mit finanziellen
Pflichten zu bekennen.
Konfirmationen
1912 Keine
1913 172
1914 166
1915 181
1916 179
1917 202
1918 180
1919 196
1920 204
1921 250
Beerdigungen
Gerade im Todesfall klammert man sich gern an das
Vertraute, und so fiel es der neuen ErlÄsergemeinde
deutlich schwer, sich von dem bisherigen Friedhof
an der Heilands-Kirche zu lÄsen und an den neuen in Stahnsdorf zu gewÄhnen. War es doch
nun erforderlich, die Entschlafenen zum Bahnhof Halensee zu bringen; von wo sie dann in
besonderen Eisenbahnwagen nach Stahnsdorf transportiert wurden. „Zur Trauerfeier wird
die Leiche dann feierlich auf einem schwarz drapierten Leichenwagen vor dem hochliegenden
Altarraum der Kirche aufgebahrt und nach der Feier durch 6 LeichentrÅger, die eine der
Bergmannskleidung nachgebildete Uniform tragen, zum Ruheplatz geleitet.“
40
Wie die Tradition des gewohnten Bestattungsortes nachwirkte, zeigt sich darin, dass der
Groàteil der Bestattungen zunÉchst noch auf dem Heilands- oder Johannisfriedhof erfolgte.
WÉhrend sich die Gemeinde dann allmÉhlich umgewÄhnte, erscheint ein anderer Fakt erschreckender: die hohe Zahl der Kindersterblichkeit. Allein im ersten Zeitraum vom
01.08.1812 bis zum 30.11.1912, handelte es sich bei den 30 Verstorbenen um 16 Kinder.
Viele Åberlebten das erste Jahr nicht.
åber die Todesursache geben wiederum die KirchenbÅcher Auskunft, LungenentzÅndungen,
Tuberkulose, LebensschwÉche’ Åberwiegen in den Angaben. Auch bei den Erwachsenen fÅhren diese Krankheiten neben dem Schlaganfall die Tabelle an. WÅrde man Todesursache,
erreichtes Lebensalter, Beruf und Wohnadressen zusammenstellen, lieàen sich unschwer
Ursachen beispielsweise fÅr die vergleichsweise hohe Kindersterblichkeit ermitteln. Wenn
40
Kirchlicher Bericht fÅr 1913, S. 12.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
34
Ordnung des Festgottesdienstes zur „Weihe
unserer Ehrentafeln“ vom 09.10.1921.
Jahre spÉter Tillich ein Konzept des ‚religiÄsen Sozialismus’ entwickelte, so mochten die frÅhen Beobachtungen Åber den Alltag in Moabit mit prÉgend gewirkt haben.
Beerdigungen
Vergleicht man die Anzahl der ‚mit kirchlichen Akten’
Bestatteten, wie der Terminus in der offiziellen Statistik
heiàt, mit der Anzahl der Verstorbenen, so ist zu ersehen,
dass etwa 90 % die Dienste der Kirche in Anspruch nahmen.
Der HÄhepunkt an Beerdigungen fÉllt natÅrlich in die Zeit
1917/18 und die Jahre danach. Als sehr beeindruckend in
diesen ersten Jahren erscheint das sehr frÅhe Engagement
der ErlÄsergemeinde fÅr sozial Benachteiligte, das uns heute
unter dem Begriff ‚Laib und Seele’ vertraut ist.
Der 1. Weltkrieg
Die ersten Jahre, die fÅr die Gemeinde so hoffnungsvoll begannen, werden Åberschattet
durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges.
Als grÄàter Verlust fÅr die Gemeinde sind natÅrlich vor allem die vielen Menschenleben zu
werten, wie sie an von Professor Oetken angefertigten hÄlzernen KriegergedÉchtnistafeln fÅr
die Kirchenbesucher sichtbar wurden, die im Oktober 1921 als ‚Ehrendenkmal fÅr die Gefallenen der ErlÄsergemeinde’ eingeweiht wurden.
Oetken versah die vier Tafeln mit geographischen Hinweisen, wo
die ehemaligen Gemeindemitglieder gefallen waren, so dass
noch einmal die ungeheure Ausbreitung des ‚Weltkrieges’ vor
Augen gefÅhrt wurde:
Tafel I: Elsaà-Lothringen, Belgien Frankreich
Tafel II: Frankreich, Ostpreuàen, Russland
Tafel III: Russland, Galizien
Tafel IV (an der Kanzel): Galizien, Serbien, SiebenbÅrgen,
Kleinasien, RumÉnien, Mazedonien, Ukraine, Heimat.
Der Bund religiÄser Sozialisten protestierte
gegen eine Feier fÅr die Ehrung der Gefallenen.
Im Archiv der ErlÄserkirche fanden sich noch einige indirekte Hinweise auch auf materielle
Probleme, mit denen die Geistlichen zu kÉmpfen hatten:
1912 62
1913 112
1914 114
1915 117
1916 123
1917 140
1918 147
1919 128
1920 118
1921 99
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
35
Zum Andenken an Pfarrer Manger
(gestorben 13.07.1932).
Pfarrer der ErlÄsergemeinde von 1913-1931.
Am 01. September 1915 beispielsweise erwidert der GeschÉftsfÅhrende Ausschuss der Berliner Stadtsynode auf die Anfrage eines Gemeindekirchrates Åber die AusfÅhrung des Verordnung des Ober-Kommandos in den Marken vom 31. Juli 1915 Åber die‚ Beschlagnahme von
GegenstÉnden aus Kupfer, Messing und Reinnickel’ an die Kirchen, dass sie sich nicht in der
Lage sieht, die entsprechenden Maànahmen durchzufÅhren. Der jeweilige Gemeindekirchenrat mÄge selbst die Verordnungen in der Presse verfolgen und die notwendigen Anordnungen treffen.
41
Am 30. September erreicht den Gemeinde-Kirchenrat dann ein Schreiben mit dem Vermerk
‚Geheim’ aus dem ‚MetallbÅro’ im Stadthaus vom Magistratskommissar fÅr MilitÉrangelegenheiten mit der Aufforderung, dem Erlass des Herrn Ministers des Innern vom 10. September 1915, betr. ‚Bestandsmeldung und freiwillige Ablieferung von Dachkupfer u. s. w die
Aufforderung zu folgen: „die auf dem GrundstÉck verwendeten Kupfermengen, einschlieÇlich
der kupfernen Dachrinnen, Abfallrohre, Fenster- und Gesimmsabdeckungen, dem Reiche zum
Zwecke der Landesverteidigung freiwillig zur VerfÉgung zu stellen“.
42
FÅr den Fall, dass der Kirchgemeinderat dieser ‚Patriotischen Pflicht’ nicht nachgekommen
will, wird eine zwangsweise Ablieferung angedroht. Der handschriftliche Entwurf des Antwortschreibens ist erhalten: in ihm wird schlau vorgerechnet, dass die Kosten der EinrÅstung, um das Kupfer zu entfernen, hÄher sind als der Gewinn fÅr den Anfordernden. Diese
Situation wird sich noch einmal im Juli 1940 wiederholen.
43
Am 14. Oktober 1916 empfiehlt die Berliner Stadtsynode brieflich, „das Brennen der Altarwachskerzen ganz oder doch nach MÑglichkeit einzuschrÅnken“. Vorgeschlagen werden als
Ersatz elektrische Lampen am Altar, die die Gemeinde-KÄrperschaften zusammen mit KostenvoranschlÉgen beantragen sollen. Nach dem handschriftlichen Entwurf auf der RÅckseite
des Briefes wurde dieser Bitte nachgekommen.
41
Brief des GeschÉftsfÅhrenden Ausschusses der Berliner Stadtsynode an den ErlÄser-Kirchgemeinderat vom
1. Sept. 1915 In: Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte 1101
42
Brief aus dem ‚MetallbÅro’, Stadthaus, Der Magistratskommissar fÅr MilitÉrangelegenheiten an den
Gemeinde-Kirchenrat der ErlÄser-Gemeinde vom 30 Sept. 1915. In: Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte 1101.
43
Vgl. Brief vom 9.Juli 1940 von Pfarrer Streckenbach an den BezirksbÅrgermeister im Teil ‚Dokumente’.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
36
Kindergartengruppe 1924.
Die Festkleidung ist noch bestimmt von dem Geschmack der Kaiserzeit.
Erste Bauprobleme 1926
Die Kriegsverluste bleiben nicht die einzige Belastung in den Anfangsjahren. Auch am Kirchenneubau zeigten sich Probleme. Eigentlich musste es erstaunen, dass sich die Bauleute
an diesen komplizierten Grund gewagt hatten.
Zu Punkt vermerkt die handschriftliche Chronik der ErlÄsergemeinde:
„WÅhrend die Umfassungsmauern der Kirche fest und sicher auf den eingetriebenen BaumstÅmmen ruhten, wurde der FuÇboden ohne UnterstÉtzung auf den wiesigen Boden aufgelegt. Die Lasten drÉckten, bildeten Risse, der FuÇboden verwarf sich und sank ein. Am stÅrksten trat dies im Altarraum mit dem schweren Altarblock in Erscheinung. 15 cm war er gesunken und bildete so gefÅhrliche Risse, dass eine AbÅnderung unbedingt nÑtig war. Der Altar wurde abgebaut, ein UnterstÉtzungstrÅger von der Langseite zur Taufsteinseite, darÉber
drei KappentrÅger zur Hinterwand gezogen, die Kappen gewÑlbt, der Altar auf dieser Unterlage fest aufgebaut, Altarraum mit seinen Stufen wieder mit Travertin belegt.“
44
1926 musste aus dem gleichen Grund, so die Chronik, der Kirchenfuàoden erneuert werden,
wobei Pastor Schmidt bereits im April 1922 eindringlich auf die Gefahren durch den versackten Kirchenboden den geschÉftsfÅhrenden Ausschuss der Stadtsynode aufmerksam gemacht
hatte. Der detaillierte Kostenvoranschlag der Firma HUTA, Hoch- und Tiefbau Aktiengesellschaft belegt das Ausmaà der SchÉden und den Aufwand: 47 KirchenbÉnke aus dem Betonfuàboden lÄsen; Linoleum im Mittelgang lÄsen, Unterbeton mit darÅber liegendem Terrazzo-44
Nach dem Schriftbild von Pfarrer Schmidt rÅckwirkend geschrieben, denn nach einem kurzem historischen
Abriss notiert er die wichtigsten Ereignisse von 1914-1929 auf nur 1,5 Seiten. 1930 starb Schmidt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
37
Kindergartengruppe 1932.
Braune lange „Kratz“-StrÅmpfe, feste Schuhe und SchÅrzchen gehÄrten zur
Kinderkleidung.
Fuàboden herausbrechen, 320 qm Eisenbetonfuàboden in der Kirche bemessen fÅr eine
Nutzlast von 500 kg pro qm, BohrpfÉhle fÅr eine GesamtlÉnge von 225m bemessen, die Altarstufen entfernen u. s. w. Nach der Baugenehmigung durch die StÉdtische Baupolizei im
Juli 1926 konnte der Einbau der Eisenbetondecke zur Befestigung des Fuàbodens beginnen.
Die gesamte Erneuerung des Fuàbodens wird dann 17.50,34 Reichsmark kosten.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
38
NS-Zeit – VerdrÖngte Zeit?
„100 Jahre alt bin ich ja noch nicht…“
(Erinnerungen von KÖthe Piotrowski, Jahrgang 1932)
Interview von Edda Straakholder mit KÉthe Piotrowski
…aber trotzdem hat KÉthe Piotrowski, 1932 als KÉthe Nehring in Moabit geboren, viel aus
der Vergangenheit der ErlÄsergemeinde zu erzÉhlen:
Von ihrer Kindheit in der Kita der ErlÄsergemeinde mit Tante Gerda und Tante Bertchen, den
vielen Spielstunden im Freien auf dem sonnigen Kitahof, und den Kindergartenfahrten an die
Ostsee nach Zinnowitz. Von ihrer Schulzeit in der Gotzkowskyschule, MÉdchen und Jungen
getrennt in verschiedenen Trakten. Als Jugendliche nach dem Krieg begleitete sie den Pfarrer
mit einem groàen Akkordeon zur Adventsandacht, die er auf der Wullenweberwiese den
Bewohnern der sogenannten „NissenhÅtten“ hielt.
1947 wurde sie von Pfarrer Streckenbach konfirmiert, allerdings nicht in der ErlÄserkirche,
die damals ja zerstÄrt war, sondern im Gemeindesaal am Wikingerufer im ersten Stock.
Sehr genau ist ihre Erinnerung an die damaligen RÉumlichkeiten: der groàe Saal im ersten
Stock (heute Kitaraum II und Chorsaal) wurde nach dem Krieg bis zum Wiederaufbau der
Kirche als Gottesdienstraum genutzt. Mit einer KlapptÅr konnte er geteilt werden, aber
meistens war er so ÅberfÅllt, dass die Menschen noch stehen mussten, besonders bei den
Konfirmationen und Weihnachtsgottesdiensten.
Auch an die Adventsfeiern mit Kaffeetrinken im Saal erinnert sich Frau Piotrowski: „Der Saal
war immer rappelvoll“. Kantor Kurth begleitete die Gemeinde mit einem groàen Pedalharmonium, und da er ja dabei mit den FÅàen beschÉftigt war, musste der KÅster immer den
Blasebalg treten.
Bei Wiederaufbau traf der Gemeindekirchenrat dann eine weise und zukunftsfÉhige Entscheidung: der Raum unter der Empore der Kirche wurde abgetrennt und als neuer, etwas
grÄàerer Gemeindesaal eingerichtet, wÉhrend aus dem alten Gemeindesaal im ersten Stock
zwei schÄne helle unabhÉngige GemeinderÉume wurden.
Genau ist auch die Erinnerung von Frau Piotrowski an die Pfarrer der Kriegs- und Nachkriegszeit: an einen Pfarrer, fÅr den alles seine militÉrische Ordnung haben musste und der noch
fÅr „Kaiser und Reich“ war, oder an einen Pfarrer, der den Talar Åber seine SA-Uniform anzog! Und wieder ein anderer Pfarrer, der seine Konfirmanden so wenig bÉndigen konnte,
dass die Polizei kommen musste!
KÉthe Piotrowski lernte bei Kantor Johannes Kurth das Orgelspiel, keine leichte Sache nach
dem Krieg, wo nahezu alle Orgeln zerstÄrt waren, auch die Orgel in der ErlÄserkirche. Anfangs fuhren sie, solange die DDR es erlaubte, nach Stahnsdorf zum Unterricht, wo die Orgel
in der Friedhofskapelle noch spielbar war (Der Friedhof der ErlÄsergemeinde war ein Teil des
groàen Stahnsdorfer Friedhofs). Danach mussten sie zum Unterricht in die Dorfkirche Wei-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
39
àensee fahren! Alles in allem keine so gÅnstigen Bedingungen fÅr eine kirchenmusikalische
Ausbildung.
Trotzdem erhielt KÉthe Piotrowski 1952 die Kirchenmusikstelle in der benachbarten Reformationsgemeinde und legte ihr C-Examen und spÉter sogar ihr A-Examen ab. 1974 wechselte
sie nach St. Johannis, wo sie bis zu ihrem Ruhe-stand vor fast 18 Jahren blieb.
Folgerichtig erweiterte sich ihr Blick von der ErlÄsergemeinde auf die ganze Region Moabit
bzw. den Kirchenkreis Tiergarten-Friedrichswerder, wie er spÉter hieà.
Keiner ist soviel in dieser Region herumgekommen wie Frau Piotrowski, hat mit verschiedenen kleinen und groàen ChÄren in allen Kirchen der Region gesungen und auf allen Orgeln
gespielt, die ab den spÉten fÅnfziger Jahren auch hier in Moabit in fast allen Kirchen neu gebaut wurden. Vielleicht schreibt sie ja mal fÅr uns eine „Moabiter Kirchenmusikgeschichte“?
„Beschwerden Åber Geistliche und Kirchenbeamte der ErlÄserkirche von
1934“
(7.9.1932-9.3.1934)
Von Wolfgang Massalsky
Die Kirche in ihrem sozialen Umfeld im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Zum besseren VerstÉndnis der sozialen VerhÉltnisse jener Zeit im Raum Moabit, also nicht
nur bezogen auf die ErlÄserkirchengemeinde in ihren damaligen Grenzen, schicke ich folgende Bemerkungen voran: Eine Gesamtdarstellung der Lage der evangelischen Kirche in
Moabit ist mir bei innerkirchlichen Recherchen leider nicht bekannt geworden.
Moabit galt vor dem 1. Weltkrieg politisch als rot. Die Mehrzahl der Menschen waren Arbeiter und kleine Angestellte, darunter auch viele GeschÉftsleute; natÅrlich gab es auch Beamte, ârzte, Optiker, Lehrer, Justizangestellte u. É. Im Gemeindekirchenrat der ErlÄserkirchengemeinde waren anscheinend keine Arbeiter vertreten, dafÅr war die hÄhere und mittlere Beamtenschaft gegenÅber der WohnbevÄlkerung ÅberreprÉsentiert.
Viele Arbeiter-Gruppen Moabits, die fÅr ihre Interessen auf die Straàen gingen, kamen aus
der SPD oder verstanden sich als ihre VerbÅndete. Manche Komitees waren selbst organisiert oder standen linken Gruppierungen nahe, die sich von der SPD absetzten, gewiss war
auch die KPD bis zu ihrem Verbot durch einzelne Kampfzellen dort aktiv, aber ohne besonderen Einfluss auf die Mehrheit der BevÄlkerung. Erkenntnisse Åber das Moabiter Wahlverhalten bei den verschiedenen Wahlen z. B. zum Reichstag liegen mir allerdings nicht vor.
Neben klassenbewusstem Arbeiter-„Adel“ gab es viel KleinbÅrgertum und viele orientierungslose, insbesondere nach dem 1. Weltkrieg in krasse Armut fallende BevÄlkerungsteile,
die trotzdem keine „linken“ Positionen vertraten, sondern eher konservativ eingestellt
waren, vielleicht auch in Hitler ihre einzige Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebenssituation
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
40
sahen. Vor allem in der Zeit der schweren Wirtschaftskrise suchten sie Åberall nach Hilfe, um
ihr åberleben zu sichern. Daher wandten sich viele Menschen wieder an die Kirche und ihre
diakonischen Einrichtungen um Hilfe.
Eine „Soziologie“ der Levetzowstraàe, in der auch jÅdische Familien lebten (die wohl alle bei
den hier zusammengestellten Trupps waren, die in die Vernichtungslager deportiert wurden), unweit einer Kohlenhandlung und der erst nach dem 2. Weltkrieg abgerissenen jÅdischen Synagoge, sowie der Huttenstraàe mit ihren Fabriken und den oft elenden ArbeiterWohnquartieren, steht bisher aus. Zur Erinnerung an diese TragÄdie steht heute auf dem
Baugrund der Synagoge Ecke Jagowstraàe ein Eisenbahnwaggon mit zusammengepressten
Menschenpaketen aus Stein. Wie es heiàt, war es nicht einfach, dieses Denkmal der BevÄlkerung schmackhaft zu machen, weil der dort vorhandene Spielplatz gegen den Willen vieler
Jugendlicher und ihrer Eltern verkleinert werden musste. Einige unserer Zeitzeugen haben
mir noch vor 10 Jahren darÅber berichtet, was fÅr Menschen dort lebten und wie sie mit
ihnen auskamen.
Anscheinend gab es in unserem Gemeindebereich (auch ohne den Charlottenburger Teil)
eine stark konservative Grundstimmung ohne festes politisches Profil, daher wohl auch fÅr
die NS-Ideologie anfÉllig, auch religiÄs wenig ausgeprÉgt (im Gegensatz etwa zur Reformationsgemeinde wÉhrend der Amtszeit von Pfarrer GÅnther Dehn). Viele standen in den zwanziger Jahren in einer eher traditionellen Beziehung zur Kirche als einer wichtigen gesellschaftlichen Institution, die vor allem durch ihre Taufen und Konfirmationen in die breite
Masse hineinwirkte.
Die Erwachsenenarbeit in der ErlÄserkirchengemeinde bestand regulÉr in einem Frauenkreis
und in einer Gruppe von Ehrenamtlichen, zu denen auch die GKR-Mitglieder gehÄrten. Besondere Veranstaltungen erweiterten das Publikum. Die Kirchengemeinde hatte im Prinzip
kein anderes „Klientel“ als andere gesellschaftliche Organisationen auch. Darum war das
Einsickern nationalsozialistischer Ideologie in die Gemeindekreise nicht von vornherein zu
verhindern.
Zwar gab es noch ein relativ starkes Volkskirchentum, das auch von der Arbeiterschaft – jedenfalls von den Arbeiter-Frauen – bei aller Kirchenferne groàenteils durchaus bejaht wurde.
Aber da die Mehrzahl der Kirchengemeinden in Moabit offensichtlich mehr in den Kategorien von ZugehÄrigkeit und Amtshandlungen als in den Kategorien einer (lebenslangen)
Glaubenserziehung dachte und die Gemeinden darÅber hinaus wegen der Trennung von Kirche und Staat fÅr politisches Handeln kein Mandat besaàen, war ihre Stellung zu den sich
abzeichnenden „revolutionÉren“ VerÉnderungen alles andere als einfach. An offenen Widerstand war nicht zu denken, wenn schon vorsichtige Kritik an den im Rahmen der „Machtergreifung“ der NSDAP 1933 in der Kirche selbst einsetzenden VerÉnderungen nur ârger
brachte.
Zwei Frauen, die ich zum 90jÉhrigen JubilÉum besuchte, hatten jÅdische Freundinnen und
Bekannte, die irgendwann aus ihrem Gesichtskreis verschwanden. Man munkelte manches,
aber etwas Genaues Åber ihren Verbleib wusste man nicht. Ratlosigkeit und Angst darÅber,
was aus diesen Menschen wurde, waren die Folge, aber kein Widerstand. Die gemeindeinternen Auseinandersetzungen, in die Pfarrer Walter Streckenbach (Gemeindepfarrer in
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
41
„ErlÄser“ von 1931-1952) Åber einen lÉngeren Zeitraum verwickelt war, veranschaulichen
streiflichtartig die schwierige Situation der Kirche in diesem gesellschaftlichen Umfeld.
a) Der Streit zwischen Streckenbach und Pohlmann
Die Auseinandersetzungen des GKR und speziell von Pfarrer Streckenbach mit Heinrich
Pohlmann ziehen sich eine ganze Weile hin. Sie beginnen schon vor der MachtÅbernahme
Hitlers. Ihren Gipfel fanden sie 1934 in der konsistorialen Behandlung der Beschuldigung von
Herrn Pohlmann, der damals Gemeindejugendhelfer war und auch andere Dienste in der
Gemeinde verrichtete und der behauptete, Streckenbach habe von dem inzwischen eingesetzten Reichsbischof Ludwig MÅller als von „diesem Fatzke“ gesprochen. Gegen diesen
Vorwurf, der zur Vorladung in das Konsistorium und zu einer Befragung von Herrn Streckenbach durch Oberkonsistorialrat Gruhl fÅhrte, wehrte sich jener mit einer Gegendarstellung,
in der er vor allem die VertrauenswÅrdigkeit seines Gegners zu erschÅttern suchte.
Pohlmann wird darin als jemand geschildert, der Mitglied der Deutschen Christen war, aber
inzwischen aus der „Bewegung“ ausgetreten sei (andererseits in fÅhrender Stellung in der
„HJ“ = Hitlerjugend und „Pg“ = Parteigenosse war) und, weil er aufgrund bestimmter Vorkommnisse, die hier nicht anzufÅhren sind, seinen Arbeitsplatz in der Gemeinde zu verlieren
fÅrchtete, „die Mitglieder der Deutschen Christen im Gemeindekirchenrat fÅr sich zu gewinnen“ versuchte. Pohlmanns Denunziation sollte demzufolge seine Stellung in der Gemeinde
festigen helfen, hatte aber durch die entschlossene Gegenwehr Streckenbachs nicht den
gewÅnschten Erfolg. Andererseits hatte die von Streckenbach betriebene Entlassung Pohlmanns aus dem ArbeitsverhÉltnis in der Gemeinde (bis zu diesem Zeitpunkt) ebenfalls keinen Erfolg.
Eine âuàerung Streckenbachs deutet auf ein gespanntes VerhÉltnis zu Pfarrer Kornrumpf
hin, seinem damaligen Amtsbruder in der Gemeinde, den er offenbar im Verdacht hatte,
Åber das Vorgehen Pohlmanns im voraus informiert gewesen zu sein. Streckenbach erwÉhnt
in seinem Brief an das Konsistorium, dass Pohlmann gegenÅber einer Konfirmanden-Mutter
in der NS-Volkswohlfahrt in der Elberfelder Straàe geÉuàert hÉtte, dass „Pfarrer Streckenbach ... demnÉchst (fliegt) und dass sie bereits „Ersatz fÅr ihn“ hÉtten. DafÅr zur Rede gestellt, habe Pohlmann Streckenbach geantwortet, dass diese ihm zugeschrieben âuàerung
nur von einem „katholischen Mitarbeiter“ der dortigen GeschÉftsstelle stammen kÄnne (und
also falsch sei?).
Streckenbach vermutet in seinem Schreiben, dass es nationalsozialistische Kreise in der Gemeinde gebe, die seine Entlassung oder Abberufung betrieben. So weist er auf bereits im
Herbst 1933 durchgefÅhrte Werbeaktionen fÅr die Gruppe der Deutschen Christen hin. Auch
damals sei bereits von seinem baldigen „Verschwinden“ die Rede gewesen. Dazu kÉmen
entsprechende Eingaben eines ehemaligen Justizinspektors Lange. Dieser mÅsse ihn inzwischen hassen, weil er sich nicht den Deutschen Christen angeschlossen habe.
Zur Sache gibt allerdings Streckenbach zu, das er mit bestimmten „Maànahmen des Herrn
Reichsbischofs nicht einverstanden war“ und deswegen auch mit Herrn Pohlmann Åber seine
diesbezÅglichen Sorgen gesprochen habe, wenn auch mehr am Rande, da die verschlechterten Beziehungen zu Pohlmann mehr auch gar nicht aus seiner Sicht zulieàen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
42
TatsÉchlich kam Pfarrer Streckenbach mit einem Verweis von Seiten des Konsistoriums davon, da es keine Zeugen gegeben habe und die VorwÅrfe somit nicht erwiesen seien. Er
wurde aber ermahnt, sich kÅnftig in diesen Dingen ZurÅckhaltung aufzuerlegen. Eine „disziplinÉre Bestrafung“ kÄnne es jedoch nicht geben.
Aufs Ganze gesehen kann man aber die Position gegenÅber den nationalsozialistischen
Deutschen Christen einerseits und der Bekennenden Kirche bzw. dem Pfarrer-Notbund andererseits, die von Herrn Pfarrer Streckenbach eingenommen wurde, durchaus als widersprÅchlich bezeichnen:
1. scheint es beispielsweise zwischen Herrn Pohlmann und Herrn Streckenbach keinen Gegensatz in Sachen Jugendarbeit gegeben zu haben, „da auch Herr Pfarrer Streckenbach ... die
Eingliederung der evangelischen Jugend in die HJ nicht nur nicht bekÉmpft, sondern im Gegenteil schon seit dem vorigen Jahr angestrebt und bereits im August 1933 durchgefÅhrt
hat“, wie OKR Gruhl feststellte.
2. beschreibt sich Pfarrer Streckenbach selbst als „deutschen Mann“, dessen Gesinnung und
Lauterkeit im Sinne nationaler Ehrbegriffe untadelig sei, und seine Verbindung zum MilitÉr
als Divisionspfarrer a. D. und Friedens-Reserveoffizier soll ihn offenbar vor dem Vorwurf
falscher Gesinnung, den Pohlmann gegen ihn erhebt, schÅtzen.
3. Andererseits kann ihn diese Einstellung anscheinend auch zu Åbertriebenen Reaktionen
veranlassen. Herr Rottke (siehe unter c) 1.) erhebt im Nov. 32 VorwÅrfe gegen Pfarrer Streckenbach, VorwÅrfe des Inhalts, dieser habe nicht nur bedauerlicherweise bestimmte Verhaltensweisen Pohlmanns, gegen die sich Rottke verwahrte, gebilligt, er habe darÅber hinaus
ihm, Rottke, sogar noch ein „paar Ohrfeigen“ angedroht. Man wird Pfarrer Streckenbach
nach heutigen Kriterien nicht eben als verstÉndnisvoll gegenÅber solcher dem Betreffenden
aus seiner Sicht offenbar nicht zustehenden Kritik beurteilen kÄnnen, sondern eher als autoritÉr einzuschÉtzen haben.
4. wird in der kirchengeschichtlichen Literatur verschiedentlich darauf hingewiesen, dass
Streckenbach eine Gruppe Berliner Pfarrer reprÉsentiere, die einen vermittelnden („dritten“)
Weg zwischen DC (Deutsche Christen) und BK (Bekennende Kirche) zu gehen versucht habe,
und deswegen sogar von Vertretern der BK als VerrÉter attackiert wurde. Diese Entwicklung
muss allerdings erst 1936 und 1937 stattgefunden haben.
b) Verlesung einer ErklÖrung von Streckenbach nach dem Gottesdienst
Als Pfarrer Streckenbach Äffentlich gegen den Herrn Reichsbischof Anfang Januar 1934 polemisierte und ihm das Vertrauen entzog, wurde er allerdings mit Schreiben des Konsistoriums vom 25.01.1934 disziplinarisch gemaàregelt. Konkrete Konsequenzen sind jedoch unbekannt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
43
Walter Streckenbach.
Pfarrer in der ErlÄsergemeinde
von 1931-1952.
