"Erbengemeinschaft"

Berlin, 24. 5. 24

Lieber Pater … ,

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Zu Ihrem Vortrag selbst wollte ich von meiner Seite aus gern die Frage anschneiden, wie das ist mit der Erbengemeinschaft, - wenn ein Erblasser sein Eigentum vererben will, entsteht ja oft eine Rangelei um das Erbe, wenn nicht rechtzeitig eine Regelung getroffen wurde. Das haben Sie ja auch erwähnt. Wir kennen das ja auch aus der Lessingschen Parabel in "Nathan der Weise". Wem gehört der Ring in jener Parabel, wer trägt ihn zurecht?

Zweifellos gehen wir heute pragmatischer mit diesen Problemen um als in archaischen Zeiten, weil man mit Geld viel regeln kann. Aber wenn es um die Liebe eines Vaters geht, nützt die Entschädigung durch eine Dauerstellung als erster Geschäftsführer im eigenen Betrieb nicht viel, siehe die Geschichte vom verlorenen Sohn, eigentlich sind es ja zwei verlorene Söhne  (denn was hatte der ältere davon, der für zwei gearbeitet hat, um den Laden aufrechtzuerhalten, - und jetzt wie der Dumme dasteht?).

Wenn sogar Liebe und Bevorzugung  oft sehr zerstörerisch (auch selbstzerstörerisch) wirken können, was kann dann der Haß aus uns machen?

Also im Leben kommen solche oft fatalen Probleme des Bruderstreits immer wieder vor.

Ein ähnliches Problem ist das, das mit dem ERstgeborenen gegenüber anderen Kindern gegeben ist, wie Abrahams Geschichte mit Isaak und Ismael zeigt ... 

Geht es um Religionen, wie Judentum, Christentum und Islam, stellt sich das Problem gar nicht so viel anders:  Welche ist die einzig erbberechtigte Religion? Welche Religion liebt Gott am meisten? Oder muß Gott alle Religionen in gleicher Weise lieben? Im Koran ist  Ismael kein weniger geliebter Sohn Abrahams, im Gegenteil, dort wird Isaak totgeschwiegen... Im AT  ist klar, wer der eigentlich geliebte ist: Isaak, jedenfalls nach dem Willen der Sara. Aber im Islam ist es eben Ismael. Jede Seite will die Liebe Gottes allein für sich beschlagnahmen.

Paulus ist mit einem ähnlichen Problem konfrontiert: die Verheißungen an die Juden, sind sie durch Christus ungültig geworden? Nein sagt Paulus! Er war allerdings davon überzeugt, daß Israel eines Tages der Erlösung in Jesus Christus zustimmen werde. Die Juden sehen die Dinge von ihrem STandpunkt aus aber ganz anders: Sie sind ja auch gar nicht damit einverstanden, daß ihr Testament ein altes sein soll, das Gott durch ein neues ersetzt habe. Dieser Streit mit Israel und den Juden begleitet die Christenheit, seitdem es sie gibt. Kann das der Vatikan (unter Joh. Paul II.) für erledigt erklären, wenn das  NT diesen STreit schon im Namen sichtbar werden läßt?

Und wie ist nun das Verhältnis von Katholiken und Protestanten zu beurteilen?  Ist es wahr, daß wir eine friedliche Erbengemeinschaft bilden, wie Sie in ihrer Predigt angedeutet haben oder hoffen, wobei der Katechismus von Papst Ratzinger [in diesem Punkt] doch eine andere, viel weniger verständnisorientierte Sprache spricht? Wenn es um Wahrheit geht, und darum ging es Ihnen ja in Ihrer Predigt auch, ist meistens jeder davon überzeugt, daß sein Glaubens-Standpunkt der einzig richtige ist. 

Das Problem ist eben n. m. M. dieses: Wieviel Toleranz ist möglich in Sachen des Glaubens? Können wir zulassen und zugeben, daß der absolute Gott auf verschiedene Weise angebetet werden kann und vielleicht sogar will, daß also Religionen vor ihm nichts als gutgemeinte Traditionen sind und daß keine REligion von ihm autorisiert ist, einen "Alleinvertretungsanspruch" zu erheben (und dazu gehört dann vielleicht sogar die Idee der einzigen und endgültigen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus)?

 Die entscheidende Aufgabe wird darum die sein, wenn man Religionen als heilsentscheidend beurteilen will (und das will ja eigentlich jede sein), inwieweit sie fähig sind, sich selbst als lern- und korrekturfähig darzustellen, weil der über alle Traditionen und Denkweisen immer wieder hinweggehende Gott - denn sonst gäbe es ja keine Heilsgeschichte - keiner Religion exklusive Rechte an sich selbst gibt, wobei diese ganz undogmatische Feststellung nicht als Ausdruck der Schwäche oder gar der Selbstaufgabe der eigenen Glaubensposition verstanden werden darf (obwohl die Selbstaufgabe in Liebe ja eigentlich die Quelle ganz allgemein jedes christlichen und so gerade auch des priesterlichen Lebens sein muß, zumal Jesus selbst den Weg der Selbstaufgabe in den Willen Gottes hinein gegangen ist), -  sondern angesichts der gewaltigen Probleme im Umgang mit den fremden Religionen in einem multireligiösen Staat wie es Deutschland nun einmal geworden ist, der einzig mögliche Weg zu sein scheint, um irgendwann zu einer friedlichen Verständigung und zu einem friedlichen Ausgleich trotz aller Spannungen zu kommen, wenn nicht unser ganzes Leben eines Tages  in einem religiösen Inferno enden soll. Aber wer weiß, ob nicht gerade dieses der Ausgangspunkt einer ganz neuen Gottesoffenbarung sein wird.

Auf diesem Weg haben Katholiken schon viele mutige Entscheidungen der Selbstaufgabe getroffen, die ich nur bewundern kann. Wohin uns Gott auf diesem  Wege führen will, wissen wir noch nicht, vielleicht sogar dahin, wohin wir nicht wollen. ("... und führen, wohin du nicht willst.")

Soviel zu den Fragen und Überlegungen, zu denen mich Ihr Vortrag wieder einmal angeregt hat.

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Herzliche Grüße Ihr

W. M.