Interreligiöser Dialog

Der Spielraum der Religionen in unserer Gesellschaft

und die Angst vor Veränderungen

Alte und neue Aufgaben  für den  interreligiösen Dialog

 

1. Unter „interreligiösem Dialog“ versteht man bilaterale oder multilaterale Gespräche zwischen den Vertretern der Weltreligionen. Gründe dafür sind häufig ethnische oder politische Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen eines Landes. Heute werden Gespräche zwischen Religionsvertretern auch in der Überzeugung gefordert, daß es nach dem Ende des Kalten Krieges verstärkt auf die Friedensfähigkeit der Religionen ankommt, um einen dauerhaften Frieden in den Konfliktregionen unserer Welt herbeizuführen und Kriege gar nicht erst ausbrechen zu lassen. Aus dieser Erkenntnis heraus hatte der katholische Papst Johannes Paul II. bereits 1986 eine Versammlung bedeutender Religionsführer zum ersten Weltgebetstreffen  nach Assisi (Italien) eingeladen.

2.  Um die Friedenskräfte in den Religionen zu stärken, wird als Grundregel des interreligiösen Dialogs empfohlen, nicht die Gegensätze hervorzuheben, die in kultureller Hinsicht zwischen den Religionen bestehen, sondern ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. Dabei wird von islamischer Seite den Christen in unserem Land geraten, fremde Religiosität und so auch den in Deutschland  eingeführten Islam zu akzeptieren und nicht als Bedrohung ihrer eigenen Identität zu empfinden und den ideologischen Mißbrauch einzelner Elemente (z. B. den sog. „Heiligen Krieg“) nicht mit der eigentlichen Substanz  des Islam zu verwechseln. Die Ängste vor dem Islam würden oft von Leuten geschürt, die ihn gar nicht kennen.  Der in unserer Gesellschaft angekommene und integrierte Islam fördere religiöses Engagement im Einklang mit den Grundwerten der westlichen Demokratie, wie z. B. unabhängiger Justiz, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Informationsfreiheit, Schulbildung und freier Berufswahl, bekämpfe Gewalt unter Jugendlichen und schütze das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Mädchen in ihren Familien. 

3. Andererseits gibt es auch Islamkritiker, die nicht aus dem christlichen Bereich kommen, sondern ursprünglich selbst Muslime und Musliminnen waren oder noch sind und Angst haben, daß die Vorzüge des liberalen, religionsneutralen, säkularen Staates, der niemandem seine Religion vorschreibt, unter dem Einfluß eines zum Fundamentalismus tendierenden Islam ganz oder teilweise irgendwann auch in unserem Land verloren gehen könnten. 

4. Dabei zeigt sich, daß die Freiheit, die dieser Staat dem Menschen zu seiner Selbstverwirklichung gewährt, auch erlernt werden will. Sie ist nicht angeboren. Die abstrakten Werte des Staates sollen praktiziert werden, aber dazu ist eine häusliche und schulische Erziehung notwendig, die heute nicht mehr generell vorausgesetzt werden kann. Da die Christenheit in Deutschland nach den Erfahrungen der Nazizeit (staatliche) Gesetze nicht mehr in jedem Fall über das Gewissen des einzelnen stellen kann, ist die Erziehung zur Freiheit, ihren Möglichkeiten und Grenzen im säkularen Staat, eine Aufgabe „religiöser Sozialisation“, über die immer wieder neu nachgedacht werden muß. Dazu kann das erzieherische Gespräch zwischen den Religionsgemeinschaften auf allen Seiten neue Impulse vermitteln.

5. Neben den gesellschaftlichen und politischen Formen des Dialogs mit dem  Islam in unserem Land („Islamkonferenz“) nimmt sich der Dialog zwischen Christentum und Islam auf religiöser Basis derzeit relativ bescheiden aus. Auf EKD-Ebene sind die Gespräche unter dem früheren Bischof Huber sogar vorübergehend eingestellt und seitdem nicht wieder in vollem Umfang aufgenommen worden. Gespräche ohne Vorbehalte über gemeinsam interessierende Fragen sollten allerdings immer möglich sein. Immerhin kann es wie in Sachen Religionsunterricht und Universitätstheologie auch in Zukunft gemeinsame Interessen gegenüber dem Staat geben, z. B. bei der Frage des Gottesbezugs in der europäischen Verfassung. Außerdem ist der gegenseitige Austausch von Positionen in bezug auf die säkulare Gesellschaft stets wertvoll. Allerdings darf dieser Dialog den Dialog mit den jüdischen Gemeinschaften und das ökumenische Gespräch zwischen uns Protestanten und den Katholiken sowie mit anderen christlichen Gruppen nicht in den Hintergrund treten lassen.