Zuvor war dem Herrn Reichsbischof von der „Glaubensbewegung („Glauben“ durchgestrichen) Deutsche Christen“ Åber diesen Vorgang Bericht erstattet worden. Diesen Akten liegt
ein handschriftlicher Brief des Vertreters des „Gemeindegruppenleiters“ der ErlÄsergemeinde an den Gauobmann Pfarrer Tausch in Tempelhof
bei, wonach Streckenbach den damals Åberall
„bekannten Aufruf des Pfarrer-Notbundes im
Gotteshause“ verlesen habe. Dieser Brief endet mit der
Aufforderung an das Konsistorium, nunmehr endlich zu
handeln:
„Da wir Deutsche Christen nach diesem Vorfall dem
Pfarrer. Streckenbach unser Vertrauen nicht mehr schenken kÑnnen, bitte ich das ev. Konsistorium, Herrn Pfarrer
Streckenbach zur Rechenschaft zu ziehen.“
In einer Nachschrift dazu heiàt es, gegen die „fortdauernden Entgleisungen“ des Herrn Streckenbach
mÅsse das Konsistorium nun endgÅltig einschreiten.
Derartige „Diffamierungen der Deutschen Christen“
seien nicht lÉnger zu ertragen. BefÅrchtet werde, dass
andernfalls die Gemeindegruppe der Deutschen
Christen wegen offenkundiger Wirkungslosigkeit „zerfÉllt“. Die VerÉchter der „AutoritÉt“ dÅrften nicht lÉnger
ungeschoren amtieren. Schluss-Resumáe: „Pfarrer von
einer derartigen Auffassung sind selbstverstÉndlich
untragbar. Daher raus mit ihnen. Heil Hitler Lange,
Justizinspector i. R.“
c) Auseinandersetzungen um soziale Ungerechtigkeiten in der Gemeinde
1. So wurde April 32 der von Pohlmann geleiteten „Arbeitsgemeinschaft fÅr Erwerbslose der
ErlÄsergemeinde“ durch Herrn Rottke der Vorwurf gemacht, Honorare fÅr arbeitslose Berufsmusiker anlÉsslich eines Karfreitagskonzerts unter Leitung von Herrn Kurth entgegen der
Verabredung nicht ausgezahlt und sogar die Gesamtabrechnung noch nicht vorgelegt zu haben. Auàerdem wird ihm GÅnstlingswirtschaft bei Warenverteilung und anderer UnterstÅtzungsleistungen an die Erwerbslosen vorgeworfen. Man beanstandet, dass man in diesen
Dingen zunehmend vom Wohlwollen des Herrn Pohlmann abhÉngig geworden sei, so dass
inzwischen nur die UnterstÅtzung zuteil werde, „der bei Herrn Pohlmann gut angesehen sei“.
Der BeschwerdefÅhrer wÅnscht Herrn Pohlmann, einmal ein Dreiviertel-Jahr als Stellungloser zu leben, damit er merkt, wie sich das anfÅhlt.
Ein gemeindeinterner Untersuchungs- und Vermittlungsausschuss hat allerdings keinen
Grund gesehen, hier von einer Pflichtverletzung zu sprechen, kommt aber dennoch zu dem
Schluss, dass Pohlmann „nicht der fÅr unsere Gemeinde geeignete Mann sei“.
2. Zu einer Éhnlichen Beschwerde ist es im November 32 sogar gegen Herrn Streckenbach
selbst gekommen. Ein Herr Liefe (Schreibweise unleserlich) suchte Herrn Streckenbach auf
wegen GewÉhrung einer Miethilfe, da er kriegsbeschÉdigt sei und Åber keinen regelmÉàigen
Verdienst verfÅge und von seiner Frau, die als Reinemachefrau im Krankenhaus Moabit ar-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
44
beite, ernÉhrt werde. Er bat auàerdem um einen Zentner Winterkartoffeln. Streckenbach
hÄrte ihn aber wohl gar nicht an und lieà ihn auch nicht in seine Wohnung. Er habe, so entgegnete ihm Streckenbach, Åber seine Frau einen auskÄmmlichen Verdienst und kÉme daher
fÅr die Winterhilfe nicht in Frage. Dazu sollen die Worte gefallen sein, dass in einer Sitzung
(des GKR?) beschlossen worden sei, die „unsauberen Elemente“, die „die Kirche aussaugten“, nicht mehr zu berÅcksichtigen. Dagegen verwahrte sich Liefke. Seine Drohung, er
kÄnne ja aus der Kirche austreten, hat Streckenbach in seiner Ablehnung nachtrÉglich noch
bestÉrkt.
Zu Pfarrer Kornrumpf liegt keine Akte vor, gerÅchteweise wurde kolportiert, dass er stÉrker
mit den Deutschen Christen und der NS-Ideologie sympathisiert habe, dass er also als Antipode von Pfarrer Streckenbach zu gelten habe. In der Beschwerdeakte gibt es jedoch keinen
gesonderten Vorgang Åber ihn.
d) Die Lage der Gemeinde vor und um 1933
Ein differenziertes Bild kann hier nicht gezeichnet werden (siehe den Beitrag von Frau Dr.
MÅns und das Interview mit Frau Piotrowski). Aus pastoraler Sicht kann wohl nur soviel gesagt werden:
Sie war in jener Zeit offensichtlich stark obrigkeitlich geprÉgt. Auch innerhalb der Gemeinde
gab es eine strenge Hierarchie. Nach dem Pfarrer kommt eigentlich lange nichts. Eine Gemeinde von BrÅdern und Schwestern ist hier noch nicht konkret greifbar. Deutschnationale
Pastoren scheinen fÅr die Probleme der Menschen an der Basis nicht immer das richtige GespÅr gehabt zu haben. Gemeindearbeit ist Åberwiegend Verwaltungshandeln, Predigtdienst,
Unterweisung von Konfirmanden sowie Amtshandlungen. Die Gemeindeglieder sind in dieser Perspektive vornehmlich als Objekte gesehen worden, die immer etwas brauchen und
die Kirche in erster Linie als Sozialagentur ansehen, soweit sie nicht nur stille Gottesdienstbesucher waren.
Andererseits zeigt gerade das Verhalten von Pfarrer Streckenbach gegenÅber der allmÉhlichen Unterwanderung der Kirche durch deutschchristlich eingestellte Menschen eine schon
frÅhzeitig einsetzende Abwehrbereitschaft, die in der Gemeinde jedoch mehr toleriert als
aktiv unterstÅtzt wurde. Dabei ist Pfarrer Streckenbach durch seinen spÉteren Kurs offenbar
mehr oder weniger zwischen die eigentlichen kirchenpolitischen Fronten in der evangelischen Kirche (DC und BK) geraten. Dennoch verdient sein entschiedenes Handeln gegen das
Deutschchristentum in der Anfangszeit allen Respekt. Die åberfÅhrung der evangelischen
Gemeindejugend in die HJ war allerdings ein strategischer Fehler. Ob er sich auch dieser
Entwicklung konsequenterweise hÉtte entgegenstellen mÅssen und warum das nicht geschah, ist mir nicht bekannt. Vielleicht befÅrwortete der GKR diese beschleunigte Eingliederung der evangelischen Jugend in die „HJ“.
Quellen: Akten aus dem Landesarchiv der evangelischen Kirche und aus dem Konsistorium
SekundÉrliteratur: Annemarie Lange, Das wilhelminische Berlin, 1967
RÄhm/Thierfelder, Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz, 1981
Zum besonderen Weg Streckenbachs siehe die im Internet /Google BÅcher unter „Walter
Streckenbach BK“ angegebene Literatur
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
45
Aus der Zeittafel
Was die Nachrichten in den Unterlagen bei ‚ErlÄser’ Åber diesen Zeitraum anbelangt, so
waren die damaligen Verantwortlichen offenbar bestrebt, Unterlagen zu vernichten. WÉhrend etliche maschinenschriftliche Abschriften einer Chronik vorliegen, die den Zeitraum von
1931 bis 1939 komplett auslassen, vergaà man offenbar ein Blatt in einer Akte, das Fakten
nennt, oder man wollte es da verstecken. Die wichtigsten Daten mÄgen hier unkommentiert
folgen:
1931
17. Mai:
EinfÅhrung des Pfarrers Walter Streckenbach in die bisherige erste Pfarrstelle durch Superintendent Konsistorialrat D. Rosenfeld.
28. April:
Wahl des Pfarrers Erst Kornrumpf aus Danzig in die bisherige zweite Pfarrstelle der ErlÄsergemeinde
28. Juni:
EinfÅhrung des Pfarrers Ernst Kornrumpf in die bisherige zweite Pfarrstelle durch Superintendent Konsistorialrat D. Rosenfeld.
1932
13. Juli:
Pfarrer i.R. Martin Manger im Martin-Luther-Krankenhaus verstorben.
13. November:
Neuwahl des Gemeindekirchenrates und der Gemeindeverordneten. 1009 wahlberechtigte
Gemeindemitglieder haben ihre Stimme abgegeben. Liste „FÅr Evangelium und Volkstum“
erhielt 736 Stimmen und somit 13 Sitze im Gem. Kirchenrat und 35 Gemeindeverordnete;
Liste „Deutsche Christen“ erhielt 268 Stimmen und 5 Sitze im Gem. Kirchenrat und 3 Gemeindeverordnete.
23. November:
10jÉhriges Stiftungsfest der Evangelischen Frauenhilfe
1933
15. Januar:
EinfÅhrung der neu gewÉhlten Gemeindevertretung
26. Juni:
AuflÄsung der aus kirchlichen Wahlen hervorgegangenen Organe, also auch der GemeindekirchenrÉte und Gemeindevertretungen.
29. Juni:
Pfarrer Kornrumpf ernennt Reichsbahnbeamten Augustin und Syndikus Dr. Grawinkel zu BevollmÉchtigten der Gemeinde.
2. Juli:
Einzige Sitzung der BevollmÉchtigten. Wichtigster Beschluss: Die Schriftleitung des Gemeindeblattes wird einstimmig Pfarrer Kornrumpf Åbertragen.
21. Juli:
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
46
Pfarrer Streckenbach Åbernimmt wieder die GeschÉfte
23. Juli:
Neuwahl der KÄrperschaften. 2202 gÅltige Stimmen; davon 1430 fÅr „Deutsche Christen“
und 772 fÅr „Evangelium und Kirche“. GewÉhlt sind mithin 12 Deutsche Christen und 6 von
„Evangelium und Kirche“ zu âltesten, 31 Deutsche Christen und 7 von „Evangelium und Kirche“ zu Gemeindeverordneten.
30. Juli:
EinfÅhrung der NeugewÉhlten im Hauptgottesdienst.
1934
15. April:
Pfarrer Streckenbach wird die GeschÉftsfÅhrung durch VerfÅgung des Propstes Eckert entzogen und Pfarrer Kornrumpf Åbertragen.
1935
1.Januar:
Stud. theol. Joachim GÄrke tritt als nebenamtlicher Jugendwart in den Dienst der Gemeinde.
1936
15. Januar:
Pfarrer Streckenbach Åbernimmt wieder die GeschÉftsfÅhrung gemÉà VerfÅgung des Konsistoriums.
1936: ErlÄser feiert ihr 25jÖhriges JubilÖum
Ihr 25jÉhriges JubilÉum konnte ErlÄser am 10. Mai 1936 feiern. In diesem Vierteljahrhundert
hatte die Gemeinde mehrere Wechsel und gesellschaftliche UmwÉlzungen erlebt wie den
Sturz der Monarchie, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Weimarer Republik und die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Die vorliegenden Fassungen der Chronik geben diese
BrÅche nicht immer wider, auf 1913 folgt hier 1936. åber das JubilÉum wird berichtet:
„Der Dank- und Festgottesdienst anlÅsslich des 25jÅhrigen Bestehens der Kirche am Sonntag
Kantate nahm einen recht feierlichen und wÉrdigen Verlauf. Beim Klang der Glocken schritten
die Mitglieder des Gemeindekirchenrates, die den Superintendenten geh. Konsistorialrat D.
Rosenfeld, den Vertretern des Pfarrministeriums der Heilandsgemeinde Pfarrer MÑller und
des Konsistoriums und die andren EhrengÅste – ãltester der Heilandsgemeinde, Rektoren und
Lehrer der im Gemeindebezirk liegenden Schulen, Vertreter der Presse- geleiteten, vom Gemeindesaal zu Kirche; als sie das Gotteshaus, das Fahnenschmuck angelegt hatte, und dessen
Eingang mit Tannengirlanden geschmÉckt war, erhob.
45
1937-1942 FÅr diesen Zeitraum gibt es in der Chronik von ErlÄser keine Angaben!
45
Maschinenschriftliche Chronik, Verf. Unbekannt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
47
25 Jahre ErlÄserkirche
Ordnung zum Dank- und Festgottesdienst
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
48
Die Synagoge in der LevetzowstraÑe, Ecke JagowstraÑe. Einweihungsfeier 1914 (oben).
Am 09.11.1938 von den Nazis angezÅndet, ab 01.10.1941 als Sammellager fÅr Deportationen missbraucht und
1955 abgerissen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
49
Titelblatt eines Gemeindebriefes von 1936.
ãber das 25jÖhrige JubilÖum der ErlÄserkirche wird auch im Gemeindeblatt berichtet.
Bildgestaltung und Schriftbild, lassen die NÖhe zur verordneten Staatskultur erkennen.
Keine ErwÉhnung finden beispielsweise die Ereignisse vom 9. November 1938, als die Synagoge in der Levetzow-Straàe von den Nazis angezÅndet wurde und teilweise ausbrannte.
Keine ErwÉhnung finden die Deportationen jÅdischer MitbÅrger, obwohl dieses Geschehen
von den Berlinern miterlebt wurde, denn die Synagoge lag an einer belebten Kreuzung in
Nachbarschaft von Schule und Post.
„Mit all diesem Geschehen ist letztlich auch unser christliches Herkommen auf das Tiefste
verletzt worden Vielleicht war es Angst, die das schweigend mit ansehen lieÇ. Sicher war es
auch die infame antisemitische Propaganda, der viele Menschen Glauben schenkten, resÅmierte Pfarrer Karl Ernst Kleiner 1986 im Gemeindeblatt zum 75jÉhrigen JubilÉum.
In den Unterlagen fanden sich lediglich Hinweise, die die ErlÄserkirche direkt betreffen wie
ein Brief vom 15.Mai 1942. Darin teilt die Turmuhren-Fabrik C.F. Rochlitz mit, “dass mir von
den BehÄrden trotz Einspruchs und entgegen meinen Erwartungen weitere ArbeitskrÉfte fÅr
den MilitÉrdienst abgefordert sind, so dass ich leider auàer Stande bin, die Wartung Ihrer
Turmuhr weiter auszufÅhren.“ Er schlÉgt vor, den Wartungsvertrag bis zum Ende des Krieges
ruhen zu lassen und: Ich bin auch bereit, Ihre Uhr ohne Berechnung auf 12 zu stellen und anzuhalten und bitte um Nachricht, falls Sie das wÉnschen.
46
Mit deutschem Gruà
C. Rochlitz
Allein die Gruàformen in den Briefen, aber auch die
Bildgestaltung in den Printmedien wÉhrend des
Nationalsozialismus lassen Gesinnung, aber auch
ZwÉnge erahnen, denen auch die Kirche ausgesetzt
war.
Die Ariernachweise, die von der NSDAP den
Betrieben und âmtern abverlangt wurden,
brachten die Kirche in einen Zwiespalt: Einerseits
mussten sie die erforderlichen Informationen aus
den KirchenbÅchern zur VerfÅgung stellen,
andererseits unterstÅtzten sie damit indirekt das
Nazi-Regime. Die Fragen nach Sekten am 13.
September 1933 konnten unsere Pfarrer verneinen
(vergleiche Dokumente zur Kirchenstatistik im
Anhang).
46
Akte: Uhr.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
50
Blick Åber den Kirchhof auf die zerstÄrte Kirche. Nach dem Luftangriff vom 01.03.1943.
ZerstÄrung und Wiederaufbau
ZerstÄrung und Folgen des Krieges:
„ Vieles wiederholte sich vom 1. Weltkrieg. Die MÅnner der Gemeinde zogen ins Feld und die
Gemeinde kam weiter zusammen, treuer als bisher und betend fÉr die eingezogenen Soldaten… Und doch war manches anders, schlimmer als im 1. Weltkrieg. Da waren die Luftangriffe. Die Glocken durften nur noch selten und sehr kurz gelÅutet werden. Die Abendveranstaltungen mussten vorverlegt werden oder ganz ausfallen, da die Kirche nicht verdunkelt
werden konnte. ZunÅchst blieb die Gemeinde vor schweren Angriffen und ZerstÑrung bewahrt.
Am 1. MÅrz 1943 aber kam der GroÇangriff auf Moabit. áberall in der Gemeinde, Wikingerufer, ZinzendorfstraÇe, LevetzowstraÇe, JagowstraÇe, Solinger StraÇe, Alt Moabit, in der Fabrik von LÑwe brannte es. Auch in unserer Kirche war ein Brandherd, der aber bald gelÑscht
werden konnte, da eine Reihe von Helfern aus der Gemeinde zur Stelle war. Am Ende dieses
GroÇangriffes waren allein in der Schule LevetzowstraÇe Éber 200 Obdachlose untergebracht.“
47
Am 22. November 1943 zerstÄrte ein Luftangriff die ErlÄserkirche; sie brannte total aus.
48
Auch die Wohnungen der Pfarrer wurden vernichtet, viele Tote waren zu beklagen. Die Kita
wurde geschlossen. Ein erneuter Angriff am 4. Oktober 1943 fÅhrte zu SchÉden am Gemeindehaus. Pfarrer Kornrumpf zog nach Ostpreuàen. Nach seiner RÅckkehr im Juni 1944 Åbernahm er eine Pfarrstelle in Oranienburg. So musste Pfarrer Streckenbach, der mit seiner Frau
wegen Unbewohnbarkeit der Wohnung nach SchÄneberg gezogen war, zwei Gemeinden,
47
1911-1961. 50 Jahre ErlÄserkirche. Ungedr. Typoskript, S. 10.
48
Vgl. Bericht im Anhang: Dokumente.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
51
Die zerstÄrte Eckkirche in den 50er Jahren. Gut zu sehen sind das Kleist-Gymnasium und im
Hintergrund die ausgebrannte Synagoge. Bis zum Wiederaufbau war die EingangstÅr der
ErlÄserkirche zugemauert, um Vandalismus zu verhindern.
ErlÄser und Reformation betreuen. Im September 1947 konnte er wieder in das Gemeindehaus einziehen.
Am 01. Oktober 1946 begann Pfarrer SchÄtz zunÉchst kommissarisch seinen Dienst bei der
ErlÄsergemeinde. Inzwischen war die ErlÄsergemeinde auf 6.700 Seelen geschrumpft, so
dass sich die Gemeinde als zu klein fÅr 2 Pfarrstellen erwies und Pfarrer SchÄtz noch die
Seelsorge im Virchow-Krankenhaus Åbernahm. Der Kindergarten Äffnete wieder ab dem. Juli
1949. Die Gottesdienste mussten seit 1944 am anderen Ort, in einem Zimmer der Schwesternstation, dann in einem nahe gelegenen Casino stattfinden, dennoch schÉtzte man den
Besuch der Gottesdienste als gut ein. Zur ErlÄsergemeinde gehÄrten inzwischen wieder etwa
9.200 Mitglieder, deren erstes Anliegen es war, die zerstÄrten GebÉude wieder zu errichten.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
52
Innenansichten der zerstÄrten
ErlÄserkirche.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
53
Die Nachkriegszeit
Neue behÄrdliche Strukturen, eine neue Stadtverwaltung, entstanden nach der Teilung der
Stadt Berlin. Die verÉnderte Situation wird in den Akten schlagartig an der Betonung der
West-WÉhrung bei allen Rechnungen bewusst. Mit Hilfe eines Schuldendarlehens von der
Altersversorgungskasse der DiakonissenmutterhÉuser wurde zunÉchst ein Teil der Pfarrwohnung Kornrumpf fÅr den KÅster und seine Frau bewohnbar gemacht. 1947 konnte auch Pfarrer Streckenbach wieder in das Gemeindehaus einziehen.
Das Jahr 1950 und weitere Jahre danach sind generell geprÉgt von dem BemÅhen, Anleihen
und Kredite zu erhalten. So leiht beispielsweise die Stadtsynode 1500 DM West zur Wiederherstellung der Dachrinnen und Abfallrohre. Die StÉdtische Sparkasse Berlin bewilligt eine
Anleihe von 2000 DM West zur Instandsetzung des Glockenturmes, Geld, das von ErlÄser zur
HÉlfte verzinst werden muss, die andere HÉlfte wird von der Stadtsynode Åbernommen.
Dennoch bot die Kirchenruine immer noch einen trostlosen Anblick. Mittel mussten
beantragt werden, um Fenster und TÅren zuzumauern, da der Kirchenraum zum Abfallort
verkommen war. Aber es gab auch schon Hoffnung machende Tage wie den 26. MÉrz, an
dem erstmals die Glocken wieder erklangen. Und ein Jahr spÉter begannen dann tatsÉchlich
erste Arbeiten, zunÉchst am Gemeindehaus. Das Turmuhrwerk konnte von der Firma C.F.
Rochlitz wieder eingesetzt werden.
Pfarrer Streckenbach war am 31. MÉrz 1952 in den Ruhestand getreten. Um seine Nachfolge
bewarben sich acht Kandidaten(!). Zum Nachfolger wurde am 12. September 1952 Pfarrer
Fritz Helbig aus Berlin-Pankow gewÉhlt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
54
Der Wiederaufbau beginnt
49
„AuÇerdem mÉssen wir betonen, dass die Gemeinde unbedingt ein Gotteshaus benÑtigt,
wenn nicht in ihr eine Generation heranwachsen soll, die eine Kirche von innen niemals kennengelernt hat. “
50
Als erste Maànahme gewÉhrte der Stadtsynodalverband am 19.03.1951 eine Beihilfe von
227.- West fÅr Maurer- und Tischlerarbeiten. Aber fÅr einen Wiederaufbau der Kirche und
des Gemeindehauses reichten diese Maànahmen natÅrlich nicht aus. So wurde, wie von anderen Kirchen, beispielsweise Heiland und St. Johannis ein Kirchbauverein gegrÅndet. Zur
BegrÅndung heiàt es am 7. Januar 1953 im Protokoll der 1. Jahreshauptversammlung vor 81
Teilnehmern u.a.:
Der Aktionsausschuss wird zur Entlastung des Herrn Pfarrers SchÑtz und zur weitere Aktivierung der Aufbauarbeiten der Kirche und des Gemeindehauses gebildet.
51
Das Protokoll vermeldet nahezu enthusiastisch: „Wir sind nun soweit!!! Nach
der Frostperiode kann mit dem Bau
begonnen werden!“ Denn der Antrag
zur Bewilligung eines Kredites war
erteilt worden und das Grundkapital von
35.000.- als Darlehen gegeben. Der
Stadtsynodalverband Åbernahm die
HÉlfte der Verzinsung des geliehenen
Kapitals. Die Zusicherung des Stadtsynodalverbandes lag vor, dass er die BÅrgschaft Åber das Darlehen Åbernommen
hat.
Damit war die Voraussetzung fÅr den
Baubeginn gegeben. Dennoch
schwankte wohl die Stimmung zwischen
Hoffen und Bangen, wenn Pfarrer
SchÄtz mit der Bemerkung zitiert wird,
dass ihm Angst und Bange werde, wenn
er Åber den Bau nachdenke und den
Kirchenbauverein geradezu beschwÄrt,
ihn nicht im Stich zu lassen.
Und er muss auch die Vorfreude und
Ungeduld bremsen, denn der Kirchenbau kann nicht eher beginnen, als bis ein beleih fÉhiges
Objekt vorhanden ist, d.h. erst nach dem Bau des Gemeindehauses, das 1953 wieder instand
gesetzt wird.
49
Vgl. Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte B.St.V., IV, 15,5.
50
Pfarrer Helbig am 22. Oktober 1955 an die Berliner Stadtsynode.
51
Archiv der ErlÄsergemeinde, Sonstiges, hier: Kirch- Bau-Verein 1953-1956, Nr. 359.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
55
ZunÉchst gewÉhrt die Stadtsynode am 13. Nov. 1953 400 DM WEST fÅr die Instandsetzung
der Heizungsanlage. Es folgt am 22.8.1953 eine Aufforderung des Berliner Stadtsynodalverbandes an alle GemeinderÉte der ev. Kirchgemeinden, -„sowohl fÅr die Westsektoren wie fÅr
den Demokratischen Sektor von Berlin …eine åbersicht Åber die BauwÅnsche der einzelnen
Kirchgemeinden zu erhalten.“ Danach ein Rundschreiben des Stadtsynodalverbandes an alle
KirchenrÉte, fÅr das Bauprogramm 1954 fÅr beide Sektoren bis 20.10. BauwÅnsche mitzuteilen.
23.10.1953: Brief des GeschÉftsfÅhrenden Pfarrers SchÄtz, an Berliner Stadtsynodalverband,
„die ‚Substanzerhaltung’ betreffend:
„Zu dem oben angefÉhrten Bezug melden wir gehorsamst, dass zur Erhaltung der Substanz es
unbedingt erforderlich ist, der ErlÑserkirche im Jahre 1954 wenigstens im ersten Bauabschnitt
Dach, TÉren und Fenster zu geben. Der Kostenvoranschlag hierfÉr belÅuft sich auf 150.000,-DM. Nach RÉcksprache mit dem Senat sind 30% davon aus GARIOA-Mitteln zu erhalten. Den
Antrag dafÉr sollen wir im Januar 1954 einreichen. Wir wollen bemÉht sein, durch gemeinsame Besuche der beiden Pfarrer bei den Industriellen unserer Gemeinde einen erheblichen
Beitrag der Industrie zu erlangen. Ferner wird der Kirchbauverein die Verzinsung des Restes,
der bleibt, nachdem der Berliner Synodalverband uns zugesagt hat, wie viel er ausgeben
kann, Ébernehmen….“
Hoffnung auf den Wiederaufbau
Am 28.Juni 1954 macht ein Schreiben des Berliner Synodalverbandes an den Gemeindekirchenrat der ErlÄsergemeinde, Berlin NW 7, Jagowstraàe 25, Hoffnung:
„Auf das gef. Schreiben der Kirchgemeinde vom 4. Juni 1954 teilen wir ergebenst mit: Die
Dringlichkeit der Eindeckung der ErlÑser-Kirche und somit die Sicherung der Substanz ist uns
bekannt und von uns auch immer anerkannt worden. Nach den seinerzeit geltenden Bestimmungen Éber die Beleihung von GrundstÉcken mit Ñffentlichen Geldern muÇ eine beleihungsfÅhige Substanz vorhanden sein, um Sicherheit fÉr das aufzunehmende Baukapital fÉr
die Kirche zu bieten. Es wÅre mithin durchaus gerechtfertigt, dass der Wiederaufbau des
Gemeindehauses zeitlich vor dem Wiederaufbau der Kirche durchgefÉhrt wird.“
52
Allerdings wird ErlÄser darauf aufmerksam gemacht, dass sich die VerhÉltnisse auf dem Kapitalmarkt ‚verschÉrft’ haben und dem Berliner Synodalverband nur geringe Mittel fÅr die Instandsetzung von Kirchen Åberwiesen wurden. GegenwÉrtig sei eine BerÅcksichtigung der
ErlÄserkirche nicht mÄglich, das Anliegen werde aber fÅr das kommende Jahr im Auge behalten.
Angefragt wird, ob Pfarrer SchÄtz bei seinem beabsichtigten Versuch, Mittel fÅr den Wiederaufbau durch Spenden aus dem Ausland mitzufinanzieren, Erfolg gehabt habe.
Nach dem Protokoll des Kirchbauvereins am 16. November 1954 verstÉrkt sich die Hoffnung
auf einen Wiederaufbau, da Mittel vom Berliner Synodalverband fÅr 1955 fest eingeplant
52
Brief vom Berliner Synodalverband an Gemeindekirchenrat ErlÄser vom 28. Juni 1954. Archiv der
ErlÄserkirche ,’Kirchenbau-Verein 1953-1956, Akte Nr. 359.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
56
sind. Der Kirchbauverein hat zu diesem Zeitpunkt eine stattliche Mitgliederzahl von 585, erforderlich wÉren aber 1000, um die Verzinsung und Amortisation des aufzunehmenden Kapitals zu sichern.
Um das Geld des Vereins vor Entwertung zu sichern, beschlieàt der Gemeinderat, einen Jugendsaal unter der Empore auszubauen, der auch nach dem Wiederaufbau bestehen bleiben
soll. Diesen Bau erklÉrt das Protokoll fÅr den Beginn des Wiederaufbaus, der dann unter Leitung des Architekten Prof. Walter KrÅger erfolgt.
Von 1953 bis 1965 konnte der Verein 17.947 Mark einnehmen, davon 16.350 fÅr den Wiederaufbau geben. Am 18. Oktober 1955 hatte der Kirchgemeinderat den Wiederaufbau der
zerstÄrten KirchtÅrme beschlossen. Am 12. Oktober folgt wiederum ein Rundschreiben an
alle GemeindekirchenrÉte, diese Mal nur an die ev. Kirchen in Westberlin, ihre BauwÅnsche
mitzuteilen. Der eindringliche Antwortbrief von Pfarrer Helbig vom 22. Oktober 1955 an die
Berliner Stadtsynode Åber den Superintendenten des Kirchkreises Berlin II, Radtke, kÄnnte
die positive Entscheidung mit veranlasst haben. Helbig drÉngt:
„AuÇerdem mÉssen wir betonen, dass die Gemeinde unbedingt ein Gotteshaus benÑtigt,
wenn nicht in ihr eine Generation heranwachsen soll, die eine Kirche von innen niemals kennengelernt hat. “
Die mÄglichen Baukosten gibt er mit 500.000,--Mark an. Am 1. November 1955 ging Pfarrer
Alfred SchÄtz in den Ruhestand, ihm folgte am 3. November 1955 Pfarrer Dr. Karl Schulz.
