Globalisierung
Globalisierung
unter religiösem Aspekt
1. Was versteht man eigentlich unter „Globalisierung“? Darunter versteht man im allgemeinen eine Intensivierung und Verschärfung der normalerweise schon ziemlich starken nationalen und internationalen Verflechtung von Menschen, Kapital, Waren, Dienstleistungen, Institutionen, Staaten und Organisationen in einem räumlich und zeitlich entgrenzten (und damit globalen) Raum.
2. Wegen der mit der Globalisierung einher gehenden sozialen Verwerfungen in vielen Ländern ist der soziale Ausgleich zwischen den am härtesten betroffenen gesellschaftlichen Schichten ein Dauerproblem und sein Zustandekommen von großer Bedeutung für den sozialen Frieden (wie der momentane Zustand wachsender Arbeitslosigkeit in den westlichen Gesellschaften Europas zeigt). In den Drittwelt-Ländern selber treten ähnliche Probleme auf: zu nennen sind vor allem die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen durch die Globalisierung, das Entstehen von Neureichen-Filz einerseits und Verelendungstendenzen andererseits.
3. Bleibende Risiken der Globalisierung, die sich im ökonomischen und gesellschaftlichen Gefüge nachteilig auf das soziale Klima bei uns und in jenen Gesellschaften der Dritten Welt, die von ihr scheinbar am meisten profitieren, auswirken können, sind: wachsende Instabilität der Märkte, bedenkliche Folgen der Mobilität, Migrationsbewegungen quer durch die Länder, Unterhöhlung gewachsener Identitäten, wachsendes Gewaltpotential zwischen Bevölkerungsschichten, Depressionsanfälligkeiten.
4. Eine erfolgreiche Globalisierung ist darum auf eine starke Sozialpolitik angewiesen.
5. Dabei ist Globalisierung kein bloß ökonomisches oder kolonialpolitisches Thema, das mit den Kirchen (und ihrer Theologie) nichts oder nur indirekt etwas zu tun hätte. Denn erstens hängt sie schon immer mit der Missionsgeschichte der Kirchen zusammen, hat doch die Mission den Blick für die ganze Welt geöffnet. Deswegen kann man den christlichen Kirchen zumindest eine (historische) Teilverantwortung für die Folgen der Globalisierung nicht absprechen. In manchen Gebieten kommt sie wie ein Bumerang einer verfehlten Missionsstrategie auf die Kirchen des Westens zurück. Darum müssen die Kirchen (zweitens) bei ihrer Missionsarbeit heute nicht nur das negative Image des Westens in jenen „globalisierten“ Ländern in ihre Missionsarbeit miteinbeziehen, sondern sich auch damit auseinandersetzen, welche Art von Globalisierung sie wollen.
6. Es gab und gibt kirchlicherseits verschiedene Konzepte zum Thema Globalisierung:
(1) Globalisierung als Ausdruck des Werdens einer einheitlichen Weltgesellschaft in religiös kontrollierbare Bahnen lenken.
(2) Weltzivilgesellschaft als Gegenmacht zu rein ökonomischer Globalisierung.
(3a) Auch im kleinen Bereich der eigenen Region lassen sich zunehmend Entwicklungen beobachten, die aus Globalisierungsprozessen resultieren, z.B. am Verlust von Lebensqualität durch Wegfall oder Aufkauf von ortsnahen Kaufmärkten, durch verstärkte Arbeitslosigkeit, Zunahme von sog. Sozialhilfeempfängern, Kinderarmut, Eindringen von Fremdbevölkerung, Ghettobildung unter ausländischen Bevölkerungsteilen, Aufgabe von Bildungseinrichtungen für die Bevölkerung (Museen/ Büchereien/ Theater/ Medienzentralen) aus Kostengründen.
(3b) Kirchengemeinden können und müssen in dieser Situation nach geeigneten Wegen der Mitbeteiligung an diesen Prozessen der sozialen Befriedung (z. B. durch Quartiersmanagement / Gemeinwesenarbeit, „Laib“ und Seele, Spätcafé) suchen, wobei auch die Möglichkeit religionsübergreifender Lösungen geprüft werden muß.
(4) Gegenüber den Gegenmacht-Strategien, die den Kirchen lediglich eine undankbare Oppositionsrolle übriglassen, ist es sicher sinnvoller, eine vor-Ort- und eine weltweit-Strategie zu erarbeiten, die den Kirchen die Möglichkeit einer positiven Mitgestaltung des Globalisierungsprozesses offenläßt.
