Christentum als "wahre Philosophie"
Wer ist Tatian?
I. Woher kommt er? Was prägt ihn?
1. Sein Leben und Denken
a) Was wir über sein Leben sagen können, beruht fast nur auf Vermutungen. Es gibt keinen Lebenslauf und keine gesicherten Daten, die uns gestatten, eine genaue Chronologie seines Lebens zu entwerfen. Er selber hat nicht viel über sich geschrieben. Wir wissen weder wann er geboren wurde, noch wann und wo er gestorben ist. Er schrieb lediglich, daß er in „Assyrien“ geboren wurde (und dort aufgewachsen ist). Der geographisch-politische Ausdruck „Assyrien“ ist freilich sehr weitläufig, weil dazu in jener Zeit nicht nur das Kerngebiet zwischen Euphrat und Tigris bis nach Medien, sondern auch das Gebiet Syriens bis nach Anatolien, ja sogar Armenien gerechnet wurde.1 Die Menschen sprachen dort seit Jahrhunderten (Reichs-) Aramäisch, so daß das sehr wahrscheinlich auch seine Muttersprache war und er Aramäisch sprechen und schreiben konnte, obwohl es dafür keine Zeugnisse gibt.
Zeitgenössische Hinweise auf Tatian gibt es nur wenige (am ehesten von Irenäus, gest 202). Andere Mitteilungen (z. B. von Euseb, 265-339) stammen aus einer Zeit, als er bereits tot war und für die einen eine Berühmtheit2, für die anderen ein verdammenswerter Häretiker.
Wenn man aber die verschiedenen chronologischen Anhaltspunkte, die seine Werke bieten (Entstehung und Bekanntwerden seiner Werke, Lehrjahre, Schulen und alle Äußerungen und Mitteilungen über ihn und seine Wirkungen) auswertet, erhält man als maximale Eckdaten für Tatians Leben die Jahre zwischen 110 und 1903.
b) Über seine Familie erfahren wir leider so gut wie nichts. Sie kann nicht unvermögend gewesen sein. Denn irgendwie mußte sein Bildungsstreben ja auch bezahlt werden.
Seine von ihm schon als junger Mann unternommenen Reisen, vor allem sein langer Aufenthalt in Rom, setzen jedenfalls ein gesichertes Einkommen oder Vermögen voraus, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Später, als er sich selbständig gemacht hat, besaß er möglicherweise über seine Schule bzw. seine Schüler die notwendigen Einkünfte für seine Ausgaben.
c) Wo und wann er mit dem Christentum erstmalig in Kontakt gekommen ist, auch darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Ich vermute jedoch, daß er bereits in seiner Heimat erste Kontakte zu Christen evtl. sogar zu christlichen Gemeinden4 hatte und nicht erst in Rom, wo er offiziell zum Christentum übertrat (von einer Taufe ist jedoch nichts bekannt!).
d) Wie intensiv und umfassend seine Studien des Christentums und des christlichen Glaubens in Rom waren, kann man allerdings aus seinen Schriften nicht erschöpfend beantworten. Er hat das Christentum anscheinend vor allem unter dem philosophischen Aspekt seiner Wahrheit zur Kenntnis genommen. Dabei geht er praktisch überhaupt nicht auf seine Geschichtlichkeit ein5, wie es etwa Justin mit seinem geschichtstheologischen Entwurf6 getan hat. Es verwundert daher nicht, daß seine Verteidigung des christlichen Glaubens in erster Linie eine Abrechnung mit der griechischen Schulphilosophie darstellt.
e) Offenbar ist die Wahrheitsfrage für ihn auch ohne die Geschichtsbezogenheit der Gottesoffenbarung in Christus, ja vielleicht sogar nur ohne sich auf sie einzulassen, zu entscheiden. Geschichte ist ja immer auch das Feld der Relativität. Dagegen muß nach Tatian die Philosophie (übrigens gerade auch in der Perspektive griechischen Denkens) nach ewigen Wahrheiten streben, die es in der Religion nur gibt, wenn ihre (geschichtlich offenbarte) Wahrheit mit der Vernunft (Logos) übereinstimmt. Diese Überlegung setzt freilich voraus, daß in Tatians Sicht (ewige) Wahrheit nicht nur keine Anbindung an geschichtliche, d.h. vergängliche Vorgänge duldet, sondern sogar in direktem Gegensatz zu allem Geschichtlichen steht.