16. April 1956: Berliner Stadtsynodalverband bewilligt 30.000,-West fÅr den Wiederaufbau
der ErlÄserkirche. Die Mitteilung, dass von dem Betrag inzwischen 1.700 M als Abschlagszahlung auf das Architektenhonorar an Prof. Walter KrÅger gedacht seien, lÄst einen umfangreichen Briefwechsel aus.
Am 7.Juni 1956 beginnt der Wiederaufbau der KirchtÅrme. Richtfest kann am 16. Januar
1957 gefeiert werden. FÅr die besondere politische Situation der Stadt, geteilt durch den
‚Eisernen Vorhang’ mag eine Stellungnahme des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland von 1956 stehen. In ihrem Beschluss
53
heiàt es:
„Die åffentlichkeit ist in den letzten Wochen durch ãuÇerungen einzelner kirchlicher PersÑnlichkeiten beunruhigt worden. Wir stellen fest: diese ãuÇerungen, wie immer sie auch gelautet haben mÑgen, sind nicht Kundgebungen der evangelischen Kirche, sondern gehen auf die
alleinige Verantwortung derer, die sie getan haben.
Zu den aufgeworfenen Fragen erklÅrt der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland unter
anderem:
1. WÉrde und Freiheit des Menschen sind nach christlicher Lehre unantastbar. Auch die
Einheit des deutschen Volkes, unter deren Verlust wir heute mit unserem ganzen
Volke schwer leiden, darf nicht mit der Preisgabe dieser wÉrde und dieser Freiheit erkauft werden.
53
VollstÉndiger Wortlaut s. Anhang, Dokumente
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
57
2. Die evangelische Kirche in Deutschland kann den infolge der Politik der BesatzungsmÅchte entstandenen Eisernen Vorhang nicht anerkennen. Er stellt eine stÅndige Bedrohung des Friedens und damit der Freiheit der Menschen und der VÑlker dar.
Die evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg“
Ein groÑer Tag: Am 07.06.1956 beginnt
der Wiederaufbau der beiden TÅrme.
Und am 16.01.1957 kann Richtfest
gefeiert werden.
Kirchlicher Dienstausweis von Fritz Helbig. Pfarrer in der ErlÄsergemeinde von 1952-1960.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
58
Die Wiedereinweihung der ErlÄserkirche am 9. MÖrz 1958
Die wiederaufgebaute ErlÄserkirche auf einem Foto von 1983 (oben). Die Ordnung (Titelblatt) zum
Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche vom 09.03.1958 (unten links).
Einzug der Pfarrer zum Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche (rechts). Superintendent
Radtke (vorne links) und Pfarrer Dr. Schulz. Bischof Dr. Dibelius (hinten link s) und Pfarrer Helbig.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
59
Erste Innenseite der Gottesdienstordnung zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche (links).
Zweite Innenseite (rechts). RÅckseite (unten).
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
60
Wie sah die neue Kirche von innen aus?
FÅr den Wiederaufbau zeichnete der bekannte Architekt Walter KrÅger verantwortlich.
54
KrÅger hatte nach seinem Studium in Berlin und MÅnchen als Regierungsbaumeister gewirkt, erÄffnete dann zusammen mit seinem Bruder ein ArchitekturbÅro in Berlin, beide
Als auffÉlligster Unterschied zum alten Innenraum ist wohl die Gestaltung des Altarraumes
zu nennen. Anstelle des riesigen Bleiglasfensters mit der Weihnachtsgeschichte schaut man
seit 1957 auf ein hochkant gestelltes rechteckiges Fenster, in sechs Abschnitte unterteilt, von
Hans Joachim Burgert (1928-2009) mit biblischen Szenen – Geburt, Taufe, Gethsemane,
Weltgericht, Himmelfahrt, Auferstehung – in moderner Formensprache und krÉftigen Farben
gestaltet.
55
54
Walter KrÅger, 1888 – 1971, mit seinem Bruder Studium der Architektur in Berlin und MÅnchen, 1919-1929
Regierungsbaumeister. ArchitekturbÅro in Berlin, Mitglied im Bund deutscher Architekten. Mehrere seiner
gebauten WohnhÉuser stehen heute unter Denkmalschutz. Auàer ‚ErlÄser’ war er auch fÅr den Umbau der ev.
Kirche in Berlin-Waidmannslust verantwortlich.
55
Einen Flyer mit den Ansichten der Fenster von Hans Jochim Burgert gestalteten Dietrich Tritschler und
JÅrgen Wendt, hrsg. vom Kirchgemeinderat der ErlÄserkirche.
Das Altarfenster der
wiederaufgebauten ErlÄserkirche
Zu sehen sind:
Geburt – Weltgericht
Taufe – Himmelfahrt
Gethsemane – Auferstehung
Gestaltet wurde das Altarbild von HansJoachim Burgert 1957.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
61
Ein langgezogenes rechteckiges Fenster mit blauen Glasquadraten in verschiedenen Helligkeitsstufen schlieàt den rechteckigen Chorraum nach oben ab. Der Schaugiebel zur Straàe
hin wurde nicht wieder aufgebaut. Das ehemalige simulierte TonnengewÄlbe wurde durch
eine holzgetÉfelte Decke ersetzt. Die Empore im Seitenschiff erhielt zartfarbene Mosaikfenster, so dass bei Sonnenlicht schÄne Farbspiele zu bewundern sind.
56
Allerdings gab es jetzt
nur noch 600 SitzplÉtze. Die Symbole der vier Evangelisten an der Kanzel und die Symbole
der Abendmahls-Elemente in Kupfertreibarbeit sowie das Altarkruzifix und die beiden Altarleuchter aus Kupferblech gestaltete der Bildhauer Fritz Thiel.
Die Festpredigt hielt Bischof Dibelius. Sie begann mit den Worten:
Jesaja 49,26: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÑser. Nun steht sie wieder da. Frisch
wie am ersten Tag, diese Kirche, die so weiterhin sichtbar Éber die Ufer der Spree und weit
hinein in unsere groÇe Stadt Berlin hinein sieht und all die tausend Menschen jeden Tag
grÉÇt, die Éber die Gotzkowsky-BrÉcke strÑmen. Und predigt nun wieder in ihrer alten Frische
und Festigkeit den Namen, den sie trÅgt, hinein in die Welt. Nun nicht irgendeinen Namen
aus der heiligen Geschichte, nicht den Namen eines der JÉnger, der groÇen Zeugen des Evangeliums, sondern den Namen, der im Mittelpunkt steht, den Namen, der alles besagt, was wir
unserem Herren Jesus Christus verdanken. Sie redet von dem ErlÑser der Menschheit. Und
was kÑnnen wir an dem Tag, an dem wir diese Kirche nun wieder aus den HÅnden der ewigen
Gnade entgegen nehmen, anderes tun, als uns in dieser Stunde von neuem zu bekennen zu
dem, der da spricht: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÑser.
57
56
Die runden Innenfenster gestaltete Burgert 2004.
57
Gesamtwortlaut s. Anhang. Auf die Nennung umfangreicher Literatur zu Dibelius wird hier verzichtet.
„Ich weiÑ, dass mein ErlÄser lebt.“
Innenfenster von Burgert 2004.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
62
Aus der Zeittafel
Das 50-jÉhrige JubilÉum kann die ErlÄserkirche am 14. Mai 1961 feiern Die Festpredigt hÉlt
Generalsuperintendent D. Immanuel Pack. FÅr den 13. August 1961, den Tag des Mauerbaus, verzeichnet die Chronik lediglich, dass die Leiterin des Kindergartens, FrÉulein Irgang,
nicht mehr an ihre Arbeitsstelle kommen kann.
Am 1. Dezember 1961 erscheint erstmals eine Zeitschrift der Jugend: „Die Lupe“. Nach dem
Tod von Kantor Kurth, der seit 1924 an ErlÄser tÉtig gewesen war, wird am 1. Januar 1962
Johannes Carl als A-Kirchenmusiker angestellt. Die erste Goldene Konfirmation wird am 22.
September 1963 gehalten. Am 20. Oktober 1963 wird die neue Orgel eingeweiht.
58
58
Vergleiche Bericht von Edda Straakholder
Konfirmationsschein von Sigrun
Wilhelm vom 23.03.1958.
Nach der Wiedereinweihung der
ErlÄserkirche, erscheint auch die
Gestaltung der
Konfirmationsscheine versachlichtBilder des Kalten Krieges im
geteilten Berlin.
Bestimmt durch den Mauerbau
und das Wirtschaftswunder.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
63
01.07.1965: Die Gemeinde wird um den Ostteil der Gustav-Adolf-Gemeinde erweitert.
Eine 3. Pfarrstelle, wird eingerichtet, aber nicht besetzt. Die Gemeinde zÉhlt
12.000 Mitglieder.
01.11.1965: Pastor Schloth wird komm. Verwalter der 3. Pfarrstelle
05.12.1965: Pfarrer Alfred SchÄtz verstorben.
01.05.1967: Pastor Hans Hartmut HÅfner wird zunÉchst als Hilfsprediger beschÉftigt, und
ab 14. 01.1968 Inhaber der 3. Pfarrstelle.
29.03.1968: Pfarrer Dr. Schulz geht in den Ruhestand.
01.09.1968: Pastor Pacholik Åbernimmt die komm. Verwaltung der 2. Pfarrstelle.
11.07.1969: Umwandlung der 1. Pfarrstelle in eine Pastorinnen-Stelle. Pastorin Eberstein
beginnt ihren Dienst.
23.01.1970: Die Taufkapelle wird neu eingerichtet.
19.02.1971: Pastor Pacholik und Pastorin Eberstein verabschieden sich von der Gemeinde wegen Heirat.
01. 07. 1971: Pfarrer Georg Malchin beginnt seinen Dienst.
01. 11.1971: Mit der 1.und 2. Pfarrstelle werden Pastor Ingo Feldt und Pastor Friedrich
GÅlzow betraut.
17. 10.1972: ErÄffnung des griechischen Kindergartens in der Helmholtzstraàe 29. Er
wurde fÅr die griechischen Arbeitnehmerkinder erÄffnet, entwickelte sich
dann aber schnell zu einer Integrationseinrichtung fÅr deutsche, griechische
und andere auslÉndische Kinder.
03.03.1974: Einweihung des Jugendhauses ‚Die Zinse’
27.04.1976: Streichung der 3. Pfarrstelle durch das Konsistorium.
01.10. 1976: Pfarrer Feldt wird vom Berliner Missionswerk nach Japan entsandt.
01.12.1976: Pastor Fisch beginnt als Hilfsprediger
28.02.1977: Pfarrer GÅlzow Åbernimmt eine Gemeinde in Steglitz
01.11.1977: Pfarrer HÅfner geht nach Chile.
28.12.1977: Pastorin Reichwaldt-Siewert wird mit der 2. Pfarrstelle betraut.
19.09.1980: Erstmals findet die ‚Kinderkirche’ statt, die den Kindergottesdienst ersetzt.
Mai 1982: Pastor Helmut Michel und Pastorin Ulrike Rogatzki kommen als Hilfsprediger
an die Gemeinde.
59
06.03.1983: JubilÉumsfeier zum 25. Jahrestag des Wiederaufbaus der ErlÄserkirche
30.06.1983: Pfarrer Fisch Åbernimmt eine Gemeinde in Alt-Mariendorf.
Januar 1985: Fotowettbewerb der ‚Zinse’ zum Thema: „Jugendliche in Tiergarten“
05.10.1985: Jugendliche fahren zu einer Begegnung mit Jugendlichen nach Ostberlin.
Mai 1986: Pfarrer Kleiner erstellt eine kleine Chronik zum 75. Geburtstag der Kirche. Es
gibt ein Festkonzert unter der Leitung von Edda Straakholder, einen Festgottesdienst mit dem ehemaligen Pfarrer HÅfner und unter Leitung von Pastorin Rogatzki wird eine Ausstellung erarbeitet.
59
Mutterschaftsurlaub von Pfarrerin Reichwald-Siewert
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
64
3. Kirche heute – Kirche im Wandel
Vergleicht man die quantitativ Verringerung der Gemeinde seit ihren AnfÉngen, so kÄnnte
man ein wenig mutlos werden. FÅr 2001 berichtet Pfarrer Massalsky anlÉsslich des 90jÉhrige
JubilÉums: Die Zahl der Gemeindemitglieder ist seit der GrÅndung um etwa zwei Drittel von
12.000 auf 3.700 geschrumpft. Nach der letzten Mitteilung des KVA Stadtmitte vom
01.01.2011 zÉhlt die Gemeinde 2.546 Mitglieder. Dennoch belegen die Berichte unserer
Pastoren und die Aussagen der Gemeindemitglieder
60
ein sehr aktives Gemeindeleben.
Unsere Pastoren
Die Pfarrer der ErlÄsergemeinde
Carl Schmidt
Paul Tillich (Hilfsprediger)
1912-1930
1912-1913
Martin Manger 1913-1931
Ernst Kornrumpf (Mit Unterbrechung) 1931-1945
Walter Streckenbach 1931-1952
Alfred SchÄtz 1946-1955
Fritz Helbig 1952-1960
Dr. Karl Schulz 1956-1968
Dietrich Altmann (Hilfspfarrer) 1960
Schloth (Komm. Verwalter) 1965
Hans-Hartmut HÅfner 1967-1977
Herr Pacholik 1968-1971
Pastorin Eberstein 1968-1971
Georg Malchin 1971
Ingo Feld 1971-1976
Friedrich GÅlzow 1971-1977
Reinhard Fisch 1976-1982
Annette Reichwald-Siewert Seit 1977 im Amt
Ulrike Rogatzki (Hilfspredigerin) 1982
Helmut Michel (Hilfsprediger) 1982
Karl-Ernst Kleiner 1983-1988
Kerstin Appel (Hilfspredigerin) 1988
Dirk Bartsch 1989-1997
Wolfgang Massalsky 1997-November 2011
In einem kleinen Faltblatt Åber die Geschichte der ErlÄsergemeinde Berlin-Moabit werden
im Zusammenhang mit Dr. Karl Schulz noch Walter Witzig und Lic. Arpad Broser genannt.
60
Vgl. Kapitel: Stimmen aus der Gemeinde, Fragebogen
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
65
Paul Tillich als Hilfsprediger in der ErlÄserkirche 1912/ 13
Von Wolfgang Massalsky
Neben seiner TÉtigkeit als Pastor in der ErlÄserkirchengemeinde seit 01.08.1912 war Tillich
(Jahrgang 1886) auch weiterhin wissenschaftlich tÉtig. Sein Ziel war eine Professur in Theologie oder Religionsphilosophie. Dennoch muss es ihm in „ErlÄser“ nicht schlecht gefallen
haben, denn er bewarb sich um eine Pfarrstelle, zog seine Bewerbung aber dann wieder
zurÅck, vermutlich, weil er sich nicht an eine Gemeinde binden wollte. In
seiner Amtszeit hielt er hier regelmÉàig Gottesdienste und Andachten.
Erstaunlich ist dabei die groàe Anzahl von Taufen und Beerdigungen.
1913 verlieà er die ErlÄsergemeinde wieder. Wann er faktisch ausgeschieden ist, lÉsst sich nicht genau feststellen, da nur eine fÅr die Zeit bis
Ende 1912 ausgestellte Pfarrvakanzrechnung vorliegt, aber die Wahl des
ersten Pfarrers der Gemeinde Januar 1913 fand unter seiner Leitung
statt, und noch bis Mai 1913 hat Tillich in der ErlÄserkirche Predigten
gehalten.
Zu seinem weiteren Werdegang ist zu sagen, dass er wÉhrend des 1. Weltkrieges Feldgeistlicher in Frankreich war. 1919 wurde er Privatdozent in Berlin, spÉter bekam er eine Professur
in Dresden und war zuletzt in Frankfurt am Main als Professor fÅr Religionsphilosophie tÉtig,
ehe er im Jahr der Machtergreifung Hitlers seine Professur verlor und nach Amerika emigrierte, wo er seitdem in verschiedenen Funktionen als Theologe lehrte. 1965 starb er auch
dort.
In Deutschland hatte er viele AnhÉnger, vor allem nach dem 2. Weltkrieg, als man seine – inzwischen verwandelte – Theologie in grÄàerer
Freiheit neu studieren konnte, wuchs seine AnhÉngerschaft. Er wurde
nun als eine Art Antipode zur „orthodoxen“ Schrifttheologie Karl
Barths gesehen, zumindest als Gegenpol, der dessen Ausschlieàlichkeitsanspruch in Frage stellte. Insbesondere in der Zeit des Kirchenkampfes beriefen sich ja viele junge Theologen in Deutschland auf
Barths Thesen. Die von ihm maàgeblich mitbestimmten Thesen der
Barmer Theologischen ErklÉrung bildeten sozusagen die Bekenntnisgrundlage fÅr den Kampf
gegen den NS-Staat und dessen Instrumentalisierung der Kirche. Barth, der einst politisch
ganz Éhnlich dachte wie Tillich, hatte sich inzwischen allerdings immer mehr von seinen
sozialistischen und „dialektischen“ AnfÉngen entfernt.
Auch Tillich verÉnderte sich im Laufe der Zeit, sein Denken nahm immer mehr die ZÅge eines
Seinsdenkens an, das die Seinsfrage mit der Gottesfrage verschmolz. Er begnÅgte sich jedenfalls nicht mit der positiven Reproduktion des biblischen Denkens, sondern suchte es mit
philosophischen Mitteln so zu interpretieren, dass der moderne Mensch mit seinen Fragen
und Problemen aus der Bibel Antworten erhielt, die sein LebensgefÅhl auf eine neue geistliche Ebene bringen helfen sollte. Das schien Tillich gemÉà seinen Zeitanalysen auch die primÉre Aufgabe der Theologie zu sein, damit sie wieder ein willkommener und ernst zu nehmender Partner fÅr den modernen Menschen wird. Der Mensch in der Masse, der „Massenmensch“ mit seinen ângsten und SehnsÅchten ist dabei ein wesentlicher Ansatzpunkt fÅr
seine theologische Arbeit geworden.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
66
Dabei drehte sich bei ihm alles um eine neue Anthropologie, ob er Åber Psychoanalyse,
SexualitÉt, Politik oder Architektur schrieb, seine AufsÉtze und BÅcher zeigen eine groàe Offenheit und Neugier fÅr das, was damals in den Intellektuellenzirkeln Deutschlands Åber den
Menschen und Åber die MÄglichkeit eines Existenzialismus ohne Metaphysik diskutiert
wurde. BÅcher, die er schrieb, wie z. B. „Der Mut zum Sein“ oder „Die neue Wirklichkeit“,
„Die verlorene Dimension“, waren zu meiner Schulzeit sogar SchullektÅre im Religionsunterricht, jedenfalls ausgewÉhlte Passagen daraus.
Die Bandbreite seines Wirkens lÉsst sich durch zwei Eckpunkte umschreiben: „ReligiÄser Sozialismus“ und „Das Berneuchener Buch“. Beide reflektieren Tendenzen der geistigen Situation in der Kirche der 20er Jahre gegenÅber den Herausforderungen durch die Ideologien der
Massenkultur: „ReligiÄser Sozialismus“ bedeutete, eine neue Verbindung zur Arbeiterschaft
und ihrer sozialen Lage zu schaffen, ohne ihre atheistischen Positionen zu akzeptieren, da
diese den Menschen in die Selbstisolation treiben. Das „Berneuchener Buch“ bereitete einen
neuen liturgischen Stil der Gottesdienste vor. Symbol und KÄrperlichkeit sollen gegenÅber
der Wortbetontheit des protestantischen Gottesdienstes, die Barth durch seine Dogmatik
noch verschÉrft hat, wieder zu ihrem Recht kommen.
Tillichs „FrÅhe Predigten“ (siehe dazu das unter diesem Titel von Prof. Erdmann Sturm herausgegebene Werk), die er in der ErlÄserkirche gehalten hat, lassen in verschiedener Akzentuierung vieles davon bereits im Ansatz erkennen. Sie machen schon im Kern deutlich, dass
er die Aussagekraft des christlichen Glaubens nicht allein aus den Formeln der positiv-kirchlichen Dogmatik erhebt, sondern daneben die Lebenswelt der Menschen, ihre Gegenwartsinteressen daraufhin befragt und untersucht, ob darin ein Bezogensein dieser Menschen in
ihrem Fragen und Leben auf eine in der Tiefe sie angehende geistige Macht zum Ausdruck
kommt, in der sich der biblische Gott verbergen kann, den die christliche Theologie nicht nur
als den SchÑpfer, sondern zugleich auch als den ErlÑser des Menschen aus seiner SÅnde verkÅndigt. Dabei kann Tillich SÅnde und soziale MissstÉnde einerseits sowie das damit verbundene Lebensganze (GefÅhle, Empfindungen, Verhaltens- und Handlungsweisen) der Menschen auf der zwischenmenschlichen Ebene in engen Zusammenhang bringen.
Als konventionelle Gemeindepredigten kann man seine Predigten bestimmt nicht beurteilen, dazu sind sie im Einzelnen viel
zu sehr Themenbezogen und anthropologisch orientiert. Reine
Text-Predigten sind sie jedenfalls nicht. Ihnen liegt ein Menschenbild zugrunde, das der philosophischen Tradition des
Deutschen Idealismus nahe steht, aber auch die Grundaussagen der evangelischen Theologie, fÅr die ihm Martin KÉhlers
Rechtfertigungstheologie reprÉsentativ war, enthielt. Rechtfertigung des SÅnders Åbersetzte Tillich in nicht-dogmatischer
Sprache als Sinnfindung, d.h. „Rechtfertigung des SÅnders“
geschieht dort, wo und wenn ich fÅr mein persÄnliches und
gesellschaftliches Leben einen Sinn im Leben gefunden habe, der mich mit dem Ewigen, dem
Unbedingten verbindet. Diese Sprache liegt in seinen frÅhen Predigten in „ErlÄser“ noch
nicht explizit vor. Aber er ist auf mancherlei Wegen dahin unterwegs.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
67
Sprachlich und formal ist sein damaliger Predigtstil:
- Manchmal ausgesprochen hymnisch oder sogar mystisch,
- oft seelsorgerlich-meditativ, trotzdem meist sehr lehrhaft;
- nicht ungern werden gegensÉtzlich klingende Bibelworte nach ihrem tieferen Sinn
befragt.
- Die Perikopenordnung wird von Tillich nur selten streng befolgt! (Daher ist auch eine
chronologische Einordnung nicht immer einfach, immerhin gibt es nicht selten Hinweise auf den Predigtzweck, auf die homiletische Situation, auf den Kirchenjahressonntag.)
- HÉufig wird nur Åber einen einzelnen Bibelvers gepredigt.
- Die gedankliche Gliederung variiert nicht selten den Dreischritt These, Antithese, Synthese;
- der Zusammenhang mit dem biblischen Text ist manchmal recht lose;
- obwohl er von der Sprache der Bibel und des Gesangbuchs gern Gebrauch macht.
Bei aller Lehrhaftigkeit seines Predigtstils ist die dogmatische Argumentation aber angenehmerweise fast immer mit den allgemeinmenschlichen oder speziell religiÑsen Problemen der
HÑrer verbunden. Der Ausgangspunkt behandelt zumeist das VerhÉltnis von Gott und
Mensch oder unsere Schwierigkeiten mit Gott aufgrund des in der Geschichte bzw. Gesellschaft Erlebten oder Erlebbaren, um sich mit Fragen der Moral, der Ehe, der Liebe oder nach
dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Interessant ist, dass die Stoffe meist schon von
sich aus einen Bezug zur religiÄsen SphÉre des Menschen haben.
In spiritueller Absicht werden die verschiedensten Aspekte des christlichen Lebens behandelt
wie z.B. FrÄmmigkeit, Gebet, persÄnliche Erbauung, Schwachheit und Kraft des Gotteswortes, Leben und Tod, Leiden und Gottverlassenheit, die Zweifel des Frommen, die FrÅchte des
Glaubens, aber auch Furcht vor ungewissem Lebensschicksal und Einsamkeit. Seinen gebildeten HÄrern macht er deutlich, dass der Zweifel an Gott nicht immer Zeichen von GlaubensschwÉche sein muss, sondern zur Ehrlichkeit des Menschen gehÄren kann.
Wo Tillich von der Situation des Menschen ausgeht, da erhÉlt sie ihre eigentliche Seinstiefe
erst dort, wo sie durch das Brennglas der christlichen Botschaft ihr Licht empfÉngt. Dieses
Licht scheidet das Vorletzte vom Letzten, das VergÉngliche vom Ewigen. Dabei betrachtet er
den Menschen als ein GeschÄpf Gottes, das in irgendeiner Weise durch seine Natur auf seinen letzten Seinsgrund in Gott bezogen ist, wie sehr es auch jetzt von ihm entfernt sein mag.
Kein noch so tiefsitzender Zweifel an der Existenz Gottes kann ihm dieses Bezogensein auf
seinen letzten Seinsgrund rauben.
Es werden fast ausschlieàlich individuelle und typische menschliche Situationen, aber kaum
politische Probleme aufgegriffen! Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse in jener Zeit
fehlen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) fast vollstÉndig. In einer einzigen Predigt behandelt Tillich die Probleme der Industrialisierung und der Fabrikarbeit, ansonsten Åberwiegt in Moabit das Allgemeinmenschliche, das Existenzielle.
Der Gesamtduktus seiner Predigten lÉsst nicht vermuten, dass er zu jener Zeit ein ausgeprÉgt
politisches Interesse an der Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden BevÑlkerung gehabt hÅtte, eher schon an der Hebung und Festigung des religiÄsen Bewusstseins seiner ZuhÄrer und sicher auch an der VerÉnderung ihrer persÄnlichen Einstellung zu den vom dama-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
68
ligen BÅrgertum meist etwas verÉchtlich behandelten Menschen in den HinterhÄfen Moabits, wobei davon auszugehen ist, dass zu Tillichs PredigthÄrern weniger die reichen Fabrikbesitzer gehÄrten, die meist ganz woanders wohnten, als vielmehr die einfachen BÅrger und
die AngehÄrigen der arbeitenden BevÄlkerung, die sich durch ihre NÉhe zur Kirche einerseits
von den verelendeten Massen positiv abzuheben suchten, andererseits ihre soziale Verantwortung durchaus sahen.
Ein bestimmter politischer Standpunkt etwa links von der konservativen Mitte ist in Tillichs
Predigten jener Zeit fÅr mich an keiner Stelle deutlich erkennbar, so dass ich seinen spÉteren
"religiÄsen Sozialismus" eher als den Versuch verstehen muss, einen neuen theologischen
Rahmen zu schaffen fÅr die Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden existenziellen
Krisen der Menschen wÉhrend und nach dem 1. Weltkrieg.
Vielleicht sollte dieser „Sozialismus“ eine Vision sein, um die breiten
Schichten des BÅrgertums fÅr eine staatliche und gesellschaftliche
Neuorientierung zu gewinnen jenseits des heraufziehenden rechtsradikalen Extremismus. Aber vermittelnde Denkweisen, wie die Vernunft selbst, haben es in Zeiten der Extremen immer schwer, sich
GehÄr zu verschaffen. Brot und Arbeit waren gefragt, nicht neue
Gesellschaftsmodelle. Die tragischen sozialen Verwerfungen, die mit
dem Verlust der traditionellen Wertvorstellungen und Hierarchien
fÅr das Nach-Kriegs-BÅrgertum seit der Abschaffung des Kaiserreiches einhergingen und groàe Teile der notleidenden BevÄlkerung
den Extremen in die Arme trieben, entwickelten eine Dynamik, die
sich durch aufklÉrerische Predigten und VortrÉge kleinerer Kreise
innerhalb der Kirche offenbar nicht mehr stoppen lieà.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
69
PersÄnliche EindrÅcke von Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert
33 JAHRE IN DER ERLÉSERGEMEINDE
„Moabit ist ein steiniges, hartes Pflaster, um GlaubenspflÅnzchen zu sÅen, zu pflegen und zu
ernten!“
Dieser Satz wurde Åber Jahre hinweg jedem Theologen/ jeder Theologin mit auf den Weg
gegeben, der/ die sich zwischen Hansaufer, Huttenstraàe und DovebrÅcke im Einzugsbereich
der ErlÄsergemeinde hoffnungsvoll an die Arbeit machte.
Als ich Ende 1977 in die Gemeinde kam, waren die drei bisherigen Pfarrer (Feldt, GÅlzow und
HÅfner) gerade zu neuen Ufern aufgebrochen und eine Pfarrstelle war sogleich dem Sparzwang zum Opfer gefallen. So starteten der junge Pfarrer Fisch und ich – ebenfalls BerufsanfÉngerin – pfarramtlich neu. Wir waren voller Tatendrang und unternahmen z. B. mit fast
50 Konfirmanden eine Reise. In den folgenden Jahren kÅmmerte sich Pfarrer Fisch im Jugendhaus der Gemeinde in Alt-Moabit vor allen Dingen um den Fortgang der Jugendarbeit.
Dort wurde von zwei PÉdagogen eine „halboffene Arbeit mit Jugendlichen“ angeboten und
auch viele Partys gefeiert.
Ich selbst setzte einen Schwerpunkt in den Angeboten fÅr die „mittlere Generation“, die zu
alt fÅr das Jugendhaus, aber dennoch zu jung fÅr die Seniorenarbeit war. Es entstanden zwei
neue Kreise fÅr dieses Klientel: der „Hausfrauentreff“ und der „BerufstÉtigentreff“. Bis heute
gibt es – von meinen jeweiligen Kollegen verantwortet – Angebote in der Erwachsenenbildung. Zwischenzeitlich hieà dieses Angebot „GesprÉch mit der Bibel“ (Pfarrer Kleiner), dann
wurde es Äkumenisch ausgeweitet (Pfarrer Bartsch) und zur Zeit bietet Pfarrer Massalsky
den „Arbeitskreis fÅr Theologie und Kirche“ neben einem Literaturkreis und dem HebrÉischkurs an.