7. Aufgepaßt werden muß allerdings, dass sich die Kirchen dabei nicht übernehmen. Kirchen können im Konzert der gobal player auf eine eigenständige Rolle nur hoffen, wenn sie ihre im Rahmen des Ökumenismus geschaffenen internationalen Verbindungen zur Verbesserung der gegenseitigen Kommunikation und der Einflussnahme auf nationale und internationale bzw. globale Entwicklungen einsetzen können. Allerdings kommt es in diesem Zusammenhang verstärkt auf die interreligiöse Zusammenarbeit an. Sie ist schon auf lokaler Ebene schwierig; auf globaler Ebene scheint sie bisher nicht viel mehr als Gesten des guten Willens zu bewirken. Auch die wichtigen internationalen Hilfsleistungen (unter Beteiligung auch kirchlicher Stellen) bei der Bewältigung der verheerenden Katastrophen am Ende des vergangenen Jahres haben noch kein neues Bewusstsein globaler Zusammengehörigkeit schaffen können. Materielle Hilfe ist das eine, die kulturell-religiösen Unterschiede bei der Verarbeitung solcher schrecklichen Naturkatastrophen und ihrer sozialen Folgen etwas ganz anderes.
8. Vor allem müssen die Kirchen, um glaubwürdig zu sein, darauf achten, dass sie nicht zu Erfüllungsgehilfen der weltweit operierenden Wirtschaftsorganisationen im Sinne einer sozialen Ambulanzseelsorge für deren Opfer abgestempelt werden. Sie müssen vielmehr helfen, Vertrauen stiftende Maßnahmen im Sinne geeigneter sozialer Infrastrukturen für die negativ am meisten von Globalisierung betroffenen einheimischen Bevölkerungen aufzubauen. Nicht zu übersehen ist, dass die Globalisierungsfolgen sich oft in solchen Gebieten erschreckend auswirken können, wo bereits schwere ökologische Schäden zu verzeichnen sind.
9. Dadurch kann die Globalisierung auf lokaler und regionaler Ebene überall auf der Welt eine uns aus dem 19. Jahrhundert bekannte Mischung von sozialem Sprengstoff hervorbringen, bestehend aus Herausgerissensein aus den überkommenen Lebensverhältnissen, Verelendung, Heimatlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Werteverfall, Zerstörung der Familie, Verlust von religiöser Geborgenheit und sozialer Ordnung. Das Gegeneinander der sozialen Klassen scheint jedoch seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes auf globaler Ebene weniger durch eine (internationale) Politik des Klassenkampfes (verbunden mit sozialer Stigmatisierung und martialer Polemik) bekämpft zu werden, sondern primär fundamentalistisch von Religionsvertretern der dynamischsten Religionen (bes. des Islam) gegen den Westen als den Urheber allen Übels gerichtet zu werden.
10. Gegen Angstvisionen der Globalisierungsgegner (vor einem drohenden Zusammenbruch der internationalen Zusammenarbeit) helfen wohl nur Konzepte eines verantwortungsbewussten Umgangs mit der Natur in einer internationalen Gemeinschaft verantwortlicher, an der Menschenwürde jedes Einzelnen ausgerichteter Gesellschaften.
11. Seit den 90ern des vergangenen Jahrhunderts machte man sich in religiösen Kreisen vor allem Gedanken über einen fairen Welt-Handel (z.B. Kaffee „transfair“ o.ä.). Hierbei geht es um den Schutz von und den Handel mit Produkten, die von Kleinbauern in Drittweltländern unter Beachtung sozialer und ökologischer Standards hergestellt wurden und noch werden und damit um den Anschluß jener lokalen und regionalen Märkte an den Welthandel, den globalen Markt.
12. Die politische Argumentation dieser besonneneren religiösen Kräfte richtet sich weltweit auf die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Menschenwürde der betroffenen Menschen. Für diese Kräfte bilden Menschenrechte als unteilbare und universale Freiheitsrechte das Fundament für ein normatives Leitbild zur Regulierung der globalen Märkte aus sozialethischer Perspektive. Dabei geht es um die Wiedergewinnung einer verantwortlichen Perspektive menschengerechten Wirtschaftens nach dem Motto, dass die Ökonomie für den Menschen da ist und nicht umgekehrt. Zur Begründung der für alle Menschen ohne jede Einschränkung gültigen Menschenrechte wird hier auf die Schöpfungstheologie und auf die Christologie verwiesen. Dazu wäre jedoch zu sagen, dass aus ihnen zunächst nur ein Handeln zugunsten des geschundenen Menschen in den aus der Bibel schöpfenden Lebensgemeinschaften der Kirchen hergeleitet werden kann. Inwiefern es auch außerhalb der Christenheit und ihrem Einflussbereich möglich ist, unter Berufung auf Gottes Schöpfung und die Erlösung in Jesus Christus, weltweit eine Gegenstrategie gegen negative Folgen der Globalisierung zu entwickeln, das hängt in hohem Maße vom Grad der Zusammenarbeit mit dem Westen und der Ausbreitung seines Wertekanons ab. Die Befreiung des Menschen aus seinem Elend war ja bisher in der Missionstheologie immer als seine Bekehrung zu Christus aufgefasst worden. Einerseits würde das Christentum seine Identität verlieren, wenn es auf Mission verzichtete, andererseits wird seine Missionsstrategie nicht länger die Umkehr zu westlicher Lebensart als erzieherischem Leitbild propagieren dürfen (das in Wirklichkeit eher materialistisch-säkular als religiös bestimmt ist), ohne Zusammenstöße mit anderen Religionen und Lebensgewohnheiten zu riskieren. Daß der Glaube an Christus allerdings nicht bloß abstrakt verstanden werden kann, sondern immer auch mit den konkreten Lebensverhältnissen der Gläubigen zu tun hat, ist heute in allen kirchlichen Gruppen hinlänglich anerkannt.