f) Insofern ist sein erstes Hauptwerk7 nicht nur als eine kritische Abrechnung mit griechischem Philosophieren, sondern als eine nicht minder kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz Justins8 (ca. 100-165), seines Lehrers, zu verstehen. Gewiß ist Tatian ein Apologet des Christentums, indem er (wie Justin) zu zeigen versucht, daß das Christentum über einen höheren Wahrheitsgehalt als die griechische Philosophie verfügt. Aber indem er dem Griechentum, griechischem Geist und Philosophieren jede Wahrheitsfähigkeit abspricht, geht er doch einen in seiner Radikalität anderen Weg (als Justin und die anderen Apologeten), den das Christentum des Westens letztlich nicht mitgehen konnte.
g) Sein Verständnis von Wahrheit hängt an drei Prinzipien9: 1. Wahrheit muß direkt von Gott herkommen. 2. Ihre Formulierung muß bereits vollgültig, d.h. irrtumsfrei in ihren ältesten Ausprägungen vorliegen (was z. B. bei Mose gegenüber Homer ja auch der Fall sei). Daran schließt sich 3. ihre Einheitlichkeit an. Damit sind Teilwahrheiten ausgeschlossen; entweder alles ist wahr oder nichts.
Widersprüche zwischen den philosophischen Aussagen, aber auch zwischen Philosophie und Religion, Ethik und Kunst widerlegen jeden Wahrheitsanspruch. Das gilt freilich nicht nur für das Griechische, sondern mußte auch ein an der Geschichte orientiertes Christentum treffen, weil Geschichte nicht primär Einheit, sondern vor allem Wechsel bedeutet10.
2. War Tatian Gnostiker?
a) Nachdem sich Tatian nach seiner Schul-Zeit bei Justin in Rom als christlicher Lehrer niedergelassen und seine eigene philosophische Schule gegründet hatte, wird ihn seine nach dem Tode Justins11 erfolgte (überraschende?) Exkommunikation12 aus der christlichen Gemeinde Roms sicher schwer getroffen haben. Die weitere Zukunft Tatians steht jedenfalls unter dem Bannstrahl dieses Ausschlusses und der Häretisierung seiner Lehre.
Aus den (patristisch-altkirchlichen) Quellen wissen wir, daß er nachdem er Rom verlassen hatte, wieder in seine alte Heimat zurückgekehrt ist. Vermutlich wurde Edessa sein neuer Lebensmittelpunkt13.
b) Ob er zum Zeitpunkt seines Weggangs von Rom bereits mit gnostischen (und extremen asketischen) Anschauungen liebäugelte, wie ihm nachgesagt wurde, ist zwar nicht auszuschließen, weil es solche Gedanken dort tatsächlich gab14. Anfällig konnten dafür allerdings nur jene Christen sein, die das Christusereignis im Schema eines enthistorisierten Erlösermythos dachten. Einzelne Hinweise in seiner Rede an die Griechen lassen zwar den Verdacht aufkommen, daß er diese Sichtweise teilte. Aber daß sie das Zentrum seines Denkens ausmachte, wird man nicht sagen können. Der Vorwurf, er sei später Führer der Enkratiten15 in Mesopotamien geworden, ist jedenfalls falsch16. Darum muß festgestellt werden: Ein Gnostiker im eigentlichen Sinne war er bestimmt nicht17.
Bedenklich ist jedoch nicht nur der ungeschichtliche Charakter seines Christentums (im Unterschied zu demjenigen Justins und Irenäus'), sondern auch sein radikaler ethischer Ansatz, dessen Strenge bei den Enkratiten tatsächlich sektiererische Züge annahm: Leibfeindlichkeit als ethische Grundhaltung, Ehe als Unmoral und Hurerei, Wasser statt Wein zur Eucharistie, Gemeindemitgliedschaft nur bei Observanz dieser selbstauferlegten Disziplin. Wenn das auch persönlich Tatians moralischer Anspruch an die Christen war, war ein Bruch mit Rom in der Tat unvermeidlich. Denn solche Enge konnte kaum auf Dauer in einer christlichen („katholischen“) Gemeinde (westlichen Zuschnitts) toleriert werden.