Aus den 80ziger Jahren erinnere ich mich besonders gern an die mit einigen Ehrenamtlichen
fantasievoll gestalteten Gemeindeveranstaltungen zu den Friedenswochen, sowie die AnfÉnge der aufwendigen Straàenfeste der Gemeinde unter Mitarbeit zahlreicher Gemeindemitglieder und den Mitarbeitern aus Jugendhaus, Miniclub und den beiden Kitas.
In den 90ziger Jahren rief ich dann zusammen mit Pfarrer Teschke (St. Johannis) und Pfarrer
Willms (Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis) die Åbergemeindlichen Themenreihen zu Fragen von
Glauben und Gesellschaft ins Leben. Ab der Jahrtausendwende kamen die Kontakte zum
Quartiersmanagement Moabit West hinzu. Es gelang, bei einigen Gemeindemitgliedern
durch Besuche in Moscheen in Moabit das Interesse am interreligiÄsen Dialog zu wecken.
Seit der VereinsgrÅndung des „Zentrums fÅr interreligiÄsen Dialog in Moabit“ (2005), versuche ich dort mitzuarbeiten und den Kontakt nicht abreiàen zu lassen. Angesichts der
demographischen Entwicklung in unserem Gemeindegebiet wird diese Arbeit in Zukunft immer mehr Bedeutung erlangen. Es gab bereits zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen mit
den Moabiter Moscheen Vereinen, um Kultur und Religion besser kennen zu lernen und um
sich auf „gute Nachbarschaft“ zu begegnen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
70
Die Zusammenarbeit mit den mittlerweile fusionsbedingt nur noch zwei katholischen Gemeinden (St. Ansgar/ St Laurentius und St. Paulus) drÅckt sich in der Gestaltung des Kreuzweges, des Weltgebetstages und des Buàganges aus.
Als einen meiner Schwerpunkte habe ich vor 30 Jahren die Arbeit mit Kindern neu gestaltet.
Der Kindergottesdienst war mit Weggang meines VorgÉngers und wegen der beruflichen
VerÉnderung der Ehrenamtlichen zum Erliegen gekommen. Nach einigen fehlgeschlagenen
Versuchen parallel zum Gottesdienst Kinder zu sammeln, begann ich mit der „Kinderkirche“
im Kindergarten, sowie in der griechischen Kinderstation in der Helmholtzstrasse und dem
Miniclub, der im Jugendhaus Alt-Moabit untergebracht war. Die beiden letzteren Einrichtungen mussten wir aus finanziellen GrÅnden leider Anfang der 90ziger Jahre aufgeben,
wÉhrend die Kita am Wikingerufer sich mit Integrationsarbeit fÅr Behinderte weiterentwickeln konnte und bis heute ein wichtiger Bestandteil der Gemeinde geblieben ist.
SpÉter kamen die Nachmittagsangebote der Kinderkirche fÅr SchÅler hinzu, die in zeitlicher
Kombination mit den zahlreichen KinderchÄren, eine gute Gelegenheit bieten, Kinder mit
dem christlichen Glauben und Werten spielerisch bekannt zu machen.
Seit mehr als 25 Jahren treffe ich auf diese Weise in 5-6 Gruppen Kinder im Alter von 4-12
Jahren zum Spielen, Basteln und Lernen. Dazu gehÄrten lange Zeit auch AusflÅge und Besuche von Ausstellungen und Museen. Seit ich im Jahre 2007 in der Nachbargemeinde „Moabit
West“ (fusionierte Heilands- und Reformationsgemeinde) mit der HÉlfte meiner Dienstzeit
arbeite, sind diese Extras aus zeitlichen GrÅnden leider nicht mehr mÄglich. Aber die samstÉglichen Kinderkirchtage (einmal jÉhrlich) bestehen immer noch; seit 10 Jahren sind die
Kinderbibelwoche in den Winterferien (gemeinsam mit der Heilige Geist Gemeinde) und seit
sechs Jahren die åbernachtung im Kirchraum (gemeinsam mit der Gemeinde Moabit West)
hinzugekommen.
NatÅrlich wÉre auch aus den anderen Arbeitsfeldern eine Menge zu berichten. Schlieàlich
habe ich ca. 800 (ohne die zahlreichen Passions- und Orgelandachten) Gottesdienste in der
ErlÄserkirche mitgestaltet, darunter viele schÄne Familiengottesdienste (unter Beteiligung
der Kinderkirche und der zahlreichen KinderchÄre) erlebt. Auch Jugendgottesdienste und
Tauferinnerungen, sowie KonfirmationsjubilÉen zeugten immer wieder von einer lebendigen
Gemeinde. Bei mehr als 1.000 Beerdigungen kann ich mich nicht mehr an jeden einzelnen
Grabgang erinnern, aber manche Menschen und Schicksale stehen mir noch lebhaft vor Augen.
Auch in der Seniorenarbeit erlebte ich so manch besondere, thematische Stunde sowie
Feiern zu den Festtagen des Kirchenjahres. In diesem Bereich gab es auch einige personelle
Wechsel nicht nur durch die Senioren selbst, sondern auch von denen, die die Seniorenarbeit gestalteten. Nach Pensionierung der letzen hauptamtlichen Mitarbeiterin in diesem Bereich (Frau Streicher) ist es immer mehr Aufgabe der Pfarrer (unterstÅtzt von Ehrenamtlichen) geworden, den Seniorenclub zu begleiten.
åber die Jahre haben alle meine „festen Kollegen“ von Pfarrer Fisch Åber Pfarrer Kleiner und
Pfarrer Bartsch bis hin zu Pfarrer Massalsky dort viele Kontakte knÅpfen und segensreiche
Arbeit leisten kÄnnen. Auàerdem waren in den drei Jahrzehnten meines Dienstes in der
Gemeinde ein Reihe von Pfarrer/innen aushilfsweise in der ErlÄsergemeinde tÉtig: Pastorin
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
71
Knapke, Pfarrer Michel, Pfarrerin Rogatzki, Pfarrerin Appel, Pfarrerin Kruse und Pfarrer
KÅhnle vertraten mich monatsweise in den Jahren meiner FamiliengrÅndung.
Ein jeder hat sein Bestes gegeben, die Gemeinde interessant und engagiert sein zu lassen.
Doch leider musste trotzdem die Zahl von ehemals 27 hauptamtlichen Mitarbeitern (einschlieàlich Kitas und Jugendhaus) nach und nach auf 12 (ohne die 2 Pfarrer) reduziert werden.
Jetzt stehen auàer den 10 Mitarbeitern/innen in der Kita lediglich noch die Kirchenmusikerin
(Frau Straakholder) und der Hauswart (Herr Wendt) fÅr die vielseitige Arbeit zur VerfÅgung.
Wenn wir uns auch als kleine Mitarbeiterschaft bemÅhen, den zahlreichen Anforderungen
gerecht zu werden, so ist es doch offensichtlich, dass eine Konzentration der KrÉfte notwendig wird. Im letzten Jahr haben wir einen neuen Gemeindekirchenrat gewÉhlt, der tatkrÉftig die vor uns liegenden Aufgaben angehen mÄchte.
Deshalb bin ich Åberzeugt davon, dass die Mitglieder der ErlÄsergemeinde auch im Sprengel
Tiergarten, den wir mit den vier Nachbargemeinden seit dem 1.1.2011 bilden, einen festen
Platz innehaben werden. Zumal die Gemeinde mit der Kirchenmusik und der sozialdiakonischen Arbeit Åber die Gemeindegrenzen hinaus bekannt ist und auch mit ihrem Bildungsprogramm fÅr Erwachsene und Kinder einen wichtigen Auftrag fÅr Tiergarten wahrnimmt.
Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert, Januar 2011
AuÑen- und Innenansicht der ErlÄserkirche als GemÖlde auf einer Urkunde zur Goldenen
Konfirmation von 1967.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
72
Wolfgang Massalsky: Mein Dienst in der ErlÄsergemeinde
(Mai 1997- November 2011)
Seit 1. Mai 1997 an der ErlÄserkirche – an Himmelfahrt
hielt ich dort „meinen“ ersten Gottesdienst, seit 1. 7. 1997
als Inhaber der sog. ersten Pfarrstelle tÉtig, ermÄglicht
durch den Tausch mit meinem Vorgänger Pfarrer Bartsch,
der seinerseits an meine frÅhere Kirche wechselte. Die
offizielle AmtseinfÅhrung fand durch die damalige Superintendentin von Tiergarten-Friedrichswerder Pfarrerin Martina Gern am 31. August in der ErlÄserkirche statt.
Die Schwerpunkte meiner Arbeit bildeten im Rahmen der
Arbeitsteilung zwischen Pfarrerin Reichwald-Siewert und
mir die Jugend- und Konfirmanden- sowie die Erwachsenenarbeit. Zum damaligen Zeitpunkt
gab es für die Jugendarbeit noch unser Jugendhaus „Die Zinse“, Alt-Moabit 71, das wir aber
1998 wegen mangelnder Auslastung und wegen der zu erwartenden hohen Sanierungskosten an die Landeskirche zurückgaben.
Die Konfirmandenarbeit musste von da an im Gemeindehaus untergebracht werden, seit
MÉrz 2002 besaàen wir fÅr die Jugendlichen (Konfirmanden) eine eigene Jugendetage im
Gemeindehaus. Jahr für Jahr fanden am Pfingstsonntag unsere Konfirmationen statt. Hier
wie auch sonst war für mich die enge Zusammenarbeit mit unserer Kantorin eine sehr positive Erfahrung. Vor zwei Jahren vereinbarte ich mit Pfarrerin Sigrid Neubert im Rahmen der
Zusammenarbeit in der Konfirmandenarbeit mit Moabit West ein neues System mit Jahr für
Jahr abwechselnden Konfirmationen sei es in „Heiland“ (wie dieses Jahr) oder in „ErlÄser“
(wie nÉchstes Jahr). Ab 2012 muss der Regionalrat eine neue LÄsung finden, wenn alle Gemeinden der Region gemeinsam am Konfirmandenunterricht beteiligt sein sollen.
Schon im Winter 1997/98 begannen wir – auf Initiative von Edda Straakholder – mit der
SpÉtcafáarbeit fÅr Obdachlose, die bereits an mehreren Standorten in Tiergarten betrieben
wurde, nur bei uns noch nicht. Mein Motto war: Ohne für die Ärmsten der Armen etwas zu
unternehmen, sind unsere Gottesdienste oft nur hohle Rhetorik, besonders wenn es um
soziale Fragen geht, auch wenn es anstrengend ist, jede freie Minute für die Gemeinde unterwegs zu sein, um Essen abzuholen und es keineswegs nur immer erfreuliche Erlebnisse
und dankbare Menschen gibt.
Andere Arbeitsfelder kamen dazu. Der Seniorenkreis, der anfangs im Wechsel mit Frau
Reichwald-Siewert von mir mit betreut wurde, wurde nach dem Ausscheiden von dessen
Leiterin, Frau Streicher, neben dem Bibelcafé, das ich inzwischen gegründet hatte, mein
zweites Standbein im Bereich der Seniorenarbeit, deren inhaltliche Arbeit sich im Laufe der
Zeit sehr erweitert hat. Die Mitarbeit von Frau Urban und seit ihrem Ausscheiden von Frau
Weber und Frau Babbel möchte ich besonders hervorheben.
1998 organisierten wir mit einigen unserer Konfirmanden/-innen sowie Frau Straakholder
und Jürgen Wendt eine Fahrt nach Burgund mit Zwischenstopp in Freiburg. Der Besuch von
Taizé bzw. der dort ansässigen Communauté de Taizé und ihrer Jugendarbeit bildete den
Höhepunkt. Beeindruckend für mich war eine kurze Begegnung mit dem damaligen Leiter
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
73
dieser Bruderschaft, Frère Roger Schutz. Es waren für uns alle unvergessliche Stunden. Das
Zelten auf einem Campingplatz in Cluny in der Nähe von Taizé hatte dabei seinen besonderen Reiz...
Die Rückfahrt über Memmingen, meiner Geburtsstadt, war einerseits sehr abwechslungsreich, andererseits eine große Strapaze. Wir waren alle froh, nach einer ereignisreichen Woche gut und heil wieder in Berlin zurückgekehrt zu sein. Seitdem beteiligten sich die Konfirmanden mit ihrem eigenen Programm an den Kinderchor-Freizeiten der Gemeinde in
Dahme sowie an den Wochenendrüstzeiten in Halbe oder in Ruhlsdorf.
Im nächsten Jahr 1999 starteten wir unsere Gemeindefahrten, die sich nun an alle Gemeindeglieder richteten. Wir begannen mit einer Reise nach Auschwitz, wobei wir in Breslau und
hauptsächlich in Krakau Station machten. Daran nahmen junge und ältere Leute aus der
Gemeinde teil. Es war in jeder Hinsicht ein beeindruckender, unvergesslicher Besuch, besonders den Rundgang auf dem GelÉnde von Auschwitz, auf dem so viele Menschen auf so
schreckliche Weise von Deutschen und ihren Helfern ermordet wurden, wird niemand von
uns je vergessen kÄnnen.
Mit diesen Gemeindefahrten haben wir inzwischen u. a. Paris, Flandern mit Brüssel, Brügge
und Gent kennengelernt; zweimal waren wir in Italien: Rom, Venedig, Padua, Vicenza. Außerdem waren wir in Budapest. Darüber hinaus haben wir in Thüringen und Sachsen die Lutherstätten besucht und kennengelernt. Dieses Jahr geht es nach England, unter anderem
stehen London und Canterbury auf dem Programm. Für viele Ehrenamtliche und andere
Gemeindeglieder sind diese von uns geplanten Fahrten in Gemeinschaft mit uns die einzigen
Großereignisse, die sie sich leisten können und eine schöne Abwechslung im manchmal
recht beschwerlichen Alltag. Auch so entsteht und festigt sich Gemeinde-Bewusstsein und
das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit.
An Fahrten und Ausflügen standen regelmäàig auf dem Terminkalender der Gemeinde:
Wanderungen am 1. Mai und am 3. Oktober, Ausflüge am Pfingstmontag nach Gottesdienst
und gemeinsamem Mittagessen. Andere Fahrten kamen dazu, besonders seitdem unsere
Gemeinde mit Moabit West zusammenarbeitet, die gemeinsame Gemeindefahrt im Bus u.a.
nach Tangermünde oder zur Geburtsstadt von Paul Gerhardt, Gräfenhainichen und in das in
der Nähe gelegene Schloss Oranienbaum und demnÉchst nach Neuzelle.
Der Äkumenische „Arbeitskreis für Bibel und Theologie“, zeitweise auch „für Theologie und
Kirche“ genannt, sollte den theologisch und biblisch interessierten Erwachsenen in und außerhalb unserer Gemeinde die Möglichkeit bieten, sich in besondere theologische
Fragestellungen einzuarbeiten. Höhepunkte dieser Arbeit waren die Beschäftigung mit
Schleiermachers Reden Über die Religion und Pannenbergs Schrift „Was ist der Mensch?“
Darin eingearbeitet hatten sich aus Freude an diesem Stoff zwei Chormitglieder. Es waren
eindrucksvolle Abende. Aber auch die Beschäftigung mit der archäologischen Seite der
Entstehung der Bibel anhand von Tondokumenten war ein gelungenes Beispiel dafür, was
für Potentiale es in unseren Gemeinden zu entdecken gibt.
Den Hebräisch-Kurs, zu dem anfangs auch Mitglieder des Arbeitskreises gehörten, besuchten
zuletzt eine Ärztin und ein angehender Jurist, auch das eine interessante Erfahrung. Dieser
Kurs ist aber in diesem Jahr beendet worden. Bei Bedarf kann er jedoch fortgesetzt werden.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
74
Ferner ist hier auch der Literaturkreis zu nennen, den es seit vielen Jahren gibt, vereinzelt
auch mit Theaterbesuchen verbunden. Mit seiner Auseinandersetzung mit zeitgenÄssischer
und wichtiger klassischer Literatur der Moderne, aber auch mit beliebten Krimis, gab und
gibt er den Teilnehmern Anregungen, wie mit Literatur umzugehen ist. Gemeinsames Lesen
ausgewÉhlter Passagen hilft in das Thema einzudringen und es selbstÉndig zu bearbeiten.
Mit Andrea von Wittken haben wir nun eine kompetente Literaturwissenschaftlerin in unserem Kreis.
Was die éffentlichkeitsarbeit angeht, so haben Edda Straakholder und ich nach dem Ausscheiden unseres frÅheren KÅsters Harald MÄàner uns sehr bemÅht, den Gemeindebrief in
einer guten, auch inhaltlich prÉsentablen Form alle zwei bis drei Monate, insgesamt 5 Ausgaben pro Jahr mit einer StÅckzahl von jeweils 4500 Exemplaren fertigzustellen, d. h. zu
schreiben und zu drucken. Dann muss er noch gefaltet und in die Haushalte der meisten
Straàen unserer Gemeinde verteilt werden. Das ist eine Arbeit, fÅr die wir vielen Helferinnen
und Helfern dankbar sind.
Eine wie mir scheint sehr erfolgreiche Sache sind im Laufe der Jahre die „stadthistorischen
Rundgänge“ geworden, die meine Frau, Renate Benning-Massalsky, angeboten hat und die
viel Zuspruch auch Åber unsere Gemeindegrenzen hinweg erfahren haben. Viele AusflÅge,
SpaziergÉnge in und um Berlin, haben uns unter ihrer fachkundigen Führung das Neuland im
Osten nach der Wende und manch Unbekanntes auch im West-Berliner Stadtbereich und im
Umland von ganz Berlin bis nach Oranienburg und Sachsenhausen erschlossen.
Außerhalb der Gemeindearbeit im engeren Sinne, war ich Åber Jahre in der Gemeindeverbundratsarbeit engagiert (zusammen mit Frau Geschermann), und seitdem wir vor gut zwei
Jahren in unserer Region darangehen, die Zusammenarbeit aller Gemeinden in der Region
Tiergarten zu verbessern, auch in der Steuerungsgruppe sowie im Regionalrat des Tiergartener Pfarrsprengels. Auàerdem bin ich fast von Anfang an im Haushaltsausschuss des neugebildeten Kirchenkreises Berlin Stadtmitte dabei, zuletzt als einer der beiden Stellvertreter des Ausschuß-Vorsitzenden
gemeinsam mit Pfarrerin Monika Matthias. Daneben half ich im Kreis der Wirtschaftsprüfer
des Kirchenkreises unter Leitung von Pfarrer (jetzt i. R.) Oprotkowitz mit.
In den letzten drei Jahren hielten uns die Entwicklungen in unserer gemeindeeigenen Kindertagesstätte in Atem. Der Weggang von Frau Cramer war nur schwer zu verkraften, die nur
schwer nachzuvollziehenden Schwierigkeiten der alten Stammmannschaft mit ihr und mit
der neuen Leitung, Frau Meyer, schufen viele Probleme, auch rechtlicher Art. Zur Vermeidung von Dauerquerelen sahen wir uns, nachdem wir im letzten Jahr noch aus eigenen Kräften den Hof des Gemeindehauses, den die Kita mit nutzt, sanieren und neu gestalten konnten, gezwungen, unsere Kita, die es mit Unterbrechungen und in unterschiedlichen Formen
fast 100 Jahre bei uns gegeben hat, an den Kirchenkreis als neuen Träger abzugeben. Es war
die für mich persönlich schmerzlichste Entscheidung, die ich in diesen Jahren meines Dienstes in „Erlöser“ mit vorzubereiten und mit zu verantworten hatte.
Abschließend danke ich all denen, die in unserem GKR treu und zuverlässig mitgearbeitet
haben, besonders dankbar bin ich für den seit dem letzten Jahr tätigen Gemeindekirchenrat
aus vielen kompetenten Gemeindegliedern, der die Geschicke der Gemeinde weiterhin gut
leiten wird. Und besonders danke ich denen, die über viele Jahre hinweg so zahlreich unsere
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
75
Gottesdienste und Orgelandachten besucht haben und, wie immer wieder auch versichert
wurde, für sich persÄnlich aus Gottes Wort und der lebendigen Verkündigung viel mitnehmen konnten.
Pfarrer Wolfgang Massalsky
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wir engagieren uns: Moabiter Erklärung
Seit 2002 begannen sich Vertreter /innen und Gemeindeglieder aus vorwiegend christlichen, freikirchlichen und muslimischen Gemeinden zum Austausch und zu gegenseitigen
Besuchen zu treffen. Die Koordinierung Åbernahm hierbei das Quartiersmanagement Moabit
West.
Nach einer Reihe von gegenseitigen Gemeindebesuchen, Veranstaltungen zu bestimmten
Themen sowie gemeinsamen Besuchen von muslimischen und christlichen Vertretern
/Vertreterinnen in Oberschulen Moabits, kamen weitere Vertreter/innen aus anderen Religionsgemeinschaften zum Treffen der Religionsgemeinschaften hinzu (jÅdisch, buddhistisch
und Rastafari).
Nach fÅnfjÉhrigem Bestehen des interreligiÄsen Dialogs in Moabit und der Initiierung zahlreicher Projekte wurde 2007 das“ Zentrum fÅr interreligiÄsen Dialog Moabit“ gegrÅndet
(ZID). In seinem VerstÉndnis vom friedlichen Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen
in Moabit bezieht sich das ZID auf die Moabiter ErklÉrung „FÅr ein friedliches Zusammenleben in Moabit“, die Pfingsten 2005 von elf verschiedenen Religionsgemeinschaften anerkannt wurde und nachstehend abgedruckt ist. (Sie ist auf Wunsch der Muslime sprachlich
bewusst einfach gehalten, damit sie unÅbersetzt von Migranten/innen problemlos aufgenommen werden kann.)
Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
76
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
77
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
78
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
79
Aus der Gemeindearbeit
Jugendarbeit
Am 14. April 1973 konnte eine Griechische Kinderstation eingeweiht werden, die 20 Jahre
lang einen wichtigen Beitrag zur Integration auslÉndischer Kinder leistete. 1993 musste sie
aufgegeben werden, da der Hausbesitzer kÅndigte.
Am 22. Januar 1974 wurde ein Jugendhaus in dem Éltesten, unter Denkmalschutz stehenden
Haus Moabits in der Straàe Alt-Moabit 70/71 an der Ecke Zinzendorfstraàe bezugsfertig,
wobei Junge Gemeinde und Gemeindemitglie der intensiv bei der Restaurierung geholfen
hatten. Deutsche, arabische und tÅrkische Jugendliche fanden hier 25 Jahre lang Betreuung.
Zinse: „Das bedeutet…offene Jugendarbeit, offen besonders fÅr die benachteiligten Jugendlichen“, hieà es aus Anlass des 75 jÉhrigen JubilÉums von ‚ErlÄser’ 1986 in den Mitteilungen.
61
Nach Auslaufen des ersten Nutzungsvertrages bis 1998 musste die Einrichtung geschlossen
werden aus Mangel an Betreuern und wenig Interesse deutscher Jugendlicher. Generell
schÉtzt die Gemeinde ein, dass es heute weit weniger Jugendprojekte als noch vor Jahren
gibt, die meisten mussten wegen Geldmangel eingestellt werden.
61
75 Jahre ErlÄserkirche. Mitteilungen fÅr Juni/ August 1986, S. 7.
Programmheft der „Zinse“, dem Jugendhaus der ErlÄsergemeinde.
Es bestand von 1974 bis 1998.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
80
Erinnerungen an die Junge Gemeinde
von Rolf Jaenke
Es ist nunmehr 60 Jahre her, dass ich in der ErlÄserkirche von Herrn Pfarrer Streckenbach
getauft worden bin. Im Alter von fÅnf Jahren wurde ich den Kindergarten der Gemeinde geschickt und durfte dort einige Zeit bis zu meinem Wechsel in die Gotzkowsky-Schule verbringen. An Ostern 1964 fand die Konfirmation durch Pfarrer Dr. Schulz statt. Bereits seit 1962
war ich Mitglied der Jungen Gemeinde. FÅr die Jugendarbeit waren FrÉulein Ingeborg Graf
und Pfarrer Dietrich Altmann zustÉndig, fÅr die Kirchenmusik Kantor Johannes Carl.
Freizeiten wurden unter anderem im ehemaligen Jugendhaus sowie im Zeltlager im Johannesstift in Spandau verbracht. Eine Dampferfahrt der Gemeinde wurde jÉhrlich durchgefÅhrt. Seit Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es die Zeitschrift der
Jungen Gemeinde "DIE LUPE", zunÉchst mit einer monatlichen Auflage von 80 Exemplaren in
hektografierter Form – nur fÅr die Jugendlichen der Kreise. Am Ende der sechziger Jahre
betrug die AuflagenhÄhe 200, ja sogar bis zu 500 StÅck. Die Zeitschrift wurde gedruckt, zum
Teil durch Anzeigen finanziert und an Inserenten und Abonnenten verteilt oder versandt.
Zu Zeiten von Dietrich Altmann wurden von den Jugendlichen TheaterstÅcke aufgefÅhrt, mit
"Wasser fÅr Catanias" (ein StÅck, das aus der Aktion SÅhnezeichen hervorging) waren wir mit
einem VW-Bus auf Tournee in Niedersachsen. Mit Herrn Altmann fÅhrte uns eine Reise nach
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
81
Coventry und London. In Coventry wohnten wir in Gastfamilien, kurze Zeit spÉter hatten wir
die Jugendlichen von dort in unsrer Gemeinde zu Gast. Nachdem Dietrich Altmann 1968 eine
Pfarrstelle in London Åbernommen hatte (ich habe ihn dort einmal besucht), fÅhrte Pfarrer
Harmut HÅfner seine Arbeit fort.
Unter seiner Regie wurde das StÅck "Der Besuch der alten Dame" von Friedrich DÅrrenmatt
im Jugendhaus in Alt-Moabit zur AuffÅhrung gebracht. Mit Hartmut HÅfner gingen die Jugendreisen nach Schleswig-Holstein und zweimal nach SÅdfrankreich. Als Herr HÅfner nach
Chile ging, erklÉrte sich Burghard Kullick bereit, die Leitung der Theatergruppe zu Åbernehmen. Unter seiner Regie wurden pro Jahr zwei StÅcke zur AuffÅhrung gebracht. Auch bei
Straàenfesten war die Theatergruppe mit KasperlestÅcken prÉsent.
Ein Jugendprojekt
Von Larissa Weber und Jugendprojektgruppe
Menschen in Moabit. Woher kamen und kommen sie?
Menschen in Moabit, das sind wir!
Das Projekt
Seit MÉrz 2008 hat sich die Projektgruppe mit dem Thema Einwanderung in unserem Bezirk
beschÉftigt. Unser Ergebnis prÉsentieren wir hier in unserer Ausstellung. Migration war und
ist fÅr Moabit immer ein wichtiges Thema und dem sollten sich die Jugendlichen bewusst
werden. Daher haben wir uns damit beschÉftigt und BÅcher gewÉlzt, im Internet recherchiert und Exkursionen in unserer Nachbarschaft gemacht.
So waren wir bei direkten Nachbarn unserer Gemeinde und haben sie befragt, was sie so von
Moabit halten und wie sie hierher gekommen sind. Wir waren aber auch bei Karame e.V.,
einer deutsch-arabischen Jugendeinrichtung in der Wilhelmshavener Straàe. Dort haben wir
zwei nette Nachmittage mit arabischen und tÅrkischen MÉdchen verbracht und hatten eine
Menge Spaà. Bei der Erarbeitung der Ausstellung haben wir viele neue Erfahrungen sammeln kÄnnen und neues Wissen angehÉuft. Wir wÅnschen viel Spaà beim lesen!
EindrÅcke aus der Projektgruppe
Uns hat die Idee und das interessante Thema an sich gefallen und das wir mit T-Shirts und
Kugelschreiber ausgestattet wurden. SchÄn war auch das GemeinschaftsgefÅhl, z.B. beim
auch beim Eis essen. Besonders toll war es, das wir mehr Åber Migration erfahren haben.
Mitnehmen tun wir viele neue Erfahrungen und Erlebnisse, Wissen Åber andere Kulturen,
eine andere Sicht auf Migranten und dass Wissen, wie man eine Ausstellung organisiert.
Schade fanden wir, dass es manchmal stressig war sich am Projekt, neben Schule und Hausaufgaben zu beteiligen, dass es manchmal schwer war Informationen zum Thema zu finden,
dass wir die Idee mit den Straàeninterviews nicht weiter verfolgt haben und dass unser Arbeitsplatz nicht immer aufgerÉumt war.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
82
Projektgruppe:
Charlotte MÅnstermann; Juliane MÅnstermann; Lena Gryglewski; Kristina Backhaus, Claire
Villiers, Roman Schulze (Grafische UnterstÅtzung), Larissa Weber (Projektleitung).
Die Ausstellung wurde im Rahmen des Jugendprogrammes ZeitensprÅnge erarbeitet, und
gefÄrdert durch die Stiftung Demokratische Jugend, der Senatsverwaltung fÅr Bildung, Wissenschaft und Forschung und respectABel. Begleitet durch den Landesjugendring Berlin.
Menschen in Moabit kommen aus Frankreich
Menschen in Moabit sind Christen
Das Thema Migration
Im 19. Jahrhundert und in der ersten HÉlfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland vor allem ein Auswanderungsland, doch seit Mitte der 1950er Jahre ist es eines der wichtigsten
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
83
europÉischen ZiellÉnder von Migranten. Dabei lassen sich verschiedene Formen der Zuwanderung unterscheiden, wie etwa die Anwerbung von Gastarbeitern, der Zuzug von Aussiedlern sowie die Aufnahme von Asylbewerbern.
Seit Beginn der 1990er Jahre ist Einwanderung und Integration ein wichtiges bzw. kontrovers
diskutiertes innenpolitisches Thema. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt verlassen
ihre Heimat, um ihren Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verlegen.