6. Der Dialog zwischen Juden und Christen nahm bisher den größten Raum im Dialog der Religionen in Deutschland ein. Dazu trug das Erschrecken über das Ausmaß der Judenvernichtung nach dem Ende des 2. Weltkriegs ganz wesentlich bei.  Vom Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 bis zu den Synodal-Beschlüssen der Rheinischen Kirche über das Verhältnis von Kirche und Israel von 1980 bzw. 1983 wurde um eine Neubegründung des Verhältnisses von Christen und Juden gerungen. Die Untersuchung des christlichen Antijudaismus als eine der vielen möglichen Ursachen des nationalsozialistischen Antisemitismus gehörte genauso zum Programm dieses Dialogs wie das Problem der sog. „Judenmission“ und die Frage, ob Gottes Bund mit seinem Volk Israel von Gott zugunsten der Kirche aufgekündigt wurde oder noch immer besteht. Der Versuch, das Verhältnis von Kirche und Israel (Judentum) in diesem Punkt auf neue Grundlagen zu stellen, löste allerdings innerprotestantische Kontroversen aus, die bis heute zwischen Luthertum und Reformiertem Bund nicht abschließend geklärt sind: Ist es aus christlicher Sicht erlaubt zu sagen, daß Jesus ausschließlich für das Heil der Heidenvölker (Nichtjuden) gestorben und Israels Weg durch die Geschichte vom Kreuzestod Jesu weder positiv noch negativ betroffen ist? Und gilt das, was in der Bibel über das historische und nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 untergegangene Israel gesagt wurde, ohne Abstriche auch von dem heutigen (säkularen) Staat Israel? Ist das moderne Israel seit seiner Gründung 1948 tatsächlich der Träger der Verheißungen Gottes, die von Abraham und David her einst auf  das Alte Israel übertragen wurden?

7.  Die Kurve der Ökumene weist seit der Amtszeit von Papst Johannes XXIII. viele Höhepunkte auf, aber seit dem  Pontifikat von Johannes Paul II. („Dominus Jesus“) und Benedikt XVI. zeigt sie immer mehr nach unten. Die großen Hoffnungen über eine grundlegende Erneuerung des Verhältnisses der katholischen Kirche zu den Kirchen der Reformation haben sich nicht erfüllt. Weder wurde das grundlegende reformatorische Bekenntnis, die Confessio Augustana (1530) von der katholischen Kirche seiner  Intention nach als „katholisch“ (=das Ganze bewahrend) anerkannt, noch erhielt die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999, von  der lutherischen und katholischen Kirche auf Weltebene beschlossen, die breite Zustimmung der evangelischen Christenheit in Deutschland, wie man sie erhofft hatte. Rund 160 evangelische Theologieprofessoren lehnten sie ausdrücklich ab. Während Teile des weltweiten Protestantismus zu einem Lehrkonsens mit der katholischen Kirche in zentralen Streitfragen des gemeinsamen Glaubens bereit waren, haben andere Angst vor zu weitgehenden Zugeständnissen ihr gegenüber. Weil diese in ihren Augen einer Selbstaufgabe gleichkämen?

8. Der Prozeß der religiösen Umwälzung in unserer Gesellschaft ist an vielen Faktoren ablesbar, nicht nur an der Abnahme des Gewichts gesellschaftlicher Großorganisationen überhaupt (wie z. B. der Parteien und so auch der Kirchen): 

a) negativ

1. durch die bis zur Anonymisierung gehende Individualisierung persönlicher Lebensverhältnisse, denen nach Meinung des Soziologen U. Beck auch ein „eigener“ Gottesglaube entspreche;

2. durch das allmähliche Nachlassen der gesellschaftlichen Bindekraft der von den politischen Lagern gepflegten Ideologien einschließlich der kirchlichen Lebens- und Moralvorstellungen (PID, Sterbehilfe etc.); 

b) positiv

durch eine Säkularisierung und Modernisierung der Lebensverhältnisse, die nach religiöser Rückversicherung verlange. 