Aber bedeutete es auch einen Bruch mit östlichen Christentumsformen? Jedenfalls muß man sehen, daß seine zweifellos vorhandene Nähe zu diesen Frömmigkeitsformen nicht als eine Abwendung von seinem eigenen Christentum18 beurteilt werden kann, vielmehr sogar als dessen Konsequenz erscheint. Umgekehrt heißt das, daß Tatians Christentum wahrscheinlich nie als „orthodox“ im westlichen Sinne zu bezeichnen war. Es war, so würde ich behaupten, eine Orthodoxie eigener (eben östlicher) Art. Wenn er es nicht bereits in sich trug, als er nach Rom kam, wo sollte er dieses Christentum zwischen 150 und 165 in Rom kennengelernt haben?
II. Seine Werke
1. Vollständig überliefert wurden lediglich die Rede an die Griechen und das Diatessaron. Als Titel und durch vereinzelte Zitate sind außerdem die folgenden Werke bekannt:
Das Buch der Probleme, Über die Dämonen, Über die Vollkommenheit, Über die Tiere, An (Gegen?) jene, die über die Theologie gehandelt haben.
2.1 Rede an die Griechen19
a) Man spürt sowohl in ihrer Diktion wie in ihrer Argumentation von Anfang an eine ziemlich starke, geradezu ressentimentgeladene Voreingenommenheit gegenüber allem Griechischen, die vielleicht sogar schon die Mentalität seiner häuslichen20 und gesellschaftlichen Umgebung geprägt hat. Doch entscheidend für sein abfälliges Urteil über einzelne griechische Denker dürfte sein vertieftes, um nicht zu sagen radikales Verständnis von Wahrheit gewesen sein, das sich ihm mit seiner Hinwendung zum Christentum erschlossen hat.
Dabei darf man solches Wahrheitsstreben nicht von vornherein als unphilosophisch oder gar irrational abtun, denn auch Sokrates und Platon haben ihren Schülern diese Suche nach Wahrheit zu vermitteln gesucht. Und warum sollte nicht auch Tatian davon beeinflußt gewesen sein?
Aber Tatian will nicht nur eine durch kritische Prüfung vorhandener Meinungen gewonnene, gedanklich ausweisbare Wahrheit, die letztlich eine menschengemachte ist, sondern eine unbedingte und damit göttliche Wahrheit21, die er jedoch, wie er nach seinen Studien feststellen mußte, in der griechischen Philosophie nicht finden konnte. Vermutlich erklärt sich vor allem von daher seine schroffe Ablehnung alles Griechischen und seine unerbittliche intellektuelle Abrechnung mit griechischem Denken, so wie er es verstand.
b) Außerdem hat ihn offenbar die schlechte Qualität des religiösen und sittlichen Lebens der Griechen einerseits gegenüber ihren eigenen Ansprüchen, andererseits gegenüber der hochstehenden Moral des Christentums negativ berührt. Man mag griechische paideia noch so sehr schätzen, zu einem moralisch einwandfreien Leben habe sie nur wenig beigetragen, meinte Tatian.
Was ist dagegen das Positive am Christentum für ihn? Eben dies, daß es im Gegensatz dazu aus dem Glauben an Gott heraus eine moralisch einwandfreie Lebenskultur hervorgebracht hat, die jedem einzelnen Christen zur Norm geworden ist.
c) In der Tat, genau das meint er, wenn er vom Christentum als „wahrer Philosophie“ spricht, die sich vor der zum Bildungskanon seiner Zeit gehörenden Philosophie der griechischen Meisterdenker nicht zu verstecken brauche.
Nichts anderes bezweckte somit seine Schrift als zu beweisen, daß das Christentum (mit seinem Glauben an Gott) in dieser Hinsicht dem (ethischen) Denken der griechischen Philosophie hoch überlegen ist.
d) Man darf deswegen aber die Mängel in seiner eigenen Darstellung nicht unterschlagen. Denn man muß auch als Apologet den Gegner nicht schwächer aussehen lassen als er tatsächlich ist. Allerdings ging es ihm um etwas anderes als um eine faire Darstellung des wissenschaftlichen Ertrags der ererbten griechischen Philosophie, nämlich um die polemische Abwehr dieses Denkens, soweit es den Anspruch erhob, Verläßliches und Wahres auch über Gott und die letzten Dinge aussagen zu können und damit die Grenze zum Glauben überschritten hat. Er wollte also zeigen, daß es seiner Meinung nach nicht als Grundlage eines ethisch wertvollen Lebens taugt und inzwischen mit Recht vom Christentum in dieser Beziehung ersetzt worden ist.