Mehr als 150 Millionen Menschen weltweit leben als Migranten in einem Staat, der nicht
ihre ursprÅngliche Heimat ist. Dies entspricht etwa der doppelten BevÄlkerungszahl der
Bundesrepublik. Internationale Migration geht aus von Menschen, die ihre Familien zusammenbringen mÄchten, von hoch ebenso wie niedrig qualifizierten Arbeitsmigranten sowie
von Asylbewerbern und anderen FlÅchtlingen.
Einige wollen nur fÅr kurze Zeit an einem fremden Ort bleiben, andere fÅr mehrere Jahre
oder gar den Rest ihres Lebens. Staaten haben immer wieder versucht, Migration durch
Gesetze zu steuern (Bundeszentrale fÅr politische Bildung).
Die ersten Bewohner Moabits
Erst im Jahre 1716 entstand die erste Kolonie. Zwischen der heutigen Strom- und Werftstraàe wurden 24 Parzellen an Hugenotten, franzÄsische, religiÄs verfolgte FlÅchtlinge, vergeben, um WohnhÉuser und Maulbeerbaumplantagen zur Seidenraupenzucht zu errichten.
Der Name èMoabiter Landê entstand hÄchstwahrscheinlich mit dieser ersten Ansiedlung der
Hugenotten und wird 1738 erstmals erwÉhnt. Er geht zurÅck auf das Land der Moabiter, das
im Alten Testament Asylland fÅr die flÅchtenden Israeliten war. So wie die Israeliten das
gelobte Land Kanaan Åber den Jordan sehen konnten, waren die Franzosen von der florierenden und anziehenden Stadt Berlin durch die Spree getrennt.
Die franzÄsischen Einwanderer scheiterten mit ihren Unternehmungen sehr bald und verkauften ihre GrundstÅcke an wohlhabende Berliner, die sich dann LandhÉuser errichteten.
Mehrere GasthÉuser und SchÉnken entstanden, unter anderen das des Franzosen Martin.
Das Gebiet nordwestlich der franzÄsischen Kolonie verdankt ihm den Namen „Martinickenfelde“. Moabit blieb also lange Ausflugs- und Erholungsort, vor allem fÅr die èkleinen Leuteê
aus Berlin (www.moabitwest.de).
Menschen in Moabit. Waren nicht immer willkommen
Menschen in Moabit sind Berliner
Heimat der Industrie und der Arbeiter
Die erste Phase der Industrialisierung fand am Ufer der Spree, im Gebiet Alt-Moabit, Stromstraàe, Kirchstraàe statt. Verschiedene Industriezweige siedelten sich dort an. Schon 1835
verlegte F. A. Schumann seine Porzellanmanufaktur von Sachsen nach Moabit. In der NÉhe
grÅndete Schomburg 1853 seine Porzellanfabrik, so dass das Gebiet Standort der Moabiter
Porzellanindustrie wurde. 1879 nahm die Carl Bolle Molkerei die Arbeit auf, expandierte
1886 auf dem GelÉnde der Schumann Porzellan-Manufaktur und entwickelt sich zum modernsten Betrieb der Branche in Europa.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
84
Der Ästliche Teil Moabits wurde auàerdem von MilitÉr und Justizeinrichtungen geprÉgt. Seit
der Eingemeindung 1861 gehÄrt Moabit verwaltungsmÉàig zu Berlin und wurde bei den
neuen groàen stÉdtischen BebauungsplÉnen berÅcksichtigt. Die Infrastruktur wurde ausgebaut: neue Straàen angelegt, neue Wohnungen, BrÅcken und KanÉle gebaut. Die daraus
resultierende BevÄlkerungszunahme ist auch Ursache fÅr die Errichtung von Schulen, Kirchen, KrankenhÉusern und Markthallen.
Die zweite Phase der Industrialisierung fand im heutigen Moabit-West statt. Auf den Martinickenfeldern grÅndete L. LÄwe 1888 die Waffen- und Munitionsfabrik. Zusammen mit AEG
nahm er lange eine dominierende Stellung im sozialen und politischen Leben des Viertels ein
(www.moabit-west.de).
In der Zeit des Nationalsozialismus
èJeder Deutsche ist uns herzlich willkommen! ê Einen Satz wie diesen konnte man im Nationalsozialismus (1933-1945) an vielen Äffentlichen PlÉtzen (BahnhÄfe, Schulen, Amtsstuben
usw.) finden. Der oben genannte Spruch beinhaltet wesentliche GrundsÉtze der nationalsozialistischen Ideologie. Von Immigranten verlangten sie einen so genannten Arier-Nachweis.
Diese wurde mit Hilfe von StammbÉumen erstellt. Sollte auch nur ein Groàelternteil Jude
sein, galt man als nicht èrassenreinê. Einwandern war also recht schwierig, aber auch das
Auswandern war keinesfalls problemloser. Auf der Konferenz von Evian im Juli 1938. Dort
beschlossen fast alle europÉischen Staaten, dass sie keine jÅdischen FlÅchtlinge mehr aufnehmen werden. Die Art und Weise, wie dort Åber die Auswanderungsquote der Juden verhandelt wurde, lÄst bei uns Befremden aus. Wie mÅssen sich die Menschen damals gefÅhlt
haben, die keiner mehr wollte?
Nachkriegszeit (1945-1972)
Im Jahr 1945 wurde Tiergarten, also auch Moabit, Teil des britischen Sektors. Der Wiederaufbau musste geleistet werden, da so viele GebÉude zerstÄrt oder stark beschÉdigt waren.
Zwischen 1958 und 1961 wurde auch Moabit an das U-Bahnnetz angeschlossen. FÅr viele,
wenn auch nicht fÅr alle, war die Nachkriegszeit eine echte Befreiung: fÅr die Konzentrationslagerinsassen, fÅr die in der Zeit des Nationalsozialismus politisch Verfolgten, fÅr auslÉndische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. FÅr die meisten anderen hatte bedeutete es
kaum groàe VerÉnderungen.
Nach der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee und die Kapitulation im Mai 1945 wurde
Berlin wie das gesamte Deutschland in vier Sektoren aufgeteilt. Die Sektoren der Westalliierten (USA, Groàbritannien und Frankreich) bildeten den westlichen Teil der Stadt, wÉhrend
der Sektor der Sowjetunion den Ostteil bildete.
Die zunehmenden politischen Differenzen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion
fÅhrten 1948/49 zu einer wirtschaftlichen Blockade West-Berlins, die die Westalliierten mit
der so genannten LuftbrÅcke Åberwanden. Nach der GrÅndung der demokratischen BRD im
Westen Deutschlands und der DDR im Osten Deutschlands im Jahr 1949 verschÉrfte sich der
Kalte Krieg auch in Berlin. WÉhrend die Bundesrepublik ihre Hauptstadt nach Bonn verlegte,
was zunÉchst als Provisorium gedacht war, ernannte die DDR Ost-Berlin zur Hauptstadt der
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
85
DDR. Der Ost-West-Konflikt gipfelte im Bau der Berliner Mauer durch die DDR am 13. August
1961.
Menschen in Moabit. Kommen aus der TÉrkei
Menschen in Moabit sind FlÉchtlinge
So genannte Gastarbeiter
In den 60er und 70er Jahren wurden viele auslÉndische Gastarbeiter nach Berlin geholt. Sie
zogen auch nach Moabit. Heute macht ihr Anteil um die 30% der Moabiter BevÄlkerung aus,
inzwischen in der dritten Generation. è Die Zahl der westdeutschen ErwerbstÉtigen ging
1960-1972 aufgrund der Altersstruktur um 2,3 Millionen zurÅck. Aber es wurden ArbeitskrÉfte gebraucht- und die holte sich die deutsche Industrie aus den Érmeren LÉndern Europas. Ab 1960 kamen die so genannten „Gastarbeiter“ in grÄàeren Zahlen zunÉchst vor allem
aus Italien, Griechenland und Spanien, spÉter auch aus Jugoslawien und schlieàlich aus der
TÅrkei. […] Die sich „freiwillig“ entschieden hatten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen in
ihrem Heimatland ihnen keine oder nur schlechte MÄglichkeiten boten, gerieten in der Bundesrepublik nicht selten in VerhÉltnisse, die sie sich […] nicht hÉtten trÉumen lassen.
In der ersten Phase der AuslÉnderbeschÉftigung bis ca. 1961 wurden im bayerischen Dachau
italienische, spanische und griechische Arbeiter mit ihren Familien in den halbverfaulten
Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau einquartiert. Die deutsche BevÄlkerung erleichterte den auslÉndischen Kollegen die EingewÄhnung nicht sonderlich. „Sie sind
feige, dreckig und geil. Sie pÄbeln blonde MÉdchen an und machen Jagd auf unsere Ehefrauen. Wer sich mit ihnen anlegt, bekommt ein Messer zwischen die Rippen. Sie haben nur
Weiber, Vino und Spaghetti im Kopf“ beschrieb GÅnter Wallraff 1969 die gÉngigsten Vorurteile gegenÅber AuslÉnder. ê Aus: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): „da sind wir keine
AuslÉnder mehr“, Berlin 1993.
Moabit in den 90er Jahren
In den 90er Jahren fand in Moabit die grÄàte VerÉnderung im Beussel-Kiez statt. In diesen
Jahren stieg der AuslÉnderanteil im Beussel-Kiez vom 31,9 auf 36,9 % an. Obwohl ab 1993
Menschen die Asyl in der Bundesrepublik Deutschland suchen, aber Åber fremde LÉnder
einreisen, in denen z.B. kein Krieg oder politische Verfolgung stattfindet, kein Recht mehr
haben als Asylberechtigte anerkannt zu werden. Diese Regelung (Artikel 16a aus dem
Grundgesetzt), wurde am 1. Juli 1993 wegen sehr hoher Asylbewerberzahlen, 40.000 pro
Jahr, eingefÅhrt. Von nun an gilt die so genannte „Drittstaatenregelung“ die besagt, dass
Migranten die Åber ein sicheres „Drittland“ einreisen, dort Asyl beantragen mÅssen.
Die grÄàte ethnische Gruppe sind in den 90er Jahren im Beussel-Kiez neben den deutschen,
arabischen und tÅrkischen Bewohnern auch Menschen aus Ex-Jugoslawien, die wegen eines
BÅrgerkrieges (1992-1995) flÅchteten und sich hauptsÉchlich in West-Berlin ansiedelten. In
dieser Zeit gab es immer wieder offene Konflikte, die durch die sowieso schon vorhandenen
sozialen Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen hervor gerufen wurden. Auch
das Bildungs- und Einkommensniveau fÉllt, in den 90er Jahren im Beussel-Kiez stark ab und
sozial besser gestellte Bewohner ziehen weg oder in andere Gebiete Moabits.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
86
Menschen in Moabit kommen aus der ganzen Welt
Menschen in Moabit sind hier zu Hause
Situation heute
Arbeitsemigranten kamen immer nach Moabit. Am Anfang der Industrialisierung stammten
sie aus lÉndlichen Gebieten wie Schlesien, Preuàen, Polen. In den 60er und 70er Jahren des
20. Jahrhunderts wurden viele tÅrkische Arbeiter nach Berlin geholt, die jetzt in der dritten
bis vierten Generation hier leben. Die arabische Gemeinschaft bereichert das gemeinsame
Leben mit ihren zahlreichen GeschÉften. Deutsche und Personen aus dem frÅheren Jugoslawien, Afrika oder Asien leben hier in direkter Nachbarschaft. Der Anteil auslÉndischer
StaatsbÅrger an der Moabiter BevÄlkerung betrÉgt um die 36%.
NeukÄlln, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte sind die Bezirke in Berlin mit dem grÄàten Anteil nichtdeutscher StaatsangehÄrigen: In Marzahn-Hellersdorf und Treptow-KÄpenick sind
es 0-5%, in Lichtenberg, Pankow und Reinickendorf 5-10%, in Spandau und Steglitz-Zehlendorf 10-15%, in Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-SchÄneberg 20-25% und in
NeukÄlln, Friedrichhain und Mitte sind es 25% und mehr.
Heute befinden sich unter den Migranten in Berlin zum Groàteil tÅrkisch stÉmmige Menschen. Ein Problem ist es, wenn zu viele Migranten desselben Landes an einem Ort leben,
was in Moabit der Fall ist. Denn somit brauchen sie sich nicht zu integrieren und kÄnnen weiterhin ihre Kultur in tÅrkischen MÉrkten, bei Friseuren, in BÉckereien etc. ausleben. Das birgt
jedoch Schwierigkeiten fÅr sie, da sie somit nicht die Landessprache lernen mÅssen, und sich
somit in anderen Teilen Berlins nicht richtig zu Recht finden kÄnnen.
Ab dem 1.September 2008 soll ein EinbÅrgerungstest fÅr AuslÉnder eingefÅhrt werden, der
ihnen die Integration erleichtern soll. Die EinbÅrgerungsbewerber mÅssen nachweisen kÄnnen, dass sie Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der LebensverhÉltnisse
in Deutschland haben.
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Pfarrer Bartsch und die Konfirmierten 1994
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
87
Fahrt nach Taizå 02.07.-10.07.2011
Von Christian Syperek
Die ev. Jugendarbeit der Region Tiergarten, deren Schwerpunktstelle seit
01.01.2011 in der St. Johannis-Gemeinde angesiedelt ist, lÉdt fÅr den Sommer
2011 alle Jugendlichen der Region ab einem Alter von 14 Jahren zu einer Fahrt
zum Jugendtreffen im franzÄsischen Taizá ein.
Taizá ist ein kleines Dorf im franzÄsischen Burgund, in dem seit 1945 eine internationale
Äkumenisch-christliche Gemeinschaft von BrÅdern lebt, die das Evangelium als Grundlage
ihres Lebens gewÉhlt haben.
Jede Woche kommen viele Hunderte, ja oft Tausende von Jugendlichen aus ganz Europa und
auch aus anderen Teilen der Welt zu Besuch, um das Leben der BrÅder fÅr eine Woche zu
teilen. Gemeinsame Gebete, schlichte GesÉnge und GesprÉche „Åber Gott und die Welt“ und
die Erledigung einfacher Arbeiten, die im Rahmen der Jugendtreffen anfallen, bilden den
Tagesablauf in Taizá.
Als Teilnehmer an den Jugendtreffen hat man die Chance, viele Jugendliche aus anderen
LÉndern kennen zu lernen, zu lernen, wie sie denken, leben, welche Lieder bei ihnen gesungen werden und vieles mehr…
Das Leben in Taizá ist sehr einfach. Ebenso einfach ist es in Taizá, offen und neugierig auf
einander zuzugehen und auch mal ein wenig Ruhe zum Nachdenken zu finden – Åber sein
Leben, Åber seinen Glauben und Åber alles, was einem wichtig ist. Eine Woche in Taizá kann
so zu einer besonderen und sehr prÉgenden Erfahrung werden.
Organisiert und durchgefÅhrt wird die Fahrt gemeinsam von Jugenddiakon Florian Fechtner,
Pfarrerin Rebiger (Hl.-Geist-Gemeinde) und Christian Syperek aus der ErlÄsergemeinde. Ein
wichtiges Ziel der gemeinsamen Fahrt ist es, die ev. Jugend der Region in einen engeren Kontakt zueinander zu bringen – auch im Hinblick auf die regionale Vorbereitung des Internationalen Taizá-Jugendtreffens 2011/2012, das vom 28.12.2011 bis zum 01.01.2012 mit mehreren zehntausend Jugendlichen aus ganz Europa erstmalig in Berlin stattfinden wird. Weitere
Informationen unter: ev(dot)jugendtiergarten(at)web(dot)de
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
88
SpÖtcafå
Von Edda Straakholder
Im Herbst 1997 beteiligte sich die ErlÄserkirchengemeinde erstmals an dem regionalen Äkumenischen SpÉtcafá-Projekt, das ursprÅnglich von der Heilands-Kirchengemeinde initiiert
worden war. Die Idee ging davon aus, dass an mÄglichst jedem Wochentag eine Kirchengemeinde in der Region Tiergarten/ Moabit von 17-21 Uhr eine Art WÉrmestube fÅr Obdachlose und andere BedÅrftige anbieten sollte. FÅr die Verpflegung gab es ZuschÅsse vom Bezirksamt im Rahmen der KÉltehilfe von November bis Ende MÉrz.
Die Hilfe an allen sieben Tagen konnte in den 13 Jahren des SpÉtcafábetriebs nicht immer
geleistet werden. Aber nach wie vor sind fÅnf Tage in der Woche durch die Moabiter Gemeinden – evangelische und katholische – abgedeckt. Die ErlÄsergemeinde legte sich von
Anfang an auf den Sonnabend fest. Da andere Obdachloseneinrichtungen gerade samstags
geschlossen sind, war mit einem groàen Bedarf zu rechnen. Nach der Anlaufphase kamen
denn auch mehr als 50 Personen, hauptsÉchlich MÉnner. In diesem Winter waren es zwischen 70 und 100 pro éffnungstag.
Alle erhalten kostenlos Kaffee oder Tee, soviel sie wollen. DarÅber hinaus gibt es Suppen
(meist aus der „KiezkÅche“ in der Rathenower Straàe) und leckeres warmes Essen aus einem
Seniorenheim an der Bundesallee, zeitweilig auch Backwaren aus einer BÉckerei in Alt Moabit. Fisch, Fleisch und gutes GemÅse stehen dabei hÉufig auf dem Speiseplan, oft gibt es
auch ein schÄnes StÅck Kuchen zum Nachtisch.
Nicht zu vergessen sei Åbrigens, dass wir vor der Trennung von unserem Jugendhaus sogar
noch eine ganze Weile einen zweiten Ausgabe-Ort besaàen, den Frau Lehmann-RÄmling und
Ehepaar Urban mit einigen Helfern betreute und der immer freitags belegte Brote u. a. anbot.
Das Ganze ist natÅrlich nur mÄglich durch einen Pool von Ehrenamtlichen, die bereit sind,
samstagnachmittags in der SpÉtcafákÅche zu arbeiten, d.h. die Speisen aufzuwÉrmen, auszugeben und nachher auch wieder alles abzuwaschen. Manche der Ehrenamtlichen kommen
den Winter Åber jede Woche, manche machen einmal im Monat oder alle zwei Monate
diesen Dienst. Jede Woche arbeiten etwa vier bis fÅnf Helfer mit. Alle sind uns herzlich
willkommen und wir danken jedem einzelnen fÅr diese wichtige Arbeit.
Nicht unerwÉhnt bleiben darf in diesem Zusammenhang unsere Kleiderkammer, die wir auf
der Seitenempore unserer Kirche eingerichtet haben. Gerade fÅr die SpÉtcafá-Besucher im
Winter bietet die Kleiderkammer eine MÄglichkeit, unkompliziert und schnell an warme
KleidungsstÅcke zu kommen. Wir danken den Gemeindegliedern fÅr ihre Kleiderspenden
und Frau Babbel fÅr die gute Betreuung der Kleiderkammer.
Und last but not least: herzlichen Dank an Pfarrer Massalsky, der drei- bis viermal pro Woche
all die leckeren Speisen besorgt, die unser SpÉtcafá so attraktiv machen!
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
89
Laib und Seele
Von Wolfgang Massalsky
Das Laib und Seele-Projekt wurde 2006 von der „Berliner Tafel“ in Zusammenarbeit mit den
Kirchengemeinden und dem rbb ins Leben gerufen. Viele erkannten, dass die rapide Verschlechterung der LebensverhÉltnisse vieler sozial schwach aufgestellter Menschen nach
zusÉtzlichen Hilfsangeboten verlangt, insbesondere die Hartz IV-Regelung lieà die Schlangen
vor den SuppenkÅchen immer lÉnger werden. Dieses Projekt geht dabei davon aus, dass
sowohl die „Tafel“ als auch die beteiligten Gemeinden selber nicht verbrauchte Lebensmittel
aus den SupermÉrkten abholen und an Arbeitslose und bedÅrftige Rentner verteilen.
Inzwischen beteiligen sich etwa 40 Gemeinden berlinweit an diesem Projekt.
Im Gegensatz zum SpÉtcafá lÉuft es das ganze Jahr Åber, jeden Donnerstag mit Ausnahme
von Feiertagen. Wir haben einen Stamm von mehr als 20 ehrenamtlichen Helfern fÅr „Laib
und Seele“, von denen jeweils ca. 14-15 pro Woche da sind. Wichtig sind auch die Fahrer, die
mit privatem PKW oder mit dem Gemeindebus verschiedene LÉden anfahren und vor allem
auch Waren aus dem Lager der „Berliner Tafel“ selbst abholen. Die Zusammenarbeit funktioniert erstaunlich gut und reibungslos.
In unsere Ausgabestelle kommen jede Woche Menschen aus ca. 100 Haushalten, d.h. wir
versorgen insgesamt etwa 130 Erwachsene und 30 Kinder aus ganz Moabit. Leider kÄnnen
wir auch nur ausgeben, was wir haben, und das ist manchmal nicht soviel, wie wir gerne hÉtten.
Wir danken auch den Ehrenamtlichen aus „Laib und Seele“ fÅr ihre meist sehr regelmÉàige
Mitarbeit beim Vorbereiten der Waren und bei der Warenausgabe. Die ErlÄsergemeinde ist
die einzige „Laib und Seele-Gemeinde“ in Moabit, und dieses Projekt hat die Gemeinde,
ebenso wie das SpÉtcafá, sehr geprÉgt. Herzlichen Dank besonders auch an Edda Straakholder, ohne deren Entschlossenheit und regelmÉàige Mitarbeit die Gemeinde diese Arbeit
nicht aufgenommen und bewÉltigt hÉtte.
„Laib und Seele“: Kurz vor dem Beginn der Lebensmittelausgabe.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
90
4. Laudate Dominum
100 Jahre Kirchenmusik in der ErlÄserkirche
von Kantorin KMD Edda Straakholder
Betrachtet man die Liste der Kirchenmusiker und Kirchenmusikerinnen an der ErlÄserkirche
seit 1911, so ist man erstmal erstaunt Åber die geringe Anzahl, obgleich durchgÉngig seit
1913 Kirchenmusiker hier beschÉftigt waren. Und eine von ihnen, Arlene Schneider, gab sogar nur ein kurzes Gastspiel von anderthalb Jahren. Da mÅssen es die anderen ja besonders
lange ausgehalten haben!
Da war zunÉchst Paul Nitsche, der den kirchenmusikalischen Dienst in ErlÄser von 1913 bis
1924 ausÅbte, wie damals Åblich, natÅrlich im Nebenberuf. åber seine TÉtigkeitsfelder auàer
dem gottesdienstlichen Orgelspiel ist nichts bekannt, es heiàt aber, er sei „Konzertorganist
und Chordirigent“ gewesen.
Die erste Orgel der ErlÄserkirche wurde 1910/11 von der Firma Alexander Schuke aus Potsdam gebaut und war offenbar zur Einweihung der Kirche fertig. Sie hatte 26 Register und
kostete damals 7250 Mark. Der OrgelbausachverstÉndige warnte vor diesem zu niedrigen
Preis und der mutmaàlich schlechten QualitÉt, war aber mit der Orgel bei der Abnahme
Ende Mai 1911 erstaunlicherweise doch recht zufrieden: „Wie derselbe (gemeint ist der Orgelbauer Schuke) dabei bestehen kann, begreife ich nicht. Jedenfalls macht er damit der ErlÄserkirche ein bedeutendes Geschenk“
Der zweite Kirchenmusiker der Gemeinde, Johannes Kurth, wirkte 36 Jahre an der ErlÄserkirche, von 1924 bis 1960, auch er als Organist und Chorleiter im Nebenberuf, allerdings im
BeamtenverhÉltnis. Neben seiner Stelle an der ErlÄsergemeinde hatte er ein groàes Orchester, mit dem er viele Konzerte gab, mehrere ChÄre und eine Reihe OrgelschÅler. Er starb
1960 im Alter von 61 Jahren.
Hauptberuflich wurde die Kirchenmusikstelle als A-Stelle
im Jahr 1960 mit dem Dienstantritt von Kantor Johannes
Carl. Herr Carl baute gleich zu Anfang mit der Orgelbaufirma Karl Schuke/Berlin die neue Orgel, die 1963 eingeweiht wurde. Diese Orgel, die inzwischen auch schon fast
50 Jahre alt ist, kostete damals (mit 23 Registern) 87.400
DM, heute wÅrde sie nach Auskunft der Firma Schuke
440.000 € kosten!
Unsere Orgel gilt in Berlin unter Experten als eine besonders gelungene Schuke-Orgel, sowohl in klanglicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die Éuàerst geschickte Disposition (= Auswahl der Register),
angesichts eines auch in den 60er Jahren knappen Gemeindehaushalts. Herr Carl war Åber
die Gemeindegrenzen hinaus bekannt, durch seine groàe Chorarbeit mit Bachkantaten,
Weihnachtsoratorium und vielen anderen Konzerten.
Kantor Johannes Carl
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
91
Als er Mitte der siebziger Jahre realisierte, dass die Gemeinde das versprochene dritte Manual der Orgel nicht mehr bauen wÅrde – die Gemeinde steckte gerade ihr ganzes Geld in
den Ausbau des neuen „Jugendhauses Zinse“ fÅr offene Jugendarbeit, das war politisch angesagt – da kehrte er der ErlÄsergemeinde den RÅcken und nahm 1976 die Kirchenmusikstelle in St. Nikolai/Spandau an.
Von 1976 bis 1977 kam dann die schon erwÉhnte Kirchenmusikerin Arlene Schneider, bis ich
am 1.Oktober 1977 mit 23 Jahren meinen Dienst in der ErlÄsergemeinde begann.
Inzwischen war die Stelle aufgrund der ersten landeskirchlichen Sparmaànahmen nur noch
eine B-Stelle. Vom Glanz der âra Carl war auch nicht mehr viel zu spÅren: meine Arbeit am
Anfang erstreckte sich auf 14 Kantoreimitglieder, fÅnf FlÄtenkinder und einen kleinen Kinderchor.
Und nur ganz langsam und Schritt fÅr Schritt ging es aufwÉrts: ab etwa 1980 vergrÄàerten sich die Kantorei und
auch der Kinderchor, 1984 wurde ein schnell wachsender
Posaunenchor gegrÅndet. Seit Mitte der achtziger Jahre
gewann die Kinderchorarbeit an Ausstrahlung, auch Åber
die Grenzen der Gemeinde hinweg. Durch die enge
Zusammenarbeit mit der KindertagesstÉtte gab es eigentlich durchgehend etwa 120 Kinder im Kinderchor.
Seit 1983, bis heute, fahren die Grundschulkinder jedes
Jahr in den Herbstferien auf Kinderchorfahrt und Åben ihr
Weihnachtsprogramm, zuerst in den Solling und ins Weserbergland, nach der Wende dann
nach Halbe und nach Dahme/ Mark.
Jedes Jahr fÅhrt der Kinderchor eine Kinderoper oder, wie es heute heiàt, ein Kindermusical
auf, sowie ein mehr oder weniger umfangreiches Krippenspiel zu Weihnachten. Die Élteren
Kinder singen oft bei den AuffÅhrungen der Kantorei mit, wie z.B. beim Weihnachtsoratorium 2009.
Kantorin Edda Straakholder. Seit 1977 an
der ErlÄserkirche.
Weihnachtsoratorium 2009 mit Kantorei und Kinderchor.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
92
Auch die Kantorei wurde immer grÄàer und leistungsstÉrker. Seit 1989, als wir auf dem Berliner Kirchentag mit der Dahlemer Kantorei zusammen das „Oratorium nach Bildern der
Bibel“ von Fanny Mendelssohn-Hensel auffÅhrten, folgte in jedem Jahr ein anspruchsvolles
Konzert mit Orchester: verschiedene AuffÅhrungen des „Weihnachtsoratoriums“ von Bach,
das Requiem von Mozart, die MatthÉuspassion von Bach, die „SchÄpfung“ von Haydn, und
nun in diesem Jahr der Einstieg in die h-Moll-Messe von Bach mit inzwischen etwa 60 stÉndigen Kantoreimitgliedern. Ein groàer und engagierter Jugendchor in den Jahren 1995-2005
trug sehr zur Steigerung der LeistungsfÉhigkeit der Kantorei in den vergangenen Jahren bei.
Als neuen Arbeitszweig begann ich 1996 mit einem Seniorenchor fÅr die Éltere Generation,
der hÉufig im Gottesdienst singt und inzwischen auch fast zwanzig Mitglieder hat.
Die andere Seite des Alterspektrums wurde ausgeweitet durch die erfolgreiche EinfÅhrung
eines Eltern-Kind-Singens und des Singens mit der Krippengruppe der Kita, d.h. das Einstiegsalter fÅr die Kinder liegt jetzt nicht mehr bei 3-4 Jahren wie frÅher, sondern bei ca. 1
Jahr, was mir viel Freude macht.
Eine Konstante in meiner Arbeit, und auch einer der GrÅnde, weshalb ich mich nie in einer
anderen Gemeinde beworben habe, ist die wunderbare Orgel. Seit 1985 habe ich jedes Jahr
ein groàes Orgelkonzert gespielt, bisweilen gab es auch eine Orgelreihe mit auswÉrtigen
Organisten.
Aber erst 1995 war mein eigenes Repertoire groà genug, dass ich es gewagt habe, die wÄchentlichen Sommermusiken jeden Dienstagabend ins Leben zu rufen.
Es sind jeweils etwa 15 Konzerte in vierzig Minuten
LÉnge. Diese Konzerte werden vom Publikum gut
angenommen und sind Åber die Grenzen von Moabit hinaus bekannt. Besonders in den Sommerferien steigt
die Zahl der Besucher/innen auf fÅnfzig und mehr.
1997 kamen dann als Pendant die winterlichen OrgelAndachten von November bis Ostern dazu, mit einem
nicht so groàen Orgelanteil wie in den Konzerte, aber
mehr Raum fÅr Musik als in einem normalen Sonntagsgottesdienst. Auch diese sind mit ca. 15 Personen, zur
Passionszeit bis 25 Personen meistens erstaunlich gut besucht.