In dieser Situation wird die Kirche gut beraten sein, sich nicht nur an gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen abzuarbeiten oder sich als gesellschaftsdiakonisches Auffangbecken für orientierungslos gewordene Bevölkerungsteile anzubieten, sondern sie wird generell daran arbeiten müssen, eine am Gottesdienst orientierte Spiritualität des Glaubens und der Freiheit zu entwickeln, die uns Christen hilft, die  widersprüchlichen Erfahrungen in unserer Gesellschaft auszuhalten. Darüberhinaus wird es immer dringlicher, zusammen mit Gleichgesinnten in den Gemeinden neue Formen der Gemeinschaft, der Weiterbildung und der gegenseitigen Ermutigung auszuprobieren, um das eigene Profil im Zusammenleben religiös unterschiedlich geprägter Bevölkerungsteile besser erkennbar werden zu lassen. Vielleicht gelingt so auch am ehesten der Spagat zwischen der Pflege religiöser Identität einerseits und der besonderen Verantwortung (von Regionalgemeinden) für das politische Gemeinwesen in seiner Vielfalt andererseits.

9. Zwingt die religiös gemischte, pluralistische Gesellschaft zum Verzicht auf den Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens? Das meinen jedenfalls viele, die befürchten, daß solche Ansprüche die gegenseitige Toleranz  der Religionen untergraben und das Einleben von Migranten in unserer Gesellschaft erschweren. Dazu  wird oft auf die Lessing’sche Ringparabel in „Nathan der Weise“ verwiesen. Danach könne nur die Praxis zeigen, welche Religion die beste sei. Meistens versteht man diese Parabel so, daß alles andere an den  großen Weltreligionen, wie z. B. ihre Heiligen Schriften, ihre Glaubensdogmatik, ihre ethischen Grundaussagen  nur etwas für Spezialisten sei. Es komme einzig auf das praktische Leben und Zusammenleben an, um die Qualität einer Religion zu beurteilen. Denn sie wollen ja alle Gott dienen, und ihre Unterschiede seien mehr kultureller als religiöser Natur. In einer neuen Umgebung würden sie sich anders entwickeln als in ihren Heimatländern.

Aber auch das gehört zum Gesamtbild von Religionen: Welche Kultur sie hervorgebracht haben oder bisher mit ihnen in Verbindung gebracht werden mußte und ob man ihnen zutraut, sich neu zu orientieren.

10. Jede Religion hat ihre besonderen Entstehungsbedingungen (die des Christentums liegen  in der Ansage des künftigen Gottesreiches und in der Auseinandersetzung Jesu mit der jüdischen Gesetzespraxis seiner Zeit, die des Islam in der Ablehnung der Gottessohnschaft Jesu als einer falschen Vergöttlichung, ja Vergötzung des Menschen sowie einer unmöglichen Vermenschlichung des nicht abbildbaren Gottes), die sie nicht aufgeben kann und die im Grunde auch ihre Existenzberechtigung im Kreis der Religionen, also ihre „Wahrheit“,  ausmachen. Diese Entstehungsbedingungen sollten beim interreligiösen Dialog nicht vergessen werden. Sie offenbaren das in der Tiefe zwischen den Religionen bestehende Konkurrenzverhältnis. Auch wenn die ihnen eigene "Wahrheit" angesichts der vielen praktischen Probleme, mit denen alle Religionen  im Westen - und nicht nur dort - zu kämpfen haben, nicht ideologisch überbewertet werden darf, wäre es ein fundamentaler Fehler, Religionen auf praktische Lebensform zu reduzieren und alles andere an ihnen wegzulassen.

Es geht in ihnen ja nicht nur um eine jeweils neue Gottesoffenbarung, die mittels besonderer Heilsgestalten (Mose, Jesus, Mohammed) den Menschen, an die sich Gott wenden will, weitergegeben wird,  sondern zugleich um eine daraus folgende Gesamtsicht von Welt und Mensch, die sich für die Gläubigen auch unter völlig veränderten Lebensumständen gegenüber der Entstehungszeit als wahr und als verbindlich erweist.

Den Anderen im Dialog ernst zu nehmen, heißt ihn aus den Wurzeln seines Glaubens kennenzulernen und zu verstehen, möglicherweise aber auch von anderen Glaubensüberzeugungen aus zu korrigieren. 

Wolfgang Massalsky, 30. 5. 2011