e) Zwei Dinge sind also für Tatian wichtig:
1. Tatian weist das griechische Denken hinsichtlich seines Wahrheitsanspruchs in die Schranken. Er verbietet aber keineswegs philosophisches Denken im Bereich des Glaubens. Vielmehr glaubt er, daß die „wahre“ Philosophie nur auf der Basis einer ethisch einwandfreien Moral möglich ist, wie sie durch das Christentum ermöglicht wird. Seine Rede an die Griechen ist insofern eine apologetische Arbeit, als sie den hellenistisch gebildeten Leser auf die Qualität des Christentums für eine bessere philosophische Lebensform als es die griechische ist aufmerksam machen will.
2. Anders als etwa Tertullian22 („Was hat Jerusalem mit Athen zu tun?“) behauptet Tatian also trotz seiner massiven Kritik an griechischer Philosophie keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Glauben und Philosophie. Philosophisch kultiviertes Leben ist auch im Christentum möglich, ja eigentlich nur dort. Man muß aber auch betonen, daß Philosophie für Tatian keine primär theoretische Angelegenheit ist, sondern eine praktische und lebensdienliche sein soll.
2.2 Diatessáron23
a) Das Diatessáron ist das zweite Hauptwerk Tatians. Wenn die Überlieferung stimmt, muß es bereits einige Zeit vor 18024 existiert haben. Der Plan zum Diatessáron wird von der Überlegung ausgegangen sein, daß anstelle der Vielfalt der vier Evangelien die Einheit eines einzelnen Gesamt-Evangeliums treten müsse, was zumindest gut zur Gedankenwelt Tatians passt (siehe seine Wahrheitsdefinition I.1g). Leider liegt es nur in Übersetzungen vor. Obwohl sich die syrisch-aramäische Originalfassung nicht erhalten hat, gibt es jedoch klare sprachliche Anhaltspunkte dafür, daß dieses Werk ursprünglich in Aramäisch abgefaßt wurde25. Allerdings ist nicht auszuschließen, daß ihm eine griechische Ausgabe vorausging, von der das Diatessáron Tatians möglicherweise abhängig war.
Seine Bedeutung besteht in erster Linie in seinem kirchlich-liturgischen Gebrauch. In der syrischen Kirche hat es dadurch nahezu kanonischen Rang erhalten. Bis ins 5. Jahrhundert hinein war dort das Diatessáron (syr.-aram. das Evangelium der „Gemischten“) grundlegend für Gottesdienst und Unterricht, ehe die vier einzelnen Evangelien (syr.-aram. Evangelium der „Getrennten“) eingeführt wurden. Seine große Bedeutung für die Textüberlieferung der vier Evangelien des Neuen Testaments ist unbestritten. 26
b) In der älteren Forschung wurde das konkrete Verhältnis der neutestamentlichen Evangelien zu ihren Quellen auf das Verhältnis des Diatessáron zu den einzelnen Evangelien projiziert.27 Das kann allerdings nicht funktionieren, weil das Diatessáron aus Vier Eins macht, während die Evangelisten die mehr oder weniger einheitlichen Quellen trotz mancher Gemeinsamkeiten zu vier verschiedenen („getrennten“) Evangelien verarbeitet haben, wobei zusätzlich unterschiedliches Sondergut in das jeweilige Evangelium eingefügt wurde. Das Johannesevangelium ist allerdings ein Sonderfall, weil es nur wenige Gemeinsamkeiten mit den drei ersten Evangelien des NT aufweist und sozusagen nur aus „Sondergut“ besteht. Tatian hat richtig gesehen, daß das Johannesevangelium nicht in das Ablaufschema der anderen Evangelien integriert werden kann, und es darum als Rahmen benutzt, in den er ihren relevanten Stoff einordnete28.