Seniorenchor 2011.
Die Karl-Schuke-Orgel von 1963.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
93
Bleibt die kirchenmusikalische Arbeit in den Gottesdiensten, die mir trotz aller konzertanten
Aufgaben immer sehr am Herzen lag. Aufgrund der vielen, auch selbstÉndig singenden Chorgruppen feiern wir die meisten Gottesdienste, auàerhalb der Ferien, mit einem Chor im Gottesdienst. Manchmal wirkt auch ein Vokal- oder Instrumentalsolist mit.
Im Hinblick auf die gottesdienstliche Gestaltung ist besonders unsere letzte NeugrÅndung
sehr aktiv: der Posaunenchor wurde nach lÉngerer Ruhephase vor drei Jahren wiederbelebt.
Er probt jetzt mit etwa zwÄlf fortgeschrittenen und zahlreichen NachwuchsblÉsern unter
professioneller Leitung von Christian Syperek und spielt fast jeden Monat einmal im Gottesdienst.
Mein ResÅmee nach inzwischen mehr als 33 Jahren ErlÄser:
1. die 36 Jahre von Johannes Kurth habe ich noch nicht erreicht, das kommt aber hoffentlich noch.
2. Ich habe es immer sehr genossen, mit so vielen Menschen in allen Altersgruppen zu
arbeiten, von 1 bis 85. Vielen Dank an alle, die mitgemacht haben! åbrigens: Auch
wenn es manchmal irgendwo hakt oder wenn es mal Durststrecken gibt: langweilig
ist es mir bisher noch nie geworden.
3. Ich hab auch noch genug Ideen fÅr die nÉchsten Jahre!
Ernennung von Edda Straakholder zur Kirchenmusikdirektorin 2002. Es gratulierten LandesKirchenmusikdirektor Christian Schlicke und OberkirchenrÖtin Friederike Schwarz.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
94
Trauschein der Eheleute
KÖthe Klamm und Karl
Fehringer von 1931. Eltern
von Waltraud Berndt, geb.
Fehringer. (Auszug aus
dem Familienbuch).
Erinnerungsfotos zur Einsegung von Waltraud Fehringer vom 11.04.1954.
5. Stimmen aus der Gemeinde
Familie Berndt – Ein Leben mit der ErlÄserkirche
In unserer Gegenwart, die bestimmt ist von MobilitÉt und ungeraden Berufswegen ist es
nicht mehr selbstverstÉndlich, dass eine Familie die kirchlichen Amtshandlungen ausschlieàlich in ihrer von Kindheit an gewohnte Gemeinde erlebt, wie es etwa bei der Familie von
Waltraud Berndt der Fall ist.
Ihre Mutter KÉthe Klamm wurde noch in der unzerstÄrten Kirche 1920 von Pfarrer Manger
konfirmiert, sie heiratete 1931 dort mit dem Segen durch Pfarrer Streckenbach ihren Mann
Karl Fehringer, die Tochter Waltraud Fehringer konfirmierte Pfarrer SchÄtz zu Ostern 1954 -durch die Kriegsfolgen noch im Gemeindesaal.
Getraut wurde Waltraud mit Klaus Berndt 1960 im neu gestalteten Kirchenraum und jÅngst,
am 5. Dezember 2010 durfte das Ehepaar Berndt in der ErlÄserkirche seinen Goldene Hochzeit feiern – diesmal eingesegnet durch die Pfarrerin Reichwald-Siewert. MÄgen viele Familien in Moabit diese langjÉhrige Verbundenheit mit ihrer Gemeinde erfahren!
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
95
Konfirmationsscheine der Eheleute Berndt.
Klaus Berndt 23.03.1952 (links). Waltraud Berndt, geb. Fehringer 11.04.1954 (rechts).
Das frisch vermÖhlte Brautpaar Berndt vor der ErlÄserkirche und der Trauschein aus dem
Familienbuch (05.12.1960).
50 Jahre spÖter feiert das Ehepaar Berndt seine Goldene Hochzeit in der ErlÄserkirche.
Wiedereingesegnet durch Pfarrerin Reichwald-Siewert.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
96
Ein GeburtstagsstrauÑ mit vielen guten WÅnschen
Anhand eines Fragebogens von Pfarrerin Reichwald-Siewert (Gesammelte Antworten).
1. Wie lange sind Sie in der Gemeinde und was gefÖllt Ihnen dort?
Waltraud Berndt: Ich gehÄre der Gemeinde seit meiner Geburt 1940 bis zu meiner Hochzeit
im Dezember 1965 an und nun wieder seit Juli 2009 durch Zuzug. Mir gefallen die anregenden Gottesdienste und die Orgelandachten.
Thiede: Ich bin 1949 in der Gemeinde konfirmiert worden.
Marlies und Rolf Jaenke: Wir gehÄren der ErlÄsergemeinde seit 1973 bzw. 1962 an.
Margarete Grieger: Seit 1961 bin ich in der Gemeinde. Mir gefallen besonders die SeniorenNachmittage.
Matthias Urban: Seit 1974, dort konfirmiert, geheiratet und seit 33 Jahren im Chor!
Mir gefallen besonders die gesamte musikalische Arbeit sowie der ehrenamtliche Einsatz fÅr
BedÅrftige.
Rosemarie Gehrke: 1978 wurde meine Tochter durch Frau Reichwald- Siewert eingesegnet.
Es war nach meinem Umzug aus Spandau der erste Kontakt mit der ErlÄsergemeinde. 1978
ging ich in Rente und habe auàer gelegentlichen Gottesdiensten gern die anderen Angebote
der Gemeinde angenommen.
Ute Adam: Ich bin seit 25 Jahren in der ErlÄsergemeinde. Mir gefallen die Chorgemeinschaft
und der Halt, den ich dort bekommen habe.
Katharina Kira Prey: Seit ca. 1989, durch den Kindergarten bin ich in die Gemeinde gekommen. Mir gefallen besonders: Chorarbeiten Kinderchor, Jugendchor und die Kantorei, aber
auch die ‚neuen’ ChÄre wie Eltern-Kind-Singen oder ‚Minichor’ sowie das breit gefÉcherte
Angebot. Ob biblisch oder musikalisch: es ist fÅr jeden etwas dabei!
Olaf RÄnitz: Das wird jetzt gut 20 Jahre her sein, dass ich von der Reformationsgemeinde zur
ErlÄsergemeinde gewechselt bin. AuslÄser war, dass die Reformationskantorei AuflÄsungserscheinungen zeigte… Damals habe ich mich mit meinem Bruder nach einer neuen Gemeinde
in Moabit umgeschaut – und das Angebot der ErlÄserkirche entsprach meinen Vorstellungen. Auàerdem hat ein ehemaliger Klassenkamerad im Posaunenchor mitgespielt und mich
dann sozusagen fÅr die ErlÄsergemeinde geworben. Auch jetzt, da ich schon lange nicht
mehr in ‚Tiergarten’ wohne, ist die ErlÄsergemeinde fÅr mich ein wichtiges Standbein – auch
und gerade als eine Wurzel in meiner Heimat Moabit. Hier habe ich Freund- und Bekanntschaften geschlossen, singe in der Kantorei mit und nehme gerne als Lektor regelmÉàig
an Gottesdiensten teil. Mir gefÉllt vor allem die musikalische PrÉgung der Gemeinde.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
97
Isis Plucinski: Ich bin seit 1994/95 Mitglied der Gemeinde und bin ihr trotz meines Umzugs
1999 treu geblieben. Mir gefÉllt besonders, dass so viel fÅr die Kinder getan wird, z.B. Kinderchor, Kinderkirche, BlockflÄtenunterricht, Kantorei.
Inge Strauch: Ich bin etwa fÅnf Jahre Mitglied der Gemeinde.
Katja Babbel: Ich bin seit Åber sieben Jahren ehrenamtlich in der Gemeinde tÉtig und war
von Anfang an begeistert, welch umfangreiches Aufgabengebiet zum Helfen besteht. Mir
gefallen die schÄnen Andachten, die Orgelkonzerte, die Auftritte der Kantorei und die Veranstaltungen der Jugend in der Kirche, die von unseren Pfarrern und der Kantorin gestaltet
werden.
Christine Seliger: Seit 2006 bin ich Mitglied der Gemeinde. Mir gefÉllt die rege Gemeindearbeit, die fantastische Kirchenmusik und die sozialen Projekte.
Eva Maria Riebesell: Vor einigen Jahren, 2007 war es wohl, da bin ich in de Seniorenchor
gekommen. Die Chormitglieder waren alles nette Menschen und das Singen hat mir viel
Freude bereitet. Seit Åber 40 Jahren war ich kein Mitglied der Kirche mehr. Doch auf einmal
hatte ich auch Interesse an den Bibelstunden, die Herr Massalsky abhielt. Mir gefallen das
gemeinsame Lesen von Bibeltexten und das Diskutieren. 2009 hatte ich mich dann
entschlossen, der evangelischen Kirche beizutreten. Seitdem bin ich Mitglied der ErlÄserGemeinde und fÅhle mich sehr wohl damit.
Astrid Jacobs: In der Gemeinde bin ich seit vier Jahren. Mir gefallen der Kindergottesdienst,
die Orgelandachten, die meisten Predigten sowie das „Gemeindeleben“.
Michael Karig: Ich bin seit Februar 2008 Mitglied der Gemeinde. Mir gefÉllt vor allem der
Chor.
Nadine und Jan-Moritz Baudach: Wir leben seit knapp drei Jahren in Moabit und uns gefÉllt
das aktive Gemeindeleben.
2. Ein besonderes Ereignis/eine besondere Veranstaltung war fÅr mich:
Thiede: FeuerlÄschÅbungen in der Ruine, etwa 1947) und die Goldenen Konfirmation. Die
Wiedereinweihung der Kirche mit Bischof Dibelius (9. MÉrz 1958).
Waltraud Berndt: Meine Konfirmation am 11.4.1954 durch Herrn Pfarrer SchÄtz, noch im
Gemeindesaal im 1. Stock. Meine erste Reise mit dem JungmÉdchenkreis nach Eschwege im
Sommer 1954 unter Leitung von Christel Weber. Hochzeit am 2.12.1960 durch Herrn Pfarrer
Dr. Schulz in der Kirche. Goldene Hochzeit wÉhrend des 2. Adventgottesdienstes am
5.12.2010 durch Frau Reichwald-Siewert.
Marlies und Rolf Jaenke: Wir erinnern uns gern an die Faschings- und Sommerfeste und die
Jugendreisen nach England und Frankreich.
Matthias Urban: AuffÅhrungen der Kantorei wie der ‚SchÄpfung’ von Joseph Haydn und des
Deutschen Requiems von Johannes Brahms. Und natÅrlich meine Hochzeit im Jahr 2000.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
98
Rosemarie Gehrke: der Festgottesdienst zu einem 50. JubilÉum und vor allem die Konzerte
von und mit Frau Straakholder. Das Singen im Seniorenchor.
Ute Adam: Die Konfirmation meines Sohnes Sven Adam. Ich durfte fÅr ihn singen. Er ist dort
auch in den Kindergarten gegangen. Es hat ihn geprÉgt. Er ist Erzieher geworden und hat
jetzt auch bald die Ausbildung als Integrationserzieher fertig.
Katharina Kira Prey: Die MÄglichkeit, Gottesdienste musikalisch-kÅnstlerisch mitzugestalten:
Orgel spielen, solistisch oder im Chor singen. Ebenso die MÄglichkeit, bei der Austeilung des
Abendmahls zu helfen oder Texte zu lesen.
Olaf RÄnitz: Am 7. Juli 2007 sind wir, mein Mann Tim und ich, in der Charlottenburger Kirche
am Lietzensee in einem Gottesdienst am Tag der Eintragung unserer Partnerschaft gesegnet
worden. Solche Segnungsgottesdienste fÅr schwule und lesbische Paare sind in einigen
evangelischen Landeskirchen mÄglich. Ziemlich genau ein Jahr spÉter, am 6. Juli 2008, waren
meine Schwiegereltern zu Besuch in Berlin, sie feierten an diesem Wochenende ihre Goldenen Hochzeit, fÅr uns war am Montag die „Papierne Hochzeit“ nach einem Jahr dran. Tim
sprach heimlich Herrn Pfarrer Massalsky an, ob er nicht fÅr seine Eltern und fÅr uns einen
Segen sprechen kÄnnte – und Herr Pfarrer Massalsky sagte zu! Es war deutlich zu spÅren,
dass diese Segenshandlung an uns als Partner in einer schwulen Beziehung fÅr Herrn Pfarrer
Massalsky durchaus eine theologische Herausforderung darstellte. Dass er diese Herausforderung ohne Wenn und Aber angenommen hat, habe ich ihm damals sehr hoch angerechnet.
Isis Plucinski: Meine Hochzeit 1999 und die Gemeindefahrten und AusflÅge.
Inge Strauch: Das Wort Gottes ist die Hauptsache! Die musikalischen Darbietungen sind hervorragend!
Katja Babbel: Mit eines meiner schÄnsten Erlebnisse ist die ‚Offene Kirche’, wo ich um 12
Uhr nach dem Orgelspiel aus der Bibel vorlese. Auch ist das ‚SpÉtcafá’ eine wunderschÄne
Aufgabe, die ich mir auf den Leib geschrieben habe. Ein schÄnes Erlebnis ist noch der Kirchdienst fÅr mich, wenn ich zunÉchst im Gemeindesaal die Kaffeetafel vorbereite und dann die
Kollekte einsammele und sie zum Altar bringen darf.
Michael Karig: Die Jugendfeten 1968-1969 mit meiner ersten Liebe.
Christine Seliger: Als ich das erste Mal zum Gottesdienst kam, begrÅàte mich Frau Reichwald-Siewert persÄnlich und hieà mich willkommen. Wunderbar war das Brahms-Requiem.
Astrid Jacobs: Der 16 Uhr Gottesdienst am Heiligen Abend.
Eva Maria Riebesell: HÄhepunkte waren fÅr mich die Bibelstunden, die Chorproben und de
sonntÉgliche Gottesdienst. Ich freue mich natÅrlich besonders, wenn der Seniorenchor im
Gottesdienst singen darf, aber es gibt auch diverse andere ChÄre und auch Instrumentalmusik, die oft einen Gottesdienst zum Fest machen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
99
Nadine und Jan-Moritz Baudach: Ohne Frage unsere Hochzeit in der ErlÄserkirche im Juni
2010.
3. Ich wÅnsche der ErlÄsergemeinde fÅr die Zukunft
Thiede: Alles Gute fÅr die Zukunft und ein Weiterbestehen der Gemeinde.
Margarete Grieger: Alles Gute fÅr die Gemeinde
Waltraud Berndt: Eine gute Entwicklung der Gemeinde, genÅgend helfende HÉnde zur BewÉltigung der Aufgaben und auch ein gutes Einvernehmen der LeitungskrÉfte auch untereinander.
Marlies und Rolf Jaenke: Wir wÅnschen uns mehr Ehrenamtliche, die sich fÅr die Gemeinde
einsetzen.
Matthias Urban: Dass trotz des notwendigen Zusammengehens’ im Rahmen des Kirchensprengels ab/seit dem 1.1. dieses Jahres die bewÉhrte gute Arbeit wie die Kirchenmusik erhalten bleibt und wieder Menschen/Gemeindemitglieder zwischen 20 und 50 Jahren gewonnen werden kÄnnen.
Rosemarie Gehrke: Weiter eine erfolgreiche Gemeindearbeit, vor allem auch fÅr ’Laib und
Seele’.
Ute Adam: Weiter viel Musik und so einen guten Kindergarten.
Katharina Kira Prey: Dass sie bestehen bleibt, dass sie junge, neue Mitglieder dazu gewinnen
kann. Dass sie wÉchst! So sollten auch Familien mit ihren Kindern in die Kirche kommen und
nicht wegbleiben.
Olaf RÄnitz: Ich wÅnsche der ErlÄsergemeinde fÅr die Zukunft, dass bei allen Spar- und RationalisierungszwÉngen immer genug Freiheit fÅr ein vielseitiges und zugewandtes Angebot
bleibt. An der ErlÄsergemeinde laufen so viele Projekte und Angebote fÅr ganz unterschiedliche Zielgruppen und AnsprÅche – dieses Profil zu wahren ist wichtig.
Isis Plucinski: Viele engagierte Mitglieder, dass z.B. das ‚SpÉtcafá’ weiter aufrechterhalten
werden kann.
Inge Strauch: Dass die ErlÄserkirche auch in Zukunft gute VerkÅndiger hat!
Katja Babbel: Ich wÅnsche mir fÅr meine ErlÄserkirche, dass alles so bleibt wie es ist und
vielleicht noch ein paar mehr Jugendliche an den Gemeindearbeiten teilnehmen wÅrden.
Michael Karig: Alles Gute, Offenheit, FrÄhlichkeit, der liebe Gott sei mit ihr.
Christine Seliger: Dass sie mit diesem Profil eine eigenstÉndige Gemeinde bleibt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
100
Astrid Jacobs: Dass sie mehr Zulauf bekommt, besonders sich mehr junge Menschen fÅr die
Kirche interessieren, das Ehrenamt anerkannt wird, mehr Geld fÅr Angebote und Stellen.
Eva Maria Riebesell: Viele aktive Mitglieder
Nadine und Jan-Moritz Baudach: ein weiterhin engagiertes Gemeindeleben und verstÉrktes
Engagement der mittleren Generation.
Schlusswort
Von Heike MÅns
Wir erleben einen breiten Erinnerungsbogen. Die Éltesten ErwÉhnungen reichen Åber 80
Jahre zurÅck, die jÅngsten beschrÉnken sich auf zwei Jahre. In dieser Festschrift konnten
nicht alle Aspekte berÅcksichtigt werden, sie mÅssen weiterer Forschung vorbehalten sein.
Vielen gemeinsam ist die Erinnerung an die HÄhepunkte des Familienlebens Taufe, Hochzeit,
Konfirmation in der ErlÄserkirche, wobei immer wieder auch die Freude Åber die besonders
eindrucksvolle Kirchenmusik thematisiert wird.
Schaut man sich die Alterszusammensetzung des aktuellen Gemeinderates an, gewÉhlt 2010,
so dÅrfte der Wunsch eines verstÉrkten Engagements der mittleren Generation hier FrÅchte
tragen.
Aber auch Sorgen Åber die Folgen der aktuellen VerÉnderungen, das ZusammenfÅgen von
fÅnf Gemeinden zu einem ‚Sprengel’, sind zu spÅren. Diese Aufgaben mÅssen von allen gemeistert werden. Gerade auf den Gemeindekirchenrat kommen hier verantwortungsvolle
Aufgaben zu.
Zum aktuellen Gemeindekirchenrat gehÄren:
Jan Moritz Baudach
Dr. Katharina KrÉutlein
Annette Reichwald-Siewert, Pfarrerin
Christian Syperek
Christiane Vogel
Hans Windmeier
Astrid Jacobs
Wolfgang Massalsky, geschÉftsfÅhrender
Pfarrer
Edda Straakholder, Vorsitzende
Christian Tosch
Christel Weber
ErsatzÉlteste: Heike MÅns
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
101
6. Dokumentation
Auf diese Berichte und Dokumente wird in den vorher gehenden Kapiteln verwiesen:
Wortlaut der Urkunde, die am 18. November 1909 in den Grundstein eingelegt wurde
62
Im Namen Gottes und Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Nachdem wir durch Gottes Gnade am 28. September 1905 den Grund zu einer zweiten Kirche, der Reformationskirche legen durften, welche am 17. Februar 1907 unter Beisein Ihrer
MajestÅten, unseres allergnÅdigsten Kaisers und Herrn, Wilhelm II. und seiner Gemahlin, Auguste Victoria, unserer lieben Kaiserin, geweiht werden konnte, legen wir heute, am 18. November 1909 wiederum den Grundstein zu einer neuen Kirche und Gemeinde.
Die Heilandsgemeinde ist innerhalb drei Jahren auf 57.000 Seelen gestiegen. Dazu verlangt
auch die Luisengemeinde (sic) in Charlottenburg, unsere Nachbargemeinde, die jetzt 7000
Seelen zÅhlt, nach der Abzweigung eines Teiles an unseren Grenzen.
Schon im Jahre 1904 hatte deshalb die Stadtsynode ein GrundstÉck an der Ecke LevetzowstraÇe und des Wikinger Ufers unmittelbar an die Luisengemeinde angrenzend gekauft von
11a 88 qm, 83,75  R. Der Kaufpreis betrÅgt 144.636 M. Die bewÅhrten Kirchenbauarchitekten Dinglage
63
& Paulus machten es bei vÑlliger Ausnutzung des Bauplatzes mÑglich, dass mit
der Kirche zugleich auch ein Pfarr- und Gemeindehaus erbaut werden konnte. Die Baukosten
fÉr die Kirche sind veranschlagt mit 230.000 M, und fÉr das Gemeindehaus auf 100.000 M.
Die Kirche soll 1000 SitzplÅtze haben. Mit Genehmigung Sr. MajestÅt des Kaisers trÅgt dieselbe den Namen „ErlÑserkirche“.
Nach ErlÑsung verlangt und seufzt die Welt. Wir wissen und bezeugen, es ist nur ein ErlÑser,
Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn, hoch gelobt in Ewigkeit, der starke Held, der allein
die Bande unserer Schuld lÑsen und die Ketten unseres Todes brechen kann, von dem wir mit
unserem Luther nach dem 2. Artikel bekennen,, „sei mein Herr , der mich verlorenen und verdammten Menschen erlÑset hat, erworben und gewonnen von allen SÉnden, vom Tode und
von der Gewalt des Teufels , nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren
Blut und seinem unschuldigen Leiden und Sterben von den , auf dass ich sein eigne sei und in
seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit,
gleichwie er ist auferstanden von den Toten, lebt und regieret in Ewigkeit.
Dieses Evangelium mÑge in er ErlÑserkirche durch alle Zeiten verkÉndigt werden, und dann
wird es auch seine erlÑsende , befreiende und seligmachende Kraft beweisen und bewÅhren,
dann wird die ErlÑserkirche ein Licht auf dem berge sein, dass seine hellen, lÑsenden Schein
hinwirft in die dunklen RÅtselfragen unseres Lebens, dann wird sie eine sichere Zufluchts- und
HeimstÅtte sein fÉr mÉhselige und schuldbeladene Menschenherzen, dann wird sie ein unversiegbarer Gesund- und Heilbronnen sein fÉr die tiefen SchÅden und NÑte unserer Tage, dann
wird sie eine unÉberwindliche Burg wahrer Freiheit und wahren GlÉckes sein fÉr Zeit und
Ewigkeit. Das walte Gott!
Berlin, den 18. November 1909
Die KÑrperschaften der Heilandskirchengemeinde
62
Handschriftliche Abschrift in der Acta der ErlÄsergemeinde Tit. VIII, No.1. ErlÄserkirche (Bau)
63
Hier anstelle Dinklage als Dinglage geschrieben.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
102
Bericht zur Kreissynode aus der ErlÄsergemeinde 1931
In den allgemeinen VerhÉltnissen unserer ErlÄsergemeinde sind gegen das Vorjahr keine den
Éuàeren Bestand betreffenden VerÉnderungen eingetreten. Aber die ErlÄsergemeinde in
allen ihren StÉnden ist aufs tiefste bewegt worden durch den am 3. Dez. 1930 eingetretenen
so plÄtzlichen Heimgang des seit der GrÅndung der Gemeinde in ihr stehenden und in reichem Segen wirkenden Pfarrers Schmidt. Wir haben ihn auf dem Stahnsdorfer Friedhof unter groàer Beteiligung, nicht bloà der Glieder unserer ErlÄsergemeinde, sondern auch der
anderen Moabiter Gemeinden (Pfarrer Schmidt war ein Moabiter Kind und frÅher an der
Heilandskirche)zu Grabe getragen. Die ganze Liebe und Dankbarkeit der Gemeinde gegen
ihren heimgegangenen Seelsorger kam zum Ausdruck bei dem GedÉchtnisgottesdienst, den
Pfarrer Manger am 2. Advent dem lieben heimgegangenen Amtsbruder hielt. Sein GedÉchtnis wird in der ErlÄserkirche im Segen bleiben, und die Saat, die er ausgestreut, wird wachsen unter Gottes Schutz.
In der ErlÄsergemeinde hat sich das kirchliche Leben in ruhiger Fortentwicklung, ohne besonderen Anstoà von Seiten innerer oder Éuàerer Feinde gestaltet. Die Kinder wurden zur
Taufe gebracht, wenn auch in geringerer Zahl als in frÅheren Jahren. Die Konfirmationen
fanden statt, wenn auch erheblich weniger Kinder zum Konfirmationsaltar kamen. Beides
liegt nicht etwa in der Verachtung des Sakraments oder der Konfirmation, sondern es liegt
daran, dass viele MÅtter sogleich im Krankenhaus taufen lassen, und dass infolge des sich
nun auswirkenden GeburtenrÅckganges wÉhrend der Kriegszeit weniger Kinder vorhanden
sind. Wir haben in ErlÄser 61 Kinder getauft und 138 Kinder konfirmiert.
Die kirchlichen Trauungen sind auch weniger geworden. Man begegnet Åberall bei Hausbesuchen und Erkundigungen dem Vorurteil, dass die Trauung zu teuer sei und deshalb unterbleiben mÅsse, und man ist aufs hÄchste erstaunt, wenn geantwortet wird, dass eine
Trauung nichts zu kosten braucht. Gewiss wÉre es heilsam, wenn Mittel und Wege gefunden
wÅrden, diese Tatsache noch weiter zur allgemeinen Äffentlichen Kenntnis zu bringen.
Bestattungen haben in ErlÄser 107 stattgefunden, EinÉscherungen 19. Das VerhÉltnis dieser
kirchlichen Bestattungen zu den Beisetzungen ohne Gottes Wort und Gottes Segen dÅrfte
dasselbe geblieben sein, wie in den frÅheren Jahren.
Irgendwelche Propaganda von Seiten der Sekten oder der katholischen Kirche gegen uns ist
in ErlÄser nicht hervorgetreten. Austritte aus der Kirche waren leider 187.
Die sittlichen VerhÖltnisse
åber die sittlichen VerhÉltnisse einer Groàstadtgemeinde ein Urteil zu fÉllen, erscheint fast
unmÄglich, bei der groàen Verschiedenheit der BevÄlkerung und bei der UnmÄglichkeit, alle
Mitglieder der Gemeinde kennen zu lernen. Von besonders schweren FÉllen, von Verbrechen ist nichts bekannt geworden. Die seelsorgerischen Besuche der beiden Pfarrer haben
manche sittliche Not und manche schmerzliche Verkommenheit und auch vielen bewussten
Abfall von Gott und bewusste Abweisung religiÄsen Zuspruchs ergeben; haben aber auch auf
der anderen Seite immer wieder Menschen gefunden und Familien angetroffen, die trotz
Éuàeren schwieriger VerhÉltnisse sich treu zum Glauben halten und sich ihres Bekenntnisses
zu ihrem Heiland nicht schÉmen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
103
Vom Bezirkswohlfahrtsamt sind uns wÉhrend des ganzen Jahres eine ziemliche Anzahl von
„FÉllen“ Åberwiesen worden, und wir haben sie aufgeklÉrt, u.a. zum Beispiel Besuche bei
FÅrsorgezÄglingen, entlassenen Gefangenen und GefÉhrdeten. Ob seelsorgerischer Zuspruch
segenvoll gewirkt hat, ist in den meisten FÉllen schwer zu beurteilen, das weià allein der
HerzenskÅndiger. An BemÅhungen um Menschenseelen innerhalb unserer Gemeinde hat es
nicht gefehlt.
Die sozialen VerhÖltnisse
Die traurigen wirtschaftlichen VerhÉltnisse in der Gegenwart, die entsetzliche Arbeitslosigkeit, die damit verbundene fruchtbare Versuchung zum MÅàiggang und zur EntwÄhnung von
jeder geregelten Arbeit haben sich wie Åberall so auch bei uns verheerend ausgewirkt. Noch
nie so viel wie in diesem Winter kommen tÉglich MÉnner, Frauen und Kinder, klagen Åber
Mangel an Lebensmitteln, Hunger und KÉlte und bitten um Hilfe. So weit es in unseren KrÉften steht, die leider nicht sehr groà sind, haben wir immer geholfen und weisen keinen zurÅck, der bittend an unsere TÅr klopft. Tag fÅr Tag haben die Schwestern bei ihren Besuchen
auch leibliche Erquickung gebracht, und jetzt sind wir mit der Verteilung der Winterhilfekarten in groàer Arbeit. Sind besonders schmerzliche FÉlle vorliegend, so tritt auch unser Frauenverein mit seinen Mitteln ein und hat schon viel Hilfe gebracht. Schon jetzt ist die Arbeit
der Vorbereitung von Verschickungen schwÉchlicher und Åberarbeiteter Groàstadtfrauen
und Kindern im vollsten Gange.
Gottesdienste
1. Besucherzahlen der Gottesdienste der Erwachsenen:
Wir haben genau an jedem Sonntag, sowohl vormittags wie nachmittags die Besucher und Besucherinnen gezÉhlt. In unseren sonntÉglichen Gottesdiensten waren 21
644 Besucher und Besucherinnen. In 26 Bibelstunden und Missionsstunden 1920. In 5
Passionsgottesdiensten 501.
2. Kindergottesdienst:
Er findet all sonntÉglich statt, von halb 12 bis halb 13 Uhr. Wir haben das Gruppensystem. Durchschnittlich haben wir 180-200 Kinder.
3. FrÅhandachten und Wochenschlussgottesdienste haben wir in ErlÄser nicht feiern
kÄnnen. Die beiden Pfarrer waren infolge ihrer Åbrigen Dienstleistungen nicht mehr
im Stande, diese beiden, sonst sehr wÅnschenswerten Gottesdienste einzurichten.