13. Ob die Forderung nach Regulierungsmaßnahmen (im Sinne von ethisch bestimmten Standards für das eigene ökonomische Handeln) bezüglich globaler Fehlentwicklungen ausreichend ist, scheint jedoch fraglich, zumal es ja keineswegs so ist, dass die Nationalstaaten ihre Macht an die global agierenden Wirtschaftsorganisationen verloren hätten. Wer vor allem auf die (nationalen) Vorteile dieser Entwicklung sieht, der wird die Nachteile (steigender Einfluß internationaler Großorganisationen auf nationale Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen) relativ leicht in Kauf nehmen können. Darum arbeiten nicht selten die Drittweltländer mit den internationalen Konzernen Hand in Hand. Von daher ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß diese Wirtschaftsorganisationen auf die Anwendung ethischer Prinzipien verpflichtet werden können. Die Rücksichtnahme auf soziale Mindeststandards im internationalen Wirtschaften muß sich für sie schon lohnen, wenn sie auf solche Forderungen kirchlicher und religiös gesinnter Kreise eingehen sollen. Dh. nur wenn ein Wettbewerbsnachteil und damit auch ein Schaden für den eigenen Profit zu befürchten oder bereits eingetreten ist, werden sie ethische Prinzipien in ihr Handeln aufnehmen, und auch dies nur, wenn sie sich davon Vorteile versprechen können – oder sich einen anderen Standort suchen!
14. Daß marktkonforme Regulierungsmechanismen der Wirtschaft und den Menschen gleichermaßen nützen können, ist als ethische Maxime zu allgemein und zu idealistisch, um von Wirtschaftsunternehmen zur Grundlage ihrer Firmenpolitik gemacht zu werden. Es entspricht eher sozialethischem Wunschdenken. Die Realität ist, dass westliche Wirtschaftsunternehmen mit Schmiergeldzahlungen (Korruption) sich in der Regel von sozialpolitischen Förderungsmaßnahmen oder Infrastruktur-Projekten freikaufen können. Wenn die internationale Wirtschaft auch sehr zur Anhebung des Wohlstands der Nationen beiträgt, so ist sie doch im allgemeinen ohne entscheidenden politischen Einfluß auf dessen nationale Verteilung. Die Überwindung von Ausbeutungsverhältnissen und die Durchsetzung von Mindeststandards sozialer Gerechtigkeit ist nicht die Aufgabe globaler Wirtschaftsverbände, sondern der etablierten nationalen und internationalen Herrschaftssysteme. Daß diese den global players oft nützlich sind, bedeutet zugleich, dass die (ökonomische) Globalisierung kein Interesse an der Veränderung oder gar Abschaffung von Rahmenbedingungen haben kann, die ihrer Wirksamkeit keinen oder nur wenig Widerstand entgegensetzen. Daß dieser Wohlstand jedoch (auf Kosten der jeweiligen Bevölkerungsmehrheit) großenteils von starken nationalen Gruppen legal und illegal angeeignet wird, ist nicht der Globalisierung als solcher anzulasten. Vielmehr hängt dies zumeist von den einheimischen Lebensverhältnissen und Herrschaftsformen, aber auch von den religiösen Vorstellungen in den von der Globalisierung profitierenden Ländern Osteuropas, der Dritten Welt oder in den sog. Schwellenländern ab. Nur wenn global operierende Wirtschaftsorganisationen dort auf massiven und berechtigten Widerstand stoßen, was bei Verursachung extremer sozialer Spannungen oder ökologischer Katastrophen in der Vergangenheit ansatzweise schon vorgekommen ist, und nur wenn ein Abwandern dieser Wirtschaftskonzerne in andere Weltregionen weder ein Mehr an Sicherheit noch größere Profitraten verheißt, wird sich allmählich ein Umdenken in der Strategie des Wirtschaftens vollziehen.
15. Die Verbesserung der Kommunikationsformen und des brüderlichen Kontakts innerhalb der christlichen Ökumene und eine genauere Beschreibung und Beurteilung der Globalisierungsprozesse dürfte daher vorläufig neben den lokalen und regionalen Formen der Auseinandersetzung mit Globalisierungsfolgen zu den wichtigsten Vorgehensweisen der christlichen Gemeinden und Kirchen in unserem Land während dieser Phase der Globalisierungspolitik westlicher Wirtschaftsorganisationen gehören. Dagegen scheinen Formen des Widerstands oder gar der Fundamentalopposition wenig hilfreich zu sein und in unserer Bevölkerung nur auf wenig Verständnis stoßen, zumal die kirchliche Basis in unseren Gesellschaften nicht die allerstabilste ist.
Wolfgang Massalsky, 21. 4. 2005
Literaturhinweis:
Jörg Hübner, Globalisierung – Herausforderung für Kirchen und Theologie. Für eine menschengerechte Weltwirtschaft, 2003 (wörtliche Entnahmen in kursiv)