c) Theologische Besonderheiten des Diatessaron
Von seiner großen Bedeutung für die syrische Kirche war schon die Rede. Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß dem Diatessaron Züge eignen, die nicht unproblematisch sind. So kann es in gewisser Weise (jedenfalls in westlicher Perspektive) als doketisch sowie asketisch und sogar antijüdisch29 bezeichnet werden. Aber wer Tatians Grundkonzeption vor Augen hat, wird diese Eigenschaften wenigstens teilweise mit den Folgerungen aus seiner Gottesvorstellung erklären können. Ob das Wegschneiden der Stammbäume Jesu (Mt und Lk) schon als antijüdisch bezeichnet werden darf, erscheint mir zweifelhaft. Ebenso hätte es mit der göttlichen Herabkunft des Erlösers begründet werden können. Allerdings gibt es auch nicht akzeptable Eingriffe in den ntl. Textbestand, die zeigen, daß Tatian sich nicht scheute, insbesondere in ethischer Hinsicht (Ehe) seiner syr. Kirche den eigenen spiritualisierenden Maßstab als verbindlich aufzuerlegen. Aber auf dem Hintergrund der besonderen orientalischen Verhältnisse der syrischen Kirche dürften auch diese Akzente im Diatessaron verständlich sein, wenn es denn im Hinblick auf deren spezielle Situation geschaffen wurde.
III. Aspekte zu einer Neubewertung der Person und des Werkes Tatians
1. Bei allen Charakterisierungen Tatians spielt der kirchliche Ost-West-Gegensatz eine nicht unbeträchtliche Rolle. Denn im Osten ist er innerkirchlich nie (wie im Westen) als Häretiker beschimpft und ausgegrenzt worden, wobei sich die Frage stellt, inwieweit er dort überhaupt als Verfasser der Rede an die Griechen bekannt war und ob die Christen im Osten daran Anstoß genommen haben bzw. hätten.
a) Daß Tatian mit seiner Fundamentalkritik an griechischem Leben und Geist gleichwohl über das von Justin gesteckte Ziel einer Ablösung der großen Philosophie Griechenlands durch das christliche Denken (unter Aufrechterhaltung der Verbindung zur Philosophie und der Bewährung des Glaubens an ihr) hinausgeschossen ist, wird man kaum leugnen können. Andererseits zeigt Tatians Ansatz, daß es in der Antike gerade im orientalischen Raum erhebliche Ängste vor einer geistigen Überfremdung der eigenen Kultur durch das westlich-griechische Denken gab.
b) Daß Tatian seine Schrift als einen Akt der Verteidigung östlicher Glaubens- und Lebensart und als Abwendung von der westlichen Kultur verstanden wissen wollte, kann man sich in Rom jedoch nur schwer vorstellen30. Zielte ihre Konzeption gedanklich von Anfang an mehr auf den syrischen (assyrischen) als auf den römischen Kontext? Damit hätten wir einen ganz neuen Interpretationsansatz. Eine Schrift an der Grenze zweier Kulturen, wie geht man als Rezipient damit sachgemäß um?
c) Mit westlichen Augen gelesen, wird man seine „Rede“ nicht als zielführend beurteilen können, vielleicht sogar als abschreckendes Pamphlet beiseite legen. Welcher „Grieche“ konnte sich denn durch diese alles niedermachende Totalkritik angesprochen fühlen? Und auch die christlichen Theologen werden sich gefragt haben, ob diese Schrift nicht bloß ein Beispiel dafür ist, daß die Herausforderung des antiken Denkens durch das werdende und sich entfaltende Christentum (im Römischen Reich) auch zu falschen Frontstellungen innerhalb der christlichen Apologetik führen konnte.
d) Andererseits war das Ringen christlicher Strömungen um den richtigen Weg im Umgang mit der heidnisch-griechischen Philosophie notwendig. Dabei mußten auf christlicher Seite die unterschiedlichen kulturellen Kontexte (und die damit verbundenen Erfahrungen mit der „gegnerischen“ Seite) auch zu unterschiedlichen Ansätzen führen.
Daß das bereits im ersten Anlauf gelingt, damit war doch nicht zu rechnen!31
e) Tatian nahm sich zwei Aufgaben vor, um das Christentum neu zu „positionieren“: Es mußte in seinen Augen 1. gegenüber dem wichtigsten Denken der Zeit neu ausgerichtet werden und es sollte 2. Kraft schöpfen aus einer unzweideutigen, widerspruchslosen Botschaft, die keine Spaltungen in der Gemeinde zuläßt.
Gewiß passen die von Tatian in Rom entwickelten Überlegungen besser auf die orientalischen Verhältnisse, die er ja sehr genau kannte, als auf die westlichen.
Aber von welchem Christentum auch immer die Rede ist, ob in West oder Ost, für alle Christen muß gelten: daß der Gott, der in Christus gehandelt hat, auf die Welt zugegangen ist, um sie durch die Wahrheit von ihrer Feindschaft gegen ihn zu befreien und so mit neuem Leben zu erfüllen. Die Heiligung in der Wahrheit durch das Wort ist das Ziel, das sich Tatian mit seinem Diatessaron (und vorher schon mit seiner Rede) gesetzt hat.