4. Offenhalten der Kirche:
So gerne wie wir es mÄchten, ist es uns nicht mÄglich gewesen, auf die Dauer eine
passende Aufsicht fÅr das offenstehende Gotteshaus zu gewinnen, auch haben wir in
frÅheren Jahren, in denen wir es versucht haben, leider sehr wenige Besucher gehabt, so dass wir zu der åberzeugung gekommen sind, dass in ErlÄser fÅr Offenhaltung des Gotteshauses kein allgemeiner Wunsch vorliegt.
5. Gemeindegesang:
Der Gesang der Gemeinde, der von einem auàerordentlich tÅchtigen Organisten geleitet wird, ist ein lebendiger und freudiger. Es wird in ErlÄser krÉftig mitgesungen.
(Die Anzahl der Melodien, die wir in ErlÄser singen kÄnnen, erfolgt auf einem besonderen Blatt.)
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
104
EinÅbung neuer Melodien:
Besondere EinÅbungsabende haben wir nicht; wir haben, wenn eine neue Melodie
gespielt werden sollte, die Gemeinde vor dem Gottesdienst darauf aufmerksam gemacht, dass eine neue Melodie gesungen werden wÅrde. Die Gemeinde hat eine solche neue Melodie sehr schnell gelernt und sich Åber die Bereicherung ihres Melodienschatzes gefreut.
6. Bibelstunde:
Die Bibelstunden in ErlÄser sind in den fast 18 Jahren ebenso wie die Missionsstunde,
die alle Monate einmal anstatt der Bibelstunden stattfanden, in einer Hand gewesen.
Es ist in ihnen immer Gottes Wort gelesen und ausgelegt worden, mit Ausnahme der
beiden Evangelien des MatthÉus und des Lukas und der Offenbarung Johannes ist das
ganze neue Testament in diesen langen Jahren behandelt worden. Viele Gemeindeglieder sind die ganzen Jahre hindurch treue Bibelstundenteilnehmer gewesen. An
jedem Donnerstag 8 Uhr abends findet unsere Bibelstunde in unseren schÄnen GemeindesÉlen statt. Die Zahl der Besucher und der Besucherinnen hat von Jahr zu Jahr
zugenommen. Von 60-80 Teilnehmern ist augenblicklich zu berichten. HauptsÉchlich
sind Frauen die Besucherinnen der Bibelstunde, aber nicht nur ‚alte Frauen’, sondern
auch solche, die im besten Lebensalter stehen. Auch haben wir eine, wenn auch geringe, so doch regelmÉàig kommende Schar von MÉnnern. Wir haben seinerzeit eine
Reihe schÄner neuer Testamente anschaffen kÄnnen und geben jedem Teilnehmer
der Bibelstunde, der nicht ein eigenes neues Testament mitbringt, ein solches in die
Hand zum Mitlesen. Wir haben die Beobachtung gemacht, dass dies Mitlesen viel
Freude macht und den Segen der Bibelauslegung erhÄht.
7. Das Vereinsleben: In ErlÄser besteht ein lebendiger Frauenverein, der sich den Dienst
in der Gemeinde an den Armen, Vereinsamten und ErholungsbedÅrftigen angelegen
sein lÉsst. Groàe Bescherungen finden zu Weihnachten statt, und auch zum Osterfest
werden Ostergaben verteilt. Auch trÉgt der Frauenverein finanziell die Schwesternstation und den Kindergarten. Die Mitglieder des Frauenvereins gehen selber in die
HÉuser und tragen den Armen und Kranken Gaben und Nahrungsmittel zu.
Unser JungmÉdchenverein ist in bester Ordnung. Wir haben die Freude, eine sehr geschickte und sachverstÉndige Leiterin in der PersÄnlichkeit der Frau Sommer-Stelter.
Schon die ganzen Jahre hindurch seit Bestehen der Gemeinde zu haben. Die jungen
MÉdchen werden in unserem Verein trefflich angeleitet und seelsorgerisch behandelt. Immer wieder weià die Leiterin neue Wege und Mittel zu finden, um die MÉdchen innerlich zu fÄrdern.
Leider machen wir aber jetzt auch die Beobachtung, dass nicht mehr so viele Konfirmandinnen wie vor Jahren zu uns kommen. Trotz dringendster Einladungen kommen
nur verhÉltnismÉàig wenig zu uns, aber wir haben doch auch die Freude, dass sich
diese wenigen gut und treu bewÉhren; denn sie kommen aus Familien, in denen
christlicher Sinn waltet.
An jedem Sonntagabend kommen die MÉdchen zusammen, und immer ist Vorsorge
getroffen, dass ein wÅrdiger Gegenstand behandelt wird. Auàerdem werden sie in
einem Abendheim in Fortbildungskursen, Bibel- und Gesangstunden und gemÅtlichen
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
105
Handarbeitsstunden gesammelt. Auch eine Jungschar wird besonders betreut. Sie
versammelt sich allwÄchentlich einmal in unserem Gemeindesaal.
Unsere jungen MÉnner werden mit den jungen MÉnnern der Heilandgemeinde gesammelt in dem C.V.J.M. Dort ist ein besonderer Jugendwart angestellt, der unter
Leitung eines Pfarrers arbeitet. In ErlÄser wird eine Jugendgruppe jeden Freitagabend
gepflegt, durch Spiel, Gesang, Schlussandacht wird jener Abend ausgefÅllt. Die Zahl
ist im Wachsen.
8. Ein nachbarlicher Dienst ist in der ErlÄsergemeinde nicht organisiert.
9. Die ehelichen VerhÉltnisse: åber die stÉdtischen und kirchlichen Eheberatungsstellen
liegt in ErlÄser eine Erfahrung nicht vor. Man kÄnnte ein dunkles Bild zeichnen Åber
Unfrieden, Zank und Streit zwischen Eltern und Kindern und man kÄnnte ebenso gut
ein freundliches Bild zeichnen Åber viele liebe und glÅckliche FamilienverhÉltnisse.
Beides ist wie in jeder anderen Gemeinde auch in ErlÄser vorhanden.
10. Gemeindeversammlungen:
In ErlÄser sind alljÉhrlich die Gemeindeversammlungen abgehalten worden. Sie haben sich gut bewÉhrt, und die Besucherzahl ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Wir haben
bei diesen Versammlungen neben einem eingehenden Vortrag Åber die kirchliche
Arbeit auf den verschiedensten Gebieten innerhalb unserer Gemeinde jedes Mal einen Amtsbruder eingeladen, der Åber seine Arbeit der Inneren Mission oder der gleichen berichtet. So ist schon der Pfarrer Siegert bei uns gewesen und hat Åber den
Bau evangelischer KrankenhÉuser referiert, und im vorigen Jahr Pfarrer von Wicht
Åber Erziehungs- und Schulfragen. Anfragen oder Debatten haben sich nicht daran
angeschlossen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
106
Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der ErlÄser-Kirchengemeinde
1932 und 1933
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
107
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
108
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
109
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
110
Wirksame Erwerbslosenhilfe In der ErlÄser- Kirchengemeinde
Aus dem Lokalanzeiger vom 10.02.1933
Die ErlÄserkirche in Moabit, die, wie kÅrzlich an dieser Stelle ausgefÅhrt wurde, auf historischem Boden steht und in ihrer Architektonik einen Schmuck des Stadtbildes bedeutet, zeigt
auch ein besonders reiches Gemeindeleben.
Die Not der Zeit hat die Kirche in den Dienst der ErwerbslosenfÅrsorge gestellt. Von den beiden PfarrÉmtern der ErlÄsergemeinde und dem Gemeindehelfern werden Åber 1200 Personen betreut.
Solche groàe Arbeit lÉsst sich natÅrlich nur durch eine straffe Organisation leiten. Die Pfarrer
der Gemeinde und der Gemeindepfleger arbeiten zusammen mit einem Ausschuss, der aus 6
bis 8 Arbeitslosen besteht. Jedes Mitglied hat einen bestimmten Bezirk zu betreuen.
ZunÉchst bezieht sich die Arbeit auf materielle Hilfe. Aus Kollektivmitteln, den freien Spenden und durch die Pfundhilfe kommt so viel zusammen, dass immer die dringendste Not Einzelner gelindert werden kann.
Vor Weihnachten war es durch persÄnliche Beziehungen eines Pfarrers zu einer Landgemeinde mÄglich, 110 Zentner Kartoffeln zu verteilen. Mittags um 1 Uhr kam der Anruf, dass
der Waggon auf der Bahn eingetroffen sei, und abends um 6 Uhr hatten nahezu 10 Familien,
die bedacht worden waren, ihre Kartoffeln im Hause.
Ein schÄnes Beispiel fÅr eine gute Organisation. Zu Weihnachten selbst konnte mit UnterstÅtzung der Frauenhilfe und der Jugendvereine gerade den kinderreichen Familien eine
wirklich wertvolle Hilfe durch Lebensmittel, Kohlen und Kleidung gebracht werden. Die Kosten der Spenden betrugen viele hundert Mark.
In den Sprechstunden fÅr Erwerbslose – an zwei Tagen der Woche – kommen mindestens je
40 mit der Bitte um Beratung und Hilfe. Es wird auch versucht, Erwerbslosen Arbeit zu verschaffen, was schon in vielen FÉllen gelang.
Aufgabe der Kirche ist aber nicht nur die leibliche FÅrsorge, darum bemÅht sich der Erwerbslosendienst auch um die geistige und seelische Betreuung. Es werden jeden Donnerstag
Lichtbilder oder Filme gezeigt, bei denen oft wertvolle und bildende VortrÉge gehalten werden. An einem Vormittag der Woche findet eine gut besuchte Aussprache statt, in der Fragen der Zeit zur Behandlung stehen.
Es ist eine BÅcherei eingerichtet, zu der auch der Scherl-Verlag durch Stiftung beigetragen
hat und die eifrig benutzt wird. Einmal im Jahr findet auch ein besonderer Gottesdienst fÅr
Erwerbslose mit anschlieàender Feier des heiligen Abendmahls auf Wunsch statt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
111
Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der ErlÄser-Kirchengemeinde
1935
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
112
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
113
Kostenvoranschlag fÅr GlockenlÖutemaschine 1935
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
114
Schreiben an die Metallsammelstelle von 1940
Gemeindekirchenrat ErlÄserkirche Berlin NW 87, den 9.Juli 1940
Tgb.-Nr. 270
Zu dortiger Aufforderung v. 16.6.40 Wikingerufer 9.
Betr. GebÉudeteile aus Kupfer
Dem
Herrn BezirksbÅrgermeister
der Verwaltungsbezirkes Tiergarten
Metallsammelstelle
Berlin NW 21
Turmstraàe 35
Berichten wir auf obige Aufforderung, die an unsere KÅsterei gerichtet war, dass die Kupferrinnen, Verkleidungen und Verzierungen aus Kupfer, die an de TÅrmen und auf dem Dach
unserer ErlÄserkirche und unseres Gemeindehauses angebracht sind, nach der SchÉtzung
eines Fachmannes einen ungefÉhren Wert von RM 450.—570.—haben. Nach der Auskunft
einer RÅstungsfirma wÅrde die erforderliche RÅstung um die TÅrme etwa 4.600.-RM Kosten
verursachen, die GesamtrÅstung zur Entfernung aller Teile etwa 8000.- bis 9.000.- RM. Dem
Unterzeichneten erscheinen letztere Angaben reichlich hoch bemessen. Die Kupferteile sind
beim Bau der Kirche und des Gemeindehauses in den Jahren 1911 und 1912 angebracht
worden und schon reichlich patiniert.
i.A. Streckenbach
GeschÉftsfÅhrender Pfarrer
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
115
Das Sammellager in der LevetzowstraÑe und der Abtransport in die
Konzentrationslager 1941
Die Entscheidungen und PlÉne fÅr die Deportation der Juden wurde in der Prinz-AlbrechtStraàe 8, der KurfÅrstenstraàe 116 und der Straàe am Groàen Wannsee 56-58 ausgearbeitet
und gefÉllt.
Wie diese PlÉne, die von Technokraten des Todes erdacht worden waren, praktisch durchgefÅhrt wurden, beschreibt die Frau des letzten Vorsitzenden der JÅdischen Gemeinde in
Berlin, Hildegard Henschel. åber den Beginn der Deportationen der Berliner Juden schreibt
sie aus der Sicht der Betroffenen:
„Am 19. September 1941 musste der Stern zum ersten Mal getragen werden und wenige
Tage spÉter war VersÄhnungstag, an dem wir unseren Gottesdienst hielten. Es war mitten in
der Vormittagspredigt, als der Vorsitzende der Gemeinde (Moritz Henschel) zum Telefon
gerufen wurde. Ein Anruf der Gestapo beorderte ihn nach der Burgstraàe (Sitz der Gestapo -Leitstelle Berlin), wo er mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Philipp Kozower und der
Leiterin der Wohnungsabteilung der jÅdischen Gemeinde, Dr. Martha Mosse, zusammentraf.
Der fÅr die Angelegenheiten der jÅdischen Gemeinde Berlin zustÉndige Gestapo – Beamte,
PrÅfer, eine umstrittene PersÄnlichkeit, der das GlÅck hatte, bei einem Luftangriff getÄtet zu
werden, erÄffnete den 3 Vertretern der Gemeinde, dass die Teilevakuierung von Berlin zu
beginnen habe.
Die Gestapo wollte die Evakuierung mit einer groàen Wohnungsaktion zur Schaffung von
Wohnungen fÅr Nazifamilien verbinden. Es wurde angesagt, in welchen HÉusern christlicher
Besitzer den Juden die Wohnungen zu kÅndigen seien, sie wollen diese aufgeben. Die Gemeinde wurde beauftragt, neuen Wohnraum fÅr die Betroffenen zustellen.“
Neuere Forschungen haben die Vermutung bestÉtigt, wonach die Nazis die Deportation der
Juden gleichzeitig dazu ausnÅtzten, Wohnraum fÅr Familien zu schaffen, deren Behausungen
durch Bomben zerstÄrt worden waren. Gestapo-Berichte deuten darauf hin, dass diese Aktion bei vielen christlichen MitbÅrgern Zustimmung fand!
Ferner wurde angeordnet, dass der Tempel Levetzowstraàe zu einem Sammellager fÅr ca.
1000 Personen herzurichten sei. Die Synagoge in der Levetzowstraàe. 7/8 war gegen Ende
des 19. Jahrhunderts mit ca. 2000 SitzplÉtzen gebaut worden und wÉhrend der Pogromnacht
von 1938 nicht vÄllig zerstÄrt worden. Heute befindet sich hier ein Kinderspielplatz.
Wie aus dem Bericht von Frau Henschel weiter hervorgeht, werden die Mitglieder und Angestellten der jÅdischen Gemeinde gezwungen, fÅr die Unterbringung und Verpflegung derjenigen Juden zu sorgen, die bei Anbruch der Dunkelheit von Beamten der Gestapo aus ihren
Wohnungen geholt und in das Sammellager gebracht wurden.
Frau Henschel schreibt, dass die Gestapo befahl „geeignetes Hilfspersonal zum Nacht- und
Tagesdienst (in die Synagoge) zu schicken, wie auch fÅr gute und ausreichende Verpflegung
aller dieser Menschen zu sorgen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
116
Eine vorzÅglich organisierte fieberhafte TÉtigkeit begann. Lebensmittel, Medikamente, sanitÉre Hilfsmittel, WÉsche, Kleider, Schuhe aus der Kleiderkammer, alles wurde nach der Levetzowstraàe geschafft und in wenigen Stunden arbeiteten getrennte KÅchen fÅr Erwachsene und fÅr Kinder, arbeitete eine Abteilung des jÅdischen Krankenhauses mit ârzten und
Schwestern als Unfallstation und der ersten Hilfe, es gab ein abgesondertes Kinderzimmer
fÅr Kleinkinder unter der Leitung von Kinderschwestern und KindergÉrtnerinnen.
Man richtete ein Matratzenlager fÅr Éltere und schwÉchliche Personen ein; junge und gesunde Menschen mussten die Zeit auf der Tempelbestuhlung, der Empore verbringen; man
organisierte einen GepÉcktrÉgerdienst aus den Beamten und Angestellten der Gemeinde
und der Reichsvereinigung und in einer in der NÉhe gelegenen KÅche der Gemeinde wurden
Proviantpakete fÅr jede einzelne Person gepackt.“
Nach 1945 haben Berufene und Unberufene der Leitung der jÅdischen Gemeinde den Vorwurf gemacht, sich den Anordnungen der Gestapo allzu sehr gefÅgt zu haben. Diese Anklagen sind unberechtigt, weil sie der besonderen Situation nicht gerecht werden, in der sich
die jÅdische Gemeinde befand.
Eine Verweigerung hÉtte nÉmlich am Schicksal der von der Deportation betroffenen Juden
nichts geÉndert und die sofortige Ermordung der Mitglieder und Angestellten der Reichsvereinigung der Juden und der jÅdischen Gemeinde in Berlin nach sich gezogen.
Dies beruht nicht auf Vermutungen, sondern war grausame RealitÉt. – Am 20. November
1942 erschossen die Gestapo 8 Geiseln der jÅdischen Gemeinde, 12 andere Geiseln aus der
Gemeinde wurden nach Osten abgeschoben.
Aus: Steinerne Zeugen, StÉtten der Judenverfolgung in Berlin, Seite 59- 61
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
117
Bericht Åber den Brand in der Kirche am 01. MÖrz 1943
64
Am 1. MÉrz 1943 – dem Tag der Luftwaffe – wurde um 21 Uhr 40 Minuten Fliegeralarm gegeben. Die Hausgemeinschaft versammelte sich wie immer bei Fliegeralarm in unserem Luftschutzkeller, der seit einigen Wochen in tadellosem Zustande eingerichtet ist, die vorgeschriebenen Luft- bzw. Gasschleusen enthÉlt und auch einen Abort hat.
Kurz nachdem die ersten im Keller waren, begann die Flak zu schieàen. Als schlieàlich in Pausen die gesamte Gefolgschaft nach unten gekommen war, wurden sehr starke EinschlÉge
spÅrbar. Das Haus wurde bis in die Tiefen erschÅttert. Der Abort erwies sich fÅr den
80jÉhrigen Gerhard Krause als sehr notwendig, da ein Hinausgehen nicht mÄglich war.
Von den zuletzt eingetroffenen Diakonissen wurde berichtet, dass der Hof taghell erleuchtet
gewesen sei und auch viel Glas heruntergefallen wÉre. Als der schwere Groàangriff beendet
zu seien schien, verlieàen wir fast alle den Keller, da Brandgeruch zu spÅren war. Die Entwarnung war noch nicht erfolgt.
Es zeigte sich, dass auf dem Kirchendach ein Brandherd war. Wir eilten fast alle nach dem
Kirchendach. Eine ganze Anzahl von MÉnnern aus der Nachbarschaft, aus dem Hause Wikingerufer 8, aus dem Bildamt der Stadt Berlin und aus der Hansaschule, auch aus den anderen
HÉusern, auch aus der Helmholtzstrasse kamen mit FeuerlÄschapparaten und Wassereimern. Aber es stellte sich sofort heraus, dass ein Eindringen in den Bodenraum trotz verwandter Gasmasken nicht mehr mÄglich war. Es brannte in dem hinteren Teil des Bodens,
der nach dem Wikingerufer hin ausliegt und dicht am Wohnhaus ist.
Nun wurde versucht, das Feuer, das auch bereits von der Straàe aus deutlich wahrnehmbar
war, vom Haus aus durch die Wohnung des 3.Stockwerks zu bekÉmpfen. Wasser wurde geschleppt, mit den kleinen Feuerspritzen wurde gearbeitet, aber alles half nichts. Man erreicht das Feuer nicht, das sich immer mehr infolge des starken Windes immer weiter verbreitete. Bald stand das ganze Sparrenwerk des Eckgeschosses in Flammen.
GlÅcklicherweise wehte der Wind in der Richtung nach dem Hof und nicht nach der Kirche
hin, sodass eine weitere Ausdehnung auf das Kirchendach verhÅtet wurde. Die Gefahr war
groà, dass das Feuer durch den Funkenflug auf das Pfarrhaus Åbertragen wurde. Die Polizei
war benachrichtigt; die Feuerwehr kam aber nicht, da sie an vielen anderen Stellen grÄàere
BrÉnde zu bekÉmpfen hatte. Lichterloh brannten die HÉuser und Fabriken in der nÉchsten
Umgebung.
Am Wikingerufer brannten Dachstuhl und obere Stockwerke in Nummer 2. In der Zinzendorfstraàe, in der Levetzowstraàe., in der Jagowstraàe, in der Solinger Straàe, in der Straàe
Alt-Moabit, die Fabrik von LÄwe und andere groàe Werke. In weiterer Entfernung sah man
helle Feuerscheine. Alle BemÅhungen, von den Wohnungen und auch vom Boden aus das
Feuer zu bekÉmpfen, waren vergeblich.
Mit einer kleinen Spritze erreichte man wohl das Feuer, aber die Spritze reichte nicht zu. Da
holte einer den groàen Schlauch aus der Hansaschule. Erst versuchte man, ihn von einer
64
Bericht vermutlich des damaligen KÅsters.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
118
Wohnung aus ans Feuer heranzubringen. Dieser Versuch misslang, da der Schlauch dazu zu
kurz war. Aber der gemeinsamen Anstrengung aller gelang es schlieàlich, den Schlauch von
auàen aus aufs Dach zu bringen. Das Dach des Hauses wurde an einer Stelle durchschlagen,
und von hier aus wurde man schlieàlich dem Feuer nach sehr groàen Anstrengungen Herr. –
Die Wassermassen haben natÅrlich einigen Schaden in der Kirche gemacht, der aber nicht
bedeutend ist. Die Brandstelle weist die verkohlten Dachsparren auf; die Ziegel sind zum
grÄàten Teil heruntergefallen. Die Wohnungen sind wieder im alten Zustande. Wir kÄnnen
nur Gott danken, dass grÄàeres Unheil verhÅtet wurde. Dank gebÅhrt aber vor allem allen
treuen Helfern aus der Gemeinde. Aber wie groàes Leid ist Åber sehr viele Gemeindeglieder
gekommen!! 200 Obdachlose befinden sich in der Schule in der Levetzowstr.25!! Gott helfe
ihnen und trÄste sie, die zum groàen Teil fast alle Ihre Habe verloren haben!
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
119
Die Not der ErlÄsergemeinde im Nachkriegs-Berlin
Streckenbach Berlin NW 87, den 12. November 1948
Pfarrer der ErlÄserkirche Wikingerufer 9
Sehr verehrter Herr Amtsbruder!
Die Not der Berliner Westsektoren wird Ihnen aus Zeitungen, Rundfunknachrichten und
Briefen hinreichend bekannt sein. Ich brauche darÅber Ihnen gegenÅber wohl kaum ein
Wort zu sagen. Aber erwÉhnen muss ich doch, dass alle Berichte letzten Endes nicht imstande sind, persÄnliches Erleben so wiederzugeben, wie es empfunden wird.
Meine Gemeinde liegt in dem bekannten Berliner Stadtteil Moabit, hat 360 GrundstÅcke,
von denen die HÉlfte zum grÄàten Teil durch die Kriegsereignisse zerstÄrt ist. Die anderen
sind ebenfalls sehr in Mitleidenschaft gezogen worden.
Unsere Kirche ist ein TrÅmmerfeld; die Auàenmauer steht zum Teil noch; das Innere aber ist
gÉnzlich ausgebrannt und vernichtet. Das vierstÄckige Pfarr- und Gemeindehaus ist zum Teil
wieder bewohnbar gemacht worden; es hat ein Pappnotdach erhalten, aber noch keine
Dachrinnen und Abfallrohre; im Erdgeschoss befindet sich ein einfenstriges Zimmer, das die
KÅsterei beherbergt und gleichzeitig Wohn- und Schlafraum unseres KÅsters und Rendanten
(RechnungsfÅhrer der Kirchengemeinde) ist, dessen Wohnung im dritten Stock noch nicht
wieder bezugsfertig ist; seine Frau wohnt in der Provinz in einem Dorf und kommt hin und
wieder einmal her, um ihren Mann zu sehen und ihm, soweit es ihr mÄglich ist, auch mit einigen Lebensmitteln zu helfen.
Auàerdem befindet sich im Erdgeschoss unsere Diakonissenstation mit zwei Oberlinschwestern, und der Kindergarten, der am 1. Juli diesen Jahres wieder erÄffnet werden konnte,
nachdem die RÉume, die sehr schwer gelitten hatten, wieder hergestellt worden waren.
Im 1. Stockwerk ist der Gemeindesaal mit etwa 180 SitzplÉtzen, der gleichzeitig Konfirmandensaal und Versammlungsraum fÅr alle mÄglichen Veranstaltungen seien muss, da uns andere RÉume nicht zur VerfÅgung stehen. Auàerdem wohnt der Kirchendiener im 1. Stock. Im
2. Stock wohne ich mit meiner Frau in meiner alten, aber sehr verkleinerten Wohnung, da
der grÄàte Teil unbenutzbar geworden war. Das 4. Stockwerk ist Bodenraum geworden.
Unsere Gemeinde hat zwei Pfarrer und etwa 6 000 Seelen (frÅher 12 000), unter denen sogenannte vermÄgende Kreise nicht mehr vorhanden sind. Die Not ist Åberall sehr groà. Kohlen und Brennmaterial sind nicht vorhanden. Die LuftbrÅcke versorgt und mit dem NÄtigsten; aber sehr vieles fehlt.
Um 18 Uhr fÉhrt keine Straàenbahn mehr; einmal in der Nacht und einmal am Tag gibt es fÅr
2 Stunden Strom. Der Vorrat an Kerzen ist sehr gering und durchweg nicht ausreichend.
Kochgas erhalten wir fÅr 2 Personen monatlich nur 6,7cbm. Ein Zentner Briketts kostet heute
auf dem schwarzen Markt 12-15 Westmark. Holz ist gar nicht angeboten. Die Menschen
hungern und frieren. Meine Konfirmanden kÄnnen zum Teil den Unterricht nicht mehr besuchen, weil sie keine Schuhe haben und der Gemeindesaal auch nicht geheizt werden kann.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
120
So komme ich aus all der Not, in der meine Gemeinde lebt, mit der Bitte zu Ihnen: geben sie
mir, bitte, etwas in die HÉnde, das ich in der Gemeinde an die BedÅrftigsten weitergeben
kann. Ich verspreche Ihnen, dass weder von mir noch von einem der Helfer auch nur ein
Gramm fÅr persÄnliche Zwecke verbraucht werden wird, sonder, dass alle Gaben den bedÅrftigen Gemeindeglieder weitergegeben werden. Ich mÄchte auch nicht verfehlen, darauf
hinzuweisen, dass wir nichts von Ihnen erbitten, sondern durch Sie von Ihrer Gemeinde und
deren Gliedern. Bitte, machen Sie die Herzen Ihrer Gemeindeglieder warm fÅr uns und Sie
sie an das Wort:
Galater 6,2 „Einer trage des andern Last, so werdet Ihr das Gesetz Christi erfÅllen“.
Im Voraus danke ich Ihnen von Herzen und grÅàe Sie brÅderlich als
Ihr ergebenster.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
121
Wiedereinweihung der ErlÄserkirche: Zeitdokumente zur Einlage in die Turmkugel von 1956
Liebe nachkommende Gemeindeglieder,
in diesen Tagen setzen wir die Turmkugel und Kreuz auf die TÅrme. Nach altem Brauch geben wir Dokumente der Zeit und einen kurzen Abriss der Geschichte der ErlÄserkirchengemeinde in die Kugeln.
Die ErlÄserkirchengemeinde ist am 19. August 1909 als Filiale der Heilands-Kirchengemeinde
eingerichtet worden. Die Grundsteinlegung der ErlÄserkirche ist am 18. November 1909 erfolgt, die Einweihung derselben am 14. Mai 1911. Am 1. August 1912 ist die Abzweigung der
ErlÄsergemeinde von der Heilands-Kirchengemeinde durchgefÅhrt worden. Von diesem
Zeitpunkt ab waren Pfarrer an der Gemeinde:
1912 – 1930 Pfarrer Carl Schmidt
1913 – 1931 Pfarrer Martin Manger
1931 – 1952 Pfarrer Walter Streckenbach
1931 – 1945 Pfarrer Ernst Kornrumpf
1946 – 1955 Pfarrer Alfred SchÄtz
von 1952 ab Pfarrer Fritz Helbig
von 1956 ab Pfarrer Dr. theol. Karl Schultz
Am 22. November 1943 abends ist die Kirche durch Abwurf von Fliegerbrandbomben in
Brand gesetzt und mit allem Inventar bis auf die Umfassungsmauern zerstÄrt worden.
Schon am 1. MÉrz 1943 war das Dach des im Jahre 1912 gebauten Pfarr- und Gemeindehauses infolge eines Bombenabwurfes in Brand geraten, konnte aber
von den Einwohnern gelÄscht werden.
Durch den Brand der Kirche im November 1943 sind die oberen Stockwerke (4., 3. Etage und
die der Kirche zu gelegene HÉlfte der 2. Etage) des Gemeindehauses vernichtet worden. Im
Jahre 1954 wurde das Gemeindehaus unter Leitung des Architekten Prof. Walter KrÅger aus
Berlin-Frohnau wiederaufgebaut.
Derselbe Architekt leitet jetzt den Wiederaufbau der ErlÄserkirche, der in mehreren Bauabschnitten durchgefÅhrt werden soll. Der 1. Bauabschnitt umfasst die Wiederherstellung der
TÅrme, die in fast ursprÅnglicher Bauweise durchgefÅhrt wird. Die Kosten des Baues der
TÅrme werden vom Berliner Stadtsynodalverband mit ca. 30.000,-- DM und von der Gemeinde mit ca. 8.000,--DM getragen.
