Christlicher Orient
Alte Kirche, Altorientalische Kirchen, Ostkirchen - was ist darunter zu verstehen?
1. Die Bezeichnung „Alte Kirche“
Man versteht darunter die Kirche des Altertums (2. bis spätestens 8. Jht.), die auf dem Boden der antiken (hellenistisch-griechisch-römischen) Kultur entstanden ist, im Gegensatz zur lateinischen Kirche des Mittelalters, die nach dem Niedergang Roms auf dem Boden germanischer Staaten entstanden ist und sich nach und nach über ganz (West-) Europa ausgebreitet hat.
1.0.1 Aufgabengebiete altkirchlicher Theologie: Verteidigung des Christentums gegenüber griechischer Philosophie (Apologeten): Glaube und Vernunft („Hellenisierung des Christentums“) 2. Entfaltung der christlichen Lehre (Kirchenväter und Konzile), 3. Kampf gegen Irrlehren (Gnosis).
1.0.2 Theologischer Hauptertrag: Neuformulierung der Gotteslehre: der eine Gott in drei Personen!
1.0.3 Probleme, die nicht definitiv gelöst wurden: a) Warum ist die göttliche Trinität des christlichen Glaubens kein Tritheismus? b) Wie kann Christus „wahrer Gott und wahrer Mensch“ zugleich sein (Chalkedon 451), wenn die Logik auch in der Gotteslehre gelten soll?
1.0.4 Wegen dieser Probleme ist es nicht nur zu ernsthaften Zerwürfnissen der Ostkirchen untereinander und zu kirchlichen Neubildungen im östlichen Bereich der Alten Kirche gekommen, sondern auch zur Schwächung der eigenen Glaubenskraft, so daß nicht nur die äußere, sondern weithin auch die innere Widerstandskraft fehlte, als der Islam bei seinem Vormarsch auf Byzanz, im Mittelmeerraum und in Europa die Gotteslehre der Christenheit als „polytheistisch“ angriff.
1.1 Das Ursprungsgebiet des Christentums ist bekanntlich die Heimat Jesu, d.h. die Orte in Galiläa, Samarien und Judäa (und in der Dekapolis) im heutigen Palästina, in denen er gelebt und gewirkt hat, wo die einfache Bevölkerung übrigens nicht Griechisch, sondern Aramäisch gesprochen hat. Das Ursprungsgebiet des Christentums ist also der Orient, von wo es in der Mitte des 1. Jhts. durch die Missionstätigkeit des Apostels Paulus nach Europa gebracht wurde.
Das Zentrum der sog. Heidenmission war Antiochia. Von dort zog Paulus in Richtung Westen, von dort aber startete auch die Mission in den Osten, während sich die Aktivitäten der Jerusalemer Urgemeinde im wesentlichen auf Palästina beschränkten.
1.2 Darum besteht die Alte Kirche nicht nur aus den Kirchen des Westens um das Zentrum Rom, sondern auch aus den Kirchen des Ostens (die ihrerseits in „Altorientalische Kirchen“ und „Ostkirchen“ unterschieden werden können). Ja die Kirchen des Ostens (mit ihren Zentren Alexandria, Antiochia und später Konstantinopel) spielen in den ersten Jahrhunderten der Alten Kirche in vieler Hinsicht (nicht zuletzt durch den Kampf gegen den Arianismus und den Gegensatz von Monophysitismus und Nestorianismus) eine bedeutendere Rolle als die Kirchen des Westens. Jedenfalls ist ihre Sonderstellung nicht erst durch die Teilung des Reiches 395 bedingt.
2. Die „altorientalischen Kirchen“
Als a.o. Kirchen werden heute außer der „Syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien“ noch folgende (außerhalb der oströmischen Reichsgrenzen liegende) Kirchen verstanden: die Koptische Kirche, die Mar Thoma Kirche im Südwesten Indiens, die Äthiopische Orthodoxe Kirche, die Eritreische Orthodoxe Kirche und die Armenische Apostolische Kirche. Sie alle lehnen bestimmte Teile der dogmatischen Tradition der Gesamtkirche (die eigentlich als Kompromißlösungen, die für beide Seiten annehmbar sein sollten, gedacht waren) ab und sind seitdem eigene nationale Wege gegangen. Der definitive Bruch mit Rom, das sog. "Morgenländische Schisma" fand erst 1054 statt. Am stärksten hat die von den Nestorianern Edessas beeinflußte Nationalkirche des Iran ihre eigenständige kirchliche Tradition bewahren können, weil sie dort wegen ihrer Gegnerschaft zum alten Byzanz bis zur Islamisierung hohe Anerkennung besaß.
3. Was sind die sog. „Ostkirchen“?
Die Ostkirchen, sofern sie nicht den Altorientalischen Kirchen zugerechnet werden oder mit Rom uniert sind wie z. B. die Maroniten, sind die orthodoxen Nationalkirchen, die überwiegend von Byzanz abhängig waren und teilweise auch den byzantinischen Ritus übernahmen. Dazu gehören vor allem die orthodoxen Neugründungen unter den slawischen Völkern, wovon die russisch-orthodoxe Kirche (10. Jht) die gegenüber Rom und Konstantinopel wichtigste Nationalkirche wurde. Streitigkeiten darüber, welcher Kirche der Primat gehört, belasten bis zum heutigen Tag die Beziehungen der Kirchen untereinander und sind Gegenstand immer neuer Bemühungen um die Überwindung der Kirchenspaltungen (→ Ökumene).
Wolfgang Massalsky, 1. 7. 2014