Bedauerlicherweise ist das Bild Tatians nicht zuletzt durch den unheilvollen Ost-West-Gegensatz im kirchlichen Bereich verzerrt worden. Dabei ist sein ernsthaftes Anliegen zu wenig gewürdigt worden: Wie kann sich das Christentum in einer fremden Kultur behaupten und seine innere Wahrheit bewahren?
2. Wenn das Entweder-Oder von Anpassung oder Abgrenzung nicht die einzige Alternative für das Verhältnis des Christentums (Kirche) zur Welt sein soll, muß darüber nachgedacht werden, wieviel Anpassung den Christen (über gute nachbarschaftliche Beziehungen hinaus) in einer fremden, ja feindlichen Umwelt erlaubt sein darf und wieviel Abgrenzung von ihnen verlangt werden muß, um auch in einer prekären Situation am christlichen Glauben kraftvoll festhalten zu können.
a) Voraussetzung für eine konstruktive Abgrenzung ist Präsenz, Sichtbarkeit, und die Feier der Liturgie ist dafür ein wesentliches Element. Dazu leistete Tatians Diatessaron einen hervorragenden Dienst, wenngleich nicht zu übersehen ist, daß ein Einheitsevangelium sowohl der innerkirchlichen Vielfalt schadet, als auch den Prozeß der Inkulturation des Christentums in seiner Umwelt eher erschwert als erleichtert, aber genau das kann ja auch gewollt sein.
c) So können wir von Tatian lernen, ohne daß wir die Evangelien (oder die Paulusbriefe) auf ein Einheitsmaß stutzen können und ohne seine überzogene Ethik zu übernehmen. Denn heute haben wir eine andere Ausgangssituation: Abgrenzung allein kann nicht die Devise sein! Aber Anpassung allein ist sicher auch keine Option mehr!
Das westliche Christentum ist seit Jahrhunderten den Weg der Anpassung gegangen, bis fast nichts mehr von seiner Substanz übrig geblieben ist.
d) Darum brauchen wir neue Modelle für das Selbstverständnis der Kirche in Staat und Gesellschaft.
Denker wie Tatian glaubten im 2. Jht., daß das Christentum als eine Gabe Gottes an die Welt nicht in ihr aufgehen darf.
Ob die von ihm damals vorgeschlagene radikale Abgrenzung des Christentums von der Welt heute der richtige Weg wäre, um es rein zu erhalten, muß man bezweifeln. Aber damals trug sie zur Festigung des Christentums wesentlich bei, so daß es sich nicht auflöste und von der Bildfläche Assyriens verschwand, als die Araber ihren Islam im Land der Assyrer und darüber hinaus verbreiteten.
e) Wir leben in einer anderen Welt, aber wenn das Christentum in Europa eine weitere bedeutende Zukunft haben soll, muß es sich wohl zuerst von der ideologischen Vereinnahmung durch Staat und (bestimmte Teile der) Gesellschaft freimachen.
In diesem Sinne möchte ich das Werk Tatians als erstes großes Beispiel einer Theorie der Abgrenzung des Christentums von der Welt ansehen (nach dem Erlöschen der eschatologischen Naherwartung), einer vor allem ethischen Abgrenzung, die heute unter dem Namen „Entweltlichung“ neu propagiert wird.
f) Mag sein, daß sich die Ethik heute weniger gut zur Abgrenzung eignet, aber ein Christentum, das sein Licht auch in Zukunft leuchten lassen will, muß neben lebendigen und festlichen Gottesdiensten auch ethisch nach einer neuen, glaubwürdigen Gestalt suchen. Es geht nicht nur um das Hochhalten ethischer Maßstäbe für die Gesellschaft, sondern um eine neue Moral in ihren eigenen Reihen. Sonst wird sie als Gemeinschaft auseinander fallen.