Die ursprÅnglichen 14.000 Seelen zÉhlende Gemeinde umfasst infolge der durch Bombenkrieg und Granateinschlag erfolgten ZerstÄrung von WohnhÉusern heute etwa 9.500 Gemeindeglieder. Von diesen setzen sich etwa 500 Mitglieder des Kirchenbauvereins mit regelmÉàigen BeitrÉgen fÅr die Wiederherstellung der Kirche ein.
Gott, der Herr, schenkte recht bald unsere Gemeinde, die ihre Gottesdienste und Veranstaltungen gegenwÉrtig im Saal des Gemeindehauses und im unter der Empore der Kirchenruine
1954 ausgebauten Jugendsaal halten muss, die Kirche als GottesdienststÉtte.
Berlin NW 87, den 25. Juli 1956 geschÉftsfÅhrender Pfarrer Helbig
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
122
GegenwÉrtig gehÄren dem Gemeindekirchenrat an:
1. Charlotte Alexander Alt-Moabit 73 KaufmÉnnische Angestellte
2. Arnold Bachmann Jagowstraàe 12 Elektromeister
3. Elisabeth Gottschalkson Tile-Wardenberg-Straàe 23/24 Dolmetscherin
4. Willy Gregor Alt-Moabit 37 Spediteur
5. Wilhelm Held Jagowstraàe 25 Tischlermeister
6. Erich-Max Hillenberg Gotzkowskystraàe 19 Musikdirektor i. R.
7. Margarte Miehe Gotzkowskystraàe 19 Pastorenwitwe
8. Dr. Johanne Sismin Waldstraàe 49 Apothekerin
9. Karl Stahn Wikingerufer 9 Bankangestellter
10. Erich Kahle Levetzowstraàe. 20 Studienrat i. R.
Berlin, 1954
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
123
Festpredigt anlÖsslich der Wiedereinweihung der ErlÄserkirche
am 09. MÖrz 1958
gehalten von Herrn Bischof D. Dr. Dibelius
Jesaja 49,26: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÄser. Nun steht sie wieder da. Frisch
wie am ersten Tag, diese Kirche, die so weiterhin sichtbar Åber die Ufer der Spree und weit
hinein in unsere groàe Stadt Berlin hinein sieht und all die tausend Menschen jeden Tag
grÅàt, die Åber die GotzkowskybrÅcke strÄmen. Und predigt nur wieder in ihrer alten Frische
und Festigkeit den Namen, den sie trÉgt, hinein in die Welt. Nun nicht irgendeinen Namen
aus der heiligen Geschichte, nicht den Namen eines der JÅnger, der groàen Zeugen des
Evangeliums, sondern den Namen, der im Mittelpunkt steht, den Namen, der alles besagt,
was wir unserem Herren Jesus Christus verdanken. Sie redet von dem ErlÄser der Menschheit. Und was kÄnnen wir an dem Tag, an dem wir diese Kirche nun wieder aus den HÉnden
der ewigen Gnade entgegen nehmen, anderes tun, als uns in dieser Stunde von neuem zu
bekennen zu dem, der da spricht: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÄser. Jawohl, wir
haben einen ErlÄser und damit ist alles wieder gut.
Und ich sage ganz kurz 3 Dinge: Er hat uns erlÄst von uns selber; er hat uns freigemacht von
der Angst dieser Welt; und als seine erlÄsten JÅnger und JÅngerinnen sind wir frei zur dankbaren Tat.
Also, er hat uns freigemacht von uns selber. Ich kann ja denen, die meinen, sie seien in Ordnung nicht viel sagen von dem, was ein ErlÄser ist. Wer das nun einmal meint, daà bei ihm
alles in Ordnung sei, daà er sich keine VorwÅrfe zu machen habe, wer durch sein Leben geht
und natÅrlich zugibt, daà er auch einmal etwas nicht richtig gemacht hat, aber darÅber einfach die Achseln zuckt und sagt: na wenn schon, der hat irgendwo seine Seele verloren und
wird sich nun wohl damit begnÅgen mÅssen, daà er eine Existenz fÅhrt wie alle irdische
Kreatur auch, und daà auf seinem Leichenstein einmal geschrieben steht: Er hat gegessen
und getrunken, er hat sich an manchen Tagen amÅsiert und an manchen Tagen hat er gestÄhnt, Gott sei Dank, daà er endlich tot ist.
Aber wer anders denkt, wer sich nicht zufrieden geben kann mit einem solchen Leben, der
weià, daà er einen ErlÄser braucht.
Liebe Freunde! Unser guter Freund, Dr. Heinemann hat vor einigen Wochen bei einer Sitzung
des Bundestages in Bonn ein viel zitierten Wort gesprochen. Er hat gesagt: unser Herr Christus sei nicht gegen Karl Marx, sondern er sei fÅr uns alle gestorben. Dieser zweite Satz ist
natÅrlich richtig, und niemand wird ihm widersprechen. Aber der erste Satz kÄnnte doch zu
MissverstÉndnissen fÅhren, denn es steht auch geschrieben im 1. Brief des Johannes, daà
Jesus Christus gekommen sei, daà er die Werke des Teufels zerstÄre. Und wenn er etwas
zerstÄren will, dann muà er ja wohl auch gegen das sein, was er zerstÄren will. NÉmlich gegen alle Art zu leben, bei der der Mensch sich nur um sich selber dreht, gegen alle Selbstgerechtigkeit, gegen alle Gottfeindschaft in den Herzen der Menschen und in dem, was aus
einer solchen Gesinnung gestaltet wird auf der Welt, also auch gegen eine staatliche Ordnung, die mit allen Mitteln der Macht die Gottlosigkeit betreiben will.
Also auch gegen eine Wirtschaftsordnung, bei der die Menschen an nichts anderes mehr
denken, als wie sie mÄglichst schnell und mÄglichst viel Geld verdienen kÄnnen. Auch gegen
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
124
all die zahllosen VergnÅgungen in dieser unseren Stadt, die zu nichts anderem fÅhren, als die
Herzen der Jugend daran zu hindern, daà sie jemals erfahren, was wirklich Freude ist. Darum
auch gegen jede Regung der Selbstgerechtigkeit in unseren Herzen.
Und darum ist er fÅr alle gestorben, die wissen, daà sie in einem solchen Leben nicht existieren kÄnnen, sondern die sich danach sehen, ihre Seele wiederzufinden und sich damit aufzuschwingen Åber das Leben der Åbrigen seelenlosen Kreatur auf der Welt.
Und wie hat er uns erlÄst? Er ist gekommen und hat uns zunÉchst einfach etwas gesagt. Er
hat uns gesagt, daà ein Gott im Himmel ist, der uns kennt, viel besser als wir selber, der viel
besser als wir selber weià, daà wir alle miteinander nichts taugen. Der uns aber trotzdem ein
gnÉdiger Vater sein und uns hin einnehmen will in sein ewiges Leben. Das hat er uns gesagt.
Und nun ist es ja schlieàlich leicht, so etwas zu sagen.
Es hat kÅrzlich einer, der in Darmstadt wohnt, in einem Beitrag zu einem vielgelesenem Buch
gesagt: wenn jemand kommt, und so etwas behauptet, dann muà man ihm sagen: Junger
Mann, lerne erst einmal das Leben kennen und komme nach 30 Jahren wieder, da wollen wir
noch einmal darÅber reden. Aber er hat es eben nicht nur gesagt, sondern er hat es zunÉchst
einmal verwirklicht mit seiner Existenz, in dem er uns gezeigt hat, wie das ist, wenn jemand
lebt, getragen von dieser gnÉdigen Gegenwart Gottes und erfÅllt von heiligen Geist Gottes.
Und dann hat er die Gegnerschaft der Menschen auf sich genommen.
Dann ist er fÅr seine VerkÅndigung ans Kreuz gegangen und hat damit nun dieser ganzen
Menschenwelt die Frage vorgelegt: zu wem wollt ihr gehÄren? Zu dieser Masse der Menschen, die das nicht ertragen kÄnnen, daà jemand kommt und ihr eine solche Wahrheit sagt,
oder wollt ihr bei mir stehen und im Blick auf mich euch darÅber klar werden, wie es eigentlich mit euch selber steht, euch schÉmen Åber euch selbst und zu empfinden, daà eure Zukunft nur bei etwas sein kann, was ich bin. Und daà er denn denen, die zu ihm sagen: nein,
ich will nicht mit der Masse mitlaufen, die dich nicht ertragen kann, sondern meine Heimat
ist bei dir. Dann weist er sie empor zu dem, von dem er da gesagt hat, daà er ein gnÉdiger
Vater sein will, und sagt zu den Menschen, wie ich der Sohn dieses Vaters bin und in diese
Welt gekommen bin, um auch dich zu suchen, so sollst nun auch du ein Kind dieses ewigen
Vaters sein und in dem Augenblick, wo du darauf vertraust, bist du es wirklich.
Ein erlÄstes Kind dieses Vaters im Himmel, das ist das, was die Heilige Schrift Glauben nennt.
Und in dem Augenblick, wo das geschieht, da fÅhlt sich der Mensch eben frei. Da weià er,
daà eine andere Art von Leben, als sie so die Åbrige Kreatur und diese gleichgÅltige Masse
der Menschen fÅhrt, bei ihm nun wirklich angefangen hat. Und das ist eine Befreiung, daà
man nur sagen kann: wir haben einen ErlÄser und nun ist alles gut.
Und ich sage das zweite gleich hinterher: weil er uns freigemacht hat von uns selbst, darum
hat er uns auch erlÄst aus der Angst. Das ist ja nun 100 000 mal ausgesprochen worden in
unserer Zeit, daà es in der ganzen Geschichte der Menschheit Åberhaupt noch keine Periode
gegeben hat, in der die Menschheit so sehr im Zeichen der Angst gestanden hat wie heute.
NatÅrlich trifft uns das im Herzen Europas in ganz besonderer Weise, diese Angst davor, daà
diese Massenvernichtung, auf die die groàen MÉchte der Welt sich immer stÉrker prÉparieren, einmal losbricht und dann zunÉchst einmal Åber unseren eigenen Raum einhergeht.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
125
Aber es sind ja nicht nur wir, sondern irgendwie liegt diese Angst ja allen in den Knochen. Ich
habe doch in Amerika selber Menschen besucht, die sich ihr Haus gebaut haben irgendwo in
einem WÉlderversteck und wenn man sich fragte: warum seid ihr denn hierher gezogen,
dann ist immer die Antwort: ja, wenn es losgeht, dann werden wir vielleicht in unserem Versteck noch am ehesten am sichersten sein. Sie leben den ganzen Tag in der Angst.
Und selbst wenn man in die entlegensten Enden der Erde kommt, nach Kontinenten wie
Australien, immer wieder begegnet man Menschen, die sagen: wenn es Åber die hereinbricht, diese groàe Massenvernichtung und dieses groàes Sterben, dann bleiben auch wir
nicht verschont, und darum ist die groàe Unsicherheit Åber unser Leben gekommen. Ich
habe auch Menschen getroffen, die immer von einem Kontinent zum anderen gereist sind,
weil die die Mittel dazu hatten, immer in dem einen Gedanken, wo bin ich relativ noch am
sichersten in dieser groàen Zeit der Angst, die Åber die ganze Menschheit gekommen ist.
Und jeden Tag steht die Kirche Jesu Christi vor der groàen Frage: bist du auch von dieser
Angst befallen oder weià du eine (LÄsung)?
65
Liebe Freunde!
Diese 10 Gebote, von denen ich hoffe, daà unsere Kinder sie alle noch lernen in der Schule,
sie haben ja alle ein „Du“. Aber das „Du“, das da angeredet wird, das ist ja zunÉchst nicht der
einzelne, sondern diese Gebote waren einem Volk gegeben, und das „Du sollst nicht tÄten“,
“Du sollst nicht lÅgen“, das ist alles zunÉchst zu einem Volk gesagt und das ist auch heute
zunÉchst einmal zu den VÄlkern, daà sie den Ehebruch in ihrer Mitte nicht zu einer SelbstverstÉndlichkeit werden lassen. Es gilt den VÄlkern, daà sie nicht tÄten sollen. Es gilt den
VÄlkern, daà sie fÅr eine AtmosphÉre sorgen mÅssen, in der nicht so ungeheuer viel gelogen
wird, wie wir das bei den groàen Prozessen, die und in diesen Tagen bewegen, ja immer
wieder erleben.
Aber auch das letzte Gebot gilt zunÉchst einmal den VÄlkern:“ Du sollst nicht begehren deines NÉchsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist“. Ihr VÄlker Europas, ihr sollt
nicht die BodenschÉtze begehren, die in einem anderen Land liegen. Ihr sollt nicht Gebiete
begehren, die andere VÄlkern gehÄren, bloà um die eigene Macht zu vermehren, und sollte
nicht Menschen heraustreiben aus diesen Gebieten, nur damit ihr da einziehen kÄnnt. Ihr
sollt nicht begehren die geistige KrÉfte, also Spezialisten, die in einem anderen Volk sich empor gearbeitet haben, sondern ihr sollt zufrieden sein mit der Aufgabe, die euch Gott gestellt
hat, fÅr euer eigenes Leben, fÅr ihr eigenes Land, fÅr eure eigene Herrschaft. Wir wollen
nicht aufhÄren, Gott jeden Tag zu bitten, daà er eine Zeit herauffÅhre, in der diese einfachen
Gebote fÅr die VÄlker wieder etwas gelten.
Und da mÅssen wir es ja freilich denen, die die politische Verantwortung tragen, Åberlassen,
was sie fÅr richtig halten, damit auf der einen Seite dieses Reich Gottes wirklich komme, und
damit auf der anderen Seite das eigene Volk nicht, ehe sich irgend etwas neu bilden kÄnne,
schon zum Raube gottfeindlicher MÉchte geworden ist. Aber was wir tun kÄnnen, und was
wir tun sollen, das ist das, daà wir die Augen aufmachen und sehen, daà durch dieses Zeitalter der Angst Menschen hindurchgehen, die von solcher Angst vÄllig frei sind. Und diese
Menschen gibt es.
65
Zeilen fehlen
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
126
Es hat sie gegeben in dem groàen Zusammenbruch. Ich habe doch genug Menschen kennen
gelernt, die, weil die frei waren von jeder Angst, der Halt der anderen waren im Luftschutzkeller, auf der Flucht vom Osten nach dem Westen. Nicht, weil sie besonders starke PersÄnlichkeiten waren. Es waren ja manchmal ganz einfache, ganz zarte, stille und innerliche Menschen. Aber sie waren eben freigeworden von der Angst. Und wenn man sie nach diesem
Geheimnis fragt, dann war es doch immer so, daà sie auf einen gestoàen waren, dem sie
eben vertrauten, und daà dieser eine sie auf den Gott gewiesen hatte und ihr Herz dazu bewegt hatte, diesem sich ganz hinzugeben, der eben sagt: Ich bin euer Vater, und es kann
euch nichts geschehen, als was ich hab ersehen, und was euch selig ist. Sie sind vielleicht
gestorben, sie hÉtte ja immer sterben mÅssen, aber sie sind eben vielleicht etwas frÅher gestorben, als sie sonst gestorben wÉren. Aber sie sind mit einem nicht angstverzerrtem Gesicht sondern mit einem frÄhlichen Schimmer in ihren Augen sind sie gestorben, weil sie
wussten, wir gehen in die HÉnde dessen, bei dem wir ewig geborgen sind. Und sieh, das ist
das, was der ErlÄser der Menschheit in diese Welt hineingebracht hat, daà man ohne lange
philosophische EinÅbung, ohne ein SchÅler von Psychiatern zu sein, die, wenn man sie genau
fragt, selber grade so viel Angst haben vor dem Leben wie andere, sich einfach diesem ihrem
Vater im Himmel hingegen haben. Und daà es solche Menschen gibt, ist ja doch die Frage an
jeden einzelnen von uns: willst du nicht auch zu diesen Menschen gehÄren, und was das bedeutet, wenn man ein Leben fÅhrt, in dem es wirklich keine Angst mehr gibt?
Es ist ein groàes Wort, was ich sage, aber ein Wort, das ich aus der Wirklichkeit des Lebens
nehme, in dem ich jeden Tag stehe, wenn man wirklich frei geworden ist von der Angst. Es
ist ein neues Leben und zu diesem Leben ruft sich der, der der ErlÄser der Menschen ist. Du
sollst auch einmal sagen kÄnnen: Ich bin erlÄst von der Angst und nun ist alles gut.
Und ich sage das letzte: nun sind seine erlÄsten Menschenkinder freigeworden fÅr die dankbare Tat. Denn daà wir das, was wir da erfahren, nicht in unseren Herzen verschlieàen kÄnnen, das versteht sich ja von selbst. Wem das Herz voll ist, das geht der Mund Åber. Und wo
eine Existenz ist, da wirkt sie sich auch nach auàen aus. Ich nehme an, daà in dieser ErlÄserkirche 100mal der berÅhmte Satz von Friedrich Nietzsche laut geworden ist: „ErlÄster mÅssen mir seine JÅnger aussehen, wenn ich an ihren ErlÄser glauben sollte“.
Das ist sicherlich ein falsches Wort, denn es handelt sich gar nicht darum, wie wir aussehen,
sondern es handelt sich darum, wer der ErlÄser ist, und was dieser ErlÄser wirkt an vielen
Menschen, vielleicht noch nicht an mir, aber an anderen und, wie ich hoffe, auch einmal an
mir selbst. Aber das eine ist klar, wir kÄnnen dann nicht weiter so leben, wie die anderen
leben, sondern das muà sich irgendwie auswirken, was die erfahren haben, und worin soll
sich das anders auswirken als in der dankbaren Tat.
Als wir im Kindergottesdienst waren, haben wir gelernt:
Danken mit dem Mund hat wenig Grund,
Mit Worten Dank hat bessern Klang,
Dank mit der Tat, das ist mein Rat.
Und dieses Wort wird ja am Ende auch fÅr die Erwachsenen noch gelten. Wir sind dem, der
der ErlÄser der Menschheit ist und auch unser ErlÄser, den Dank schuldig in dem, daà wir fÅr
ihn etwas tun. Und nun sind wir ja alle ganz einfache und schlichte Menschen, aber wir wol-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
127
len uns doch an jedem Tag sagen, daà das, was wirklich bedeutend ist in der Geschichte der
Menschheit, ja nicht die groàen Entscheidungen sind, die von groàen MÉnnern einmal getroffen werden. Nicht die groàen Erfindungen, die die Wissenschaftler und die KÅnstler in
diese Welt hineinstellen, sondern es ist ja so, wie es in unserem Leben auch ist.
Unser Leben wird ja niemals gemacht durch die besonderen Erlebnisse, die wir haben. Unser
Leben wird gemacht durch die kleinen Dinge, die sich aneinander reihen. Man muà den Verheirateten ja immer wieder sagen, es ist das TÄrichteste, was es gibt, wenn einer zu dem
anderen sagt: “Es wird ja schon einmal eine Gelegenheit kommen, bei der ich dir beweisen
kann, daà ich dich lieb habe“. Sondern diese Gelegenheit muà in jeder Stunde da sein, muà
da sein an jedem Tag, muà da sein bei jeder Handreichung, die man dem anderen macht, in
jedem Wort, das man dem anderen sagt. Und die Summe dieser kleinen Dinge bestimmen
einen Menschen leben. Und die Summe dieser kleinen Dinge bestimmt das Leben unseres
Volkes.
Und wenn ein Volk beherrscht wird durch eine solche Summen von kleinen Taten der Dankbarkeit gegen den, der uns erlÄst hat, dieses Volk ist nicht unter zu- kriegen. Es mag geschehen, was da will. Und darum, es gibt in dieser Zeit der Angst Åberhaupt gar keine andere Sicherheit als die, daà jeder von uns sagt: ich will in meinem kleinen bescheidenen Kreis beweisen mit der Tat, daà ich ein Christ bin und meinem ErlÄser dankbar bin. Und wenn sich
dann eines an das andere reiht, da ist die Sicherheit, ich sage noch mal, die einzige, die es
gibt in dieser Welt der Angst.
Und so wollen wir etwas tun fÅr den, der uns erlÄst hat. Wir wollen nicht vergessen, daà es
auf dieser Welt noch sehr viel zu erlÄsen gibt, sehr wohl auch Éuàerlich. Wir mÅssen doch
einmal aufhorchen, daà uns gesagt wird, daà die bei weitem grÄàere HÉlfte der 2 Mill. Menschen, die es auf der Welt gibt, nicht genug zu essen hat, einfach nicht genug zu essen hat.
Wir sollten doch am Ende aufhorchen, wenn wir immer wieder in unserer eigenen Stadt sehen, wie viele Menschen vor unseren Augen zugrunde gehen, einfach deshalb, und das kann
man jeden Tag in der Zeitung lesen, daà sie schon als Kinder kein wirkliches Zuhause gehabt
haben, daà heranwachsende junge Leute keine elterliche AutoritÉt, keine wirkliche Heimat
gehabt haben und damit eben zugrunde gehen. Und das fordert doch von uns, daà wir unser
Leben so einrichten, daà davon ein Einfluss ausgeht auf die anderen.
Es kann sich ja nicht nur darum handeln, daà wir unser Portemonnaie immer wieder ziehen
und sehen, ob wir nicht noch etwas Åbrig haben fÅr die anderen. Das ist auch sehr nÄtig, und
das muà man gerade in Westberlin immer wieder sagen. Denn hier in Berlin kann unser einer das ja mit HÉnden greifen, daà die Leute im Osten, die es weniger gut haben, viel grÄàere Opfer fÅr andere bringen als die Leute im Westen, denen es so viel besser geht. Aber
wer da meint, daà er unsere Jugend damit hilft, daà er immer noch mehr Geld gibt, ist ein
Narr. Sondern es handelt sich um diese persÄnliche, freundliche, gÅtige aber auch ernste
Hingabe an andere Menschen. Es handelt sich darum, daà man sich um den Nachbarn kÅmmert, daà man fÅr einen jungen Menschen auch mal ein gutes Wort hat, daà man ein Beispiel dafÅr gibt, daà man seine Zeit nicht bloà vertrÄdeln kann mit allerlei Torheiten, sondern daà man sich sammeln kann um etwas Ernstes. Daà man beten kann.
Es ist ja fÅr manchen Menschen einfach ein Erlebnis aus einer fremden Welt, wenn sie einmal in ein Haus kommen, wo die Menschen nicht einfach anfangen zu essen, ohne daà sie
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
128
gebetet haben, und solche Beispiele sind wir den Menschen eben schuldig. Und was es sonst
noch fÅr Gelegenheiten geben mag. Wir wollen nicht aus unserem Leben gehen, ohne dem
ErlÄser der Menschen dadurch gedankt zu haben, daà kein Tag in unserem Leben sei, an
dem wir nicht etwas getan haben fÅr die Menschen, fÅr die er alle gestorben ist, und denen
allen er hat ein ErlÄser sein wollen. Das soll das Bekenntnis sein, das von dieser ErlÄserkirche
nun hinaus geht in das Leben unserer Stadt.
Ich weià nicht, ob wir alle das wirklich ermessen, was das bedeutet, wenn ein Mensch und
wenn eine Gemeinde sagen kann: Ich habe einen ErlÄser, ich habe einen Gott, der zu mir
spricht: Ich bin dein Heiland und dein ErlÄser. Wir wollen es lernen, besser an jedem Tag und
Åber jedem Tag soll das aufleuchten: Ich danke dir, mein Herr Jesus Christus, daà ich einen
ErlÄser habe fÅr Zeit und fÅr Ewigkeit. Amen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
129
Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965
Die evangelische Kirchenleitung Berlin-Charlottenburg 18. Januar 1956
Berlin-Brandenburg Jebensstraàe 3
K.I Nr. 292/50
Der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland hat in seiner Sitzung am 17. und 18. Januar
diesen Jahres den nachfolgenden Beschluss gefasst.
Die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg hat sich diesen Beschluss in ihrer Sitzung von 19. Januar diesen Jahres zu eigen gemacht und bringt ihn hiermit zur Kenntnis mit der Bitte, ihn
auch in den Gemeinden bekannt zu machen. Damit dÅrfen sich auch die mancherlei Fragen
erledigen, die seitens einzelner Pastoren und GemeindekirchenrÉten in dieser Sache an uns
gerichtet worden sind. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:
Die éffentlichkeit ist in den letzten Wochen durch âuàerungen einzelner kirchlicher PersÄnlichkeiten beunruhigt worden. Wir stellen fest: diese âuàerungen, wie immer sie auch gelautet haben mÄgen, sind nicht Kundgebungen der evangelischen Kirche, sondern gehen auf die
alleinig Verantwortung derer, die sie getan haben.
Zu den aufgeworfenen Fragen erklÉrt der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland:
1. WÅrde und Freiheit des Menschen sind nach christlicher Lehre unantastbar. Auch die
Einheit des deutschen Volkes, unter deren Verlust wir heute mit unserem ganzen
Volke schwer leiden, darf nicht mit der Preisgabe dieser wÅrde und dieser Freiheit
erkauft werden.
2. Die evangelische Kirche in Deutschland kann den infolge der Politik der
BesatzungsmÉchte entstandenen eisernen Vorhang nicht anerkennen. Er stellt eine
stÉndige Bedrohung des Friedens und damit der Freiheit der Menschen und der
VÄlker dar.
3. Es widerspricht der WÅrde des Menschen, wenn Angeschuldigte ohne geordnetes
Rechtsverfahren ihrer Freiheit beraubt werden. Daher sind Konzentrationslagern
abzulehnen, und zwar in jeder Form und in jedem Land. Gradunterschiede in der
Behandlung von HÉftlingen Éndern an diesem grundsÉtzlichen Urteil nichts.
4. GegenÅber dem Angriff antichristlicher MÉchte haben beide christlichen
Konfessionen gemeinsam im Kampf gestanden. Diese Tatsache muss auch heute fÅr
das VerhÉltnis der beiden Konfessionen zueinander gelten, ohne dass wir dadurch
der Pflicht enthoben sind, den konfessionellen Gewichtsverschiebungen ernste
Aufmerksamkeiten zuzuwenden.
Die evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg
gez. Scharf gez. Dr. von Arnim gez. Dr. BÄhm
An die
GemeindekirchenrÉte
unseres Aufsichtsbereichs
durch die Herren Superintendenten
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
130
Neuaufteilung unseres Gemeindebezirks Okt/Nov 1976
Nachfolgende Straàen gehÄren zu:
Pfarrbezirk I Pfarrbezirk II
Alt- Moabit 35- 51, Agricolastraàe, Englische
Straàe, Eyke-von-Repkow-Platz, Gotzkowskystraàe, Gutenberg-Straàe, Hansa Ufer , Solinger
Straàe, Tile-Wardenberg-Straàe, Wikinger Ufer,
Wullenweberstraàe, Zinzendorfstraàe
Alt-Moabit 52- 64, Beusselstraàe 1- 14 u. 77- 90,
Erasmusstraàe, Franklinstraàe, Haller Straàe,
Helmholtzstraàe, Huttenstraàe 34-73, KaiserinAugusta-Allee 1-30 u. 96-120, Klarenbachstraàe,
Morsestraàe, Neues Ufer , Pascalstraàe, Reuchlinstraàe, Salzufer, Treidelweg, Turmstraàe 61,
Wiebestraàe 1- 20 u. 42- 58, Zwinglistraàe 18-26
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
131
Quellen- und Literaturverzeichnis
Von Heike MÅns
ï‚· Archiv und KirchenbÅcher der ErlÄserkirchengemeinde, 10555 Berlin Tiergarten,
Wikingerufer 9
ï‚· Maschinenschriftliche Chronik der ErlÄserkirche, o. Verf., o. J.
ï‚· Schriftwechsel, Akten und Kirchliche Berichte, Gemeindebriefe der Gemeinde
ï‚· BeschlÅsse der Berliner Stadtsynode in den Sitzungen am 28.und 29. April 1904, Berlin 1904
ï‚· Goetz, Stefan: Kirchen fÅr Berlin. Der Wilhelminische Bauboom, Berlin 2008
ï‚· Grothe, JÅrgen: Ein Spaziergang durch Moabit…wie Bolle auf dem Milchwagen. Geschichte und Geschichten. Kassel 2008.
ï‚· Gundermann, Iselin: Kirchenbau und Diakonie: Kaiserin Auguste Victoria und der
Evangelisch-Kirchlicher Hilfsverein. Evangelischer Kirchenbauverein, 1992.
ï‚· LÅtkemann, Wilhelm: Deutsche Kirchen Bd. 1-Die evangelischen Kirchen in Berlin.
Berlin 1926.
ï‚· Mirbach, Freiherr von: Die drei ersten Kirchen der Kaiserin fÅr Berlin. ErlÄser-Kirche.
Himmelfahrt-Kirche. Gnaden-Kirche. Berlin 1901.
ï‚· Oehlert, Wilhelm: Moabiter Chronik. Festgabe zur Feier der fÅnfzigjÉhrigen
ZugehÄrigkeit des Stadtteils Moabit zu Berlin. Im Selbstverlag des Verfassers. Berlin
NW 21, 1910.
ï‚· Rosenfeld, D. Die kirchlichen Handlungen, die Kollekten und die Wohlfahrtspflege des
Kirchenkreises Berlin-Stadt II im Jahre 1924. Berlin 1925.
ï‚· Wendland, Walter: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte in Berlin, Berlin 1930.
ï‚· Bildnachweis: Alle Fotos und Dokumente stammen aus dem Archiv der ErlÄserKirchengemeinde.
Ein groÑes DankeschÄn an alle , die durch WortbeitrÖge, Materialbeschaffung, Durchsicht
von Akten und Bildmaterial geholfen haben! Das waren:
Katja Babbel
Christel Weber
Waltraud Bernd
Michaela Erdmann
Christian Syperek
Rolf Jaenke
Pfarrer Wolfgang Massalsky
Gabriele Münster
Jürgen Wendt
Andrea v. Wittken
Pfarrerin Reichwald-Siewert
KMD Edda Straakholder