Wolfgang Massalsky, 20. 3. 2014
IV. Verwendete Literatur
Monographien, Abhandlungen und Aufsätze:
M. Elze, Tatian und seine Theologie, 1960
A. Augustus Hobson, The Diatessaron of Tatian and the Synoptic Problem, 1904
G. Winkler, Das Diatessaron und das Hebräer-Evangelium, ihr Verhältnis zueinander, in: Symposium Syriacum III, 1980
J. Trelenberg, Tatianos, 2012
E. J. Hunt, Christianity in the Second Century. The case of Tatian, 2003
J. Krans/J. Verheyden (ed.) Patristic Text-Critical Studies. The Collected Essays of William L. Petersen, 2012 (zitiert ohne Seitenangaben)
Dogmengeschichten: Loofs, Leitfaden (hrsg. K. Aland), 1959; Altaner, Patrologia, 1963 Bardenhewer, Geschichte altkirchl. Lit., 1913, 2. Aufl.
Artikel zu Tatian: aus RE 3. Aufl. hrsg. Hauck, Bd 19, 1907, 386-394 (Preuschen); TRE Bd 32, 655-659 (Petersen); LTHK Bd 9, 1964/1986, (A. Hamann)
Art. zu Evangelienharmonie: aus RE Bd 5, 1898, S. 653-661 (Th. Zahn); aus LTHK Bd 3, 1959/1986 (K. Th. Schäfer)
Art. zu Apologeten, Justin, Irenäus, Enkratiten, Tertullian, Valentinos : alle aus LTHK
Anmerkungen:
1 Die gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse waren in diesem Raum überwiegend geprägt durch Land- und Viehwirtschaft, Großgrundbesitz, (Halb-) Nomadentum und Handel sowie durch verschiedene einheimische religiöse Kulte und Sekten. In den Zentren waren höchstwahrscheinlich auch Judentum und Christentum vertreten.
2 War er im westlichen Christentum vor allem als Verfasser der „Rede“ bekannt, so brachte er es im östlichen (orientalischen) Christentum besonders durch seine Evangelienharmonie, das sog. „Diatessáron“, zu großem Ruhm, und während Tatian im Westen (nach der Ära der Apologeten) schon bald wieder vergessen wurde, dauerte sein Nachruhm im Osten noch bis ins 14. Jahrhundert an und wird in der syrischen Kirche noch heute wie ein Kirchenvater verehrt.
4 Was Hunt bezweifelt. Daß Tatian es bei seiner Rückkehr von Rom mitgebracht und als erster Missionar in seine Heimat eingeführt habe (so Preuschen, 391), halte ich für extrem unwahrscheinlich, zumal wir gar nicht wissen, wo genau er sich nach seiner Rückkehr aufgehalten hat. In Damaskus existierte schon zur Zeit des Apostels Paulus eine christliche Gemeinde; warum sollten in den folgenden 100 Jahren nicht weitere Christen bis nach Edessa und in das Zweistromland gekommen sein?
5 Auffällig ist, daß er in dieser Schrift gar nicht explizit von Jesus oder Christus als (historischer) Person spricht. Daß aber die Jesusgeschichte der Evangelien für ihn zumindest in bezug auf die christliche Moral von großer Bedeutung war, beweist seine Bemühung um ein eindeutiges Evangelium (s. II.2.2).
6 Vgl. Elze S. 40. Jörg Trelenberg spricht von „intellektueller Soteriologie“: Bekehrung als Erfassung des richtigen Wissens.
8 Dieser Punkt wird m. E. von Elze nicht in seiner ganzen Schärfe gesehen, wenn er schreibt, Tatian sei in dieser Beziehung „hinter seinem Lehrer Justin zurückgeblieben“ (105).
10 Und darum kann Tatian „weder der Zeit noch der Geschichte“ (und damit dem Wechsel) einen positiven Stellenwert in seinem System einräumen (Elze 105).
13 Das ist allerdings nur eine vage Vermutung, für die es keine Belege gibt. Aber da Edessa für die syrische Kirche von zentraler Bedeutung war, sollte es auch nicht ganz ausgeschlossen sein, daß Tatian dorthin ging oder wenigstens zeitweilig dort lebte.
15 Eine Enthaltsamkeitsübung, die jede Form leiblichen (insbes geschlechtlichen) Genusses aufs schärfste ablehnt.
17 Vgl. auch die Zurückhaltung von Elze, S. 98: Man dürfe Tatian nicht „um seiner gnostisch anmutenden ethischen Forderung willen ganz und gar zum Gnostiker machen“ (vgl. auch 116).
18 Das bestätigt auch Elze S. 113: „Eine Abkehr … von seiner eigenen Grundkonzeption“ sei mit seinem angeblichen Bruch mit der (westlichen) Kirche „nicht.. verbunden“ gewesen.
19 M. E. ist sie während seiner Tätigkeit als selbständiger Lehrer und Schulhaupt entstanden, vielleicht schon vorher. Als Entstehungsdatum wird in der Literatur 165 angegeben. Loofs, S. 86 datiert sie schon auf das Jahr 150 (Harnack hält dieses Datum für möglich, und Zahn legt sich auf 155 fest, Bardenhewer, § 19, S. 264). Preuschen nimmt 161 oder früher an. Konnte Tatian für sein Werk bis zum Tode Justins gewiß auch dessen Autorität in Anspruch nehmen, so konnten die Unterschiede zwischen ihnen auf Dauer doch nicht verborgen bleiben. Ausschlaggebend für das negative Urteil über Tatian wurde allerdings seine rigoristische Moral.
20 Preuschen, 388 Z.18-22, deutet als Grund für diese Einstellung Tatians eine anerzogene (semitische) Abneigung gegen das Griechische an. Die Elite in den Ländern, die durch die Grenzen „Assyriens“ zusammengefaßt sind, dürfte aber sehr wahrscheinlich auch Griechisch beherrscht und seine Kenntnis eher als einen Vorteil denn als Nachteil empfunden haben.
23 Gabriele Winkler will die Vermutung Baumstarks (von 1935) und Peters' (von 1939) untermauern, daß Tatians Diatessaron eigentlich ein Diapente sei (weil abhängig nicht nur von den kanonischen Evangelien, sondern auch und besonders vom judenchristl. Hebräerevangelium), indem sie das Leitmotiv der Ruhe im Diatessaron und im Hebr.evang. (Taufperikope) vergleicht. Daß Jesus Ruhe verheißen kann (Mt 11,28f.), liege daran, daß der Geist Gottes (nach HE) in ihm als dem Sohn zur Ruhe kommt. Darum müsse zwischen beiden Schriften eine „nahe Verwandtschaft“ (34) bestehen.
24 Petersen meint (PTC), es müsse 172 entstanden oder abgeschlossen worden und von Rom nach Assyrien mitgenommen worden sein. Kann man sagen daß der gesamte westliche Text auf dem Diatessaron beruhe (Codex Fuldensis)?
26 So beruhen die „getrennten“ syr. Evangelien-Versionen textlich im wesentlichen auf dem Diatssaron (so Zahn, 657, Zeile18f.).
28 In diesem Zusammenhang wäre interessant zu wissen, ob sich die kirchlich-positive Kommentarliteratur zu den Evangelien im 19. Jahrhundert bei ihren harmonisierenden Auslegungen nicht auch am Diatessáron als Vorbild für eine ähnliche Gesamtsicht orientiert hat.
30 Ungewöhnlich ist in diesem Zusammenhang auch, daß er zur Kennzeichnung seines Verhältnisses zur griechischen Kultur und seiner eigenen kulturellen Zugehörigkeit zum orientalischen Kulturraum ohne jede Scham, im Gegenteil sogar mit einem gewissen Stolz, den sonst eher abwertend gebrauchten Begriff „Barbar“ benutzt (c. 42 Schlußsätze). Damit erinnert er wahrscheinlich nicht ohne Absicht an den Kulturkampf zwischen den Griechen (Westen) und Orientalen (Barbaren) im 4. Jht. v. Chr., der allen späteren Kriegen zwischen beiden Seiten ihre besondere Dramatik verliehen hat.
31 Genau genommen kann es für dieses Problem nie eine abschließende Lösung geben! Die vielen Aufgaben, die sich hier stellen, sind nicht auf einmal zu bewältigen: Von der Struktur der aufzubauenden Kirche abgesehen, ging es um folgende Problemkreise: 1. Wie muß von einem Schöpfer-Gott geredet werden, der sich in einem geschichtlichen Ereignis (Jesus) definitiv offenbart hat? 2. Welches Welt- und Menschenbild ist dem christlichen Glauben kongruent? 3. Ist die philosophische Vernunft als Ergänzung des christlichen Glaubens notwendig, damit er nicht fundamentalistisch-maßlos wird, oder besitzt der Glaube eine eigene Vernunft, die das in seiner Zeit eingekapselte philosophische Denken aufzunehmen und auf neue religiöse (Sinn-) Horizonte hin zu öffnen vermag? 4. Welche Moral entspricht dem Christuszeugnis in einer säkular-heidnischen Welt?