Karl Barth und die Folgen
Solidarität mit den Gottlosen?[1]
01. Gott und Mensch bildeten in der frühen Theologie des „Dialektikers“ K. Barth (1886-1968) ein Gegensatzpaar wie Feuer und Wasser, ja sogar wie Zeit und Ewigkeit. (vgl. seinen Römerbriefkommentar von 1922).
02. Dieser Gegensatz beeinflusste auch sein Verständnis von Kirche und Welt. Beide stehen Gott gegenüber, wenn auch in unterschiedlicher Nähe zu ihm.
03. D.h. grundsätzlich kann die Kirche nicht so tun, als sei sie weniger von der Gottlosigkeit bedroht als die Welt insgesamt.
04. Daher darf sie sich nicht über die Welt als etwas Besseres erheben wollen, im Gegenteil: Als genauso bedroht von der Gottlosigkeit wie die neben ihr stehende Welt, kann sie nicht auf die Welt herabschauen. Vielmehr soll sie ihr in Solidarität verbunden sein.
05. Barth dachte daran, dass das Evangelium sich seine Kirche immer wieder neu schaffen muß. Damit hat für ihn die Verkündigung eine herausgehobene Bedeutung. Dennoch braucht die Gottesdienstgemeinde der Laien, um Kirche zu sein, nicht nur den Predigtdienst (Homiletik), sondern auch den priesterlichen Dienst (Liturgik), und aus beiden können weitere Dienste (z. B. Diakonie und Katechetik) abgeleitet werden. Gottesdienst- und Gemeindeordnungen kommen später ebenfalls dazu.
06. Weil die Kirche ihren Auftrag der Evangeliumsverkündigung nur verwirklichen kann, wenn ihre verschiedenen Dienste zu diesem Zweck zusammenwirken, darum fordert diese Situation alle Funktionsträger und Gemeindeglieder zu gegenseitiger Solidarität und gemeinsamer Trägerschaft des Dienstes an der Welt auf.
07. Folgerichtig konnte in einem weiteren Schritt diese Solidarität später auch auf die Menschen außerhalb der Kirche ausgeweitet werden (so bei H. Vogel).
08. Denn wenn selbst die Kirche (von der Welt ganz zu schweigen) durch ihre wechselhafte Geschichte die ihr geschenkte Nähe zu Gott prinzipiell missbrauchen und verlieren kann, gibt es keinen Grund, Kirche und Welt als wesensverschieden anzusehen. Sie sitzen beide Gott gegenüber in demselben Boot – auch wenn in der Kirche, entsprechend ihrem Auftrag Gottes Wort für die Welt verkündigt wird. Und ebendeshalb hat die Kirche sowohl mit der Welt ganz allgemein (auch und gerade in ihrer Gottlosigkeit) als auch insbesondere mit (dem „verstockten“) Israel Solidarität zu üben (Röm 9 -11).
09. Es ist die Solidarität einer Kirche, die sich als die Kirche der „Gottlosen“ aller Länder versteht, jener Menschen, die für ihr neues Leben einzig und allein auf Gottes Barmherzigkeit (in Jesus Christus) vertrauen können und wollen (Röm 1-2).
10. Daher bildeten für Barth und einige seiner Mitstreiter und Schüler Kirche und Welt keine sich exklusiv ausschließende Größen, sondern eine Einheit. Während die traditionelle römisch-katholische Ekklesiologie (= Lehre von der Kirche) diese Sicht ablehnte, weil dort Kirche als der Bereich des Heiligen von der Welt als dem Bereich des Profanen scharf getrennt worden ist, nahmen die Lutheraner eine eher vermittelnde Position ein, weil sie einerseits zwar Kirche und Staat als zwei „Reiche“ trennten, in denen Gott jeweils ein sehr unterschiedliches Regiment ausübe, andererseits aber ein in dieser Welt geübtes Christsein trotz der „Rechtfertigung der Gottlosen“ durch die Taufe und des damit gesetzten Neuanfangs nie frei von Sünde sein werde.
11. Christsein ist also für Barth (in seiner „dialektischen“ Phase) und seine Schüler nicht mehr eine Frage der Kirchenmitgliedschaft oder der Präsenz im Gottesdienst, sondern umgekehrt: Erst durch gelebtes und praktiziertes Christentum („Glaube“) entsteht Kirche als Gottesdienst- und Kirchengemeinschaft.
12. Man kann also auch außerhalb der Kirche im engeren Sinne „Christ“ sein (siehe „Christentum außerhalb der Kirche“), wenn man den Glauben an Christus Tat werden lässt im solidarischen Bekenntnis zur Befreiung des Mitmenschen aus existenzieller oder gesellschaftlich verursachter Not.
13. Diese Auffassung schien außerdem die sich langsam auflösende Volkskirche, die immer mehr nur mit sich selbst und ihrer Zukunft beschäftigt war, mit neuem Elan auf die „Welt“ auszurichten, ja ihr sogar neue (missionarische) Aufgabenfelder zu erschließen.
14. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts schloß diese Solidarität der Kirche mit der Welt (z. B. in der DDR) nicht nur die nach Gott Fragenden, sondern eben auch bekennende Atheisten und Kommunisten ein (was besonders in der damaligen Bundesrepublik – „im Westen“ – auf wenig Verständnis stieß, wo der Antikommunismus zur damaligen Zeit quasi Staatsideologie war). Mit dieser Offenheit für Nichtgläubige verband sich allerdings sehr oft eine Abqualifizierung des "unpolitischen" Christentums in Westdeutschland, so als ob dieses die Bedrohung der Welt durch widergöttliche Mächte nicht ernst genug nähme, wohingegen „Sozialisten“ durch ihren Kampf gegen Ungerechtigkeit, Kapitalismus und Imperialismus (vgl. H. Gollwitzers Flugblatt „Christen müssen Sozialisten sein“) sich gleichsam als die besseren „Christen“ ausgewiesen hätten.
15. Dadurch band sich jedoch das Bekenntnis der Kirche zu Gott immer einseitiger an die Kampfgemeinschaft mit allen gesellschaftlich „fortschrittlichen“ Kräften, und aus dem Glauben wurde allmählich eine bloße Motivation für gemeinsames gesellschaftskritisches Engagement.
16. Für eine darüber hinaus gehende religiöse Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft hatte dieses ekklesiologische bzw. kirchenpolitische Konzept nur wenig übrig, obwohl es auch in der damaligen DDR nicht an Gegenstimmen gegen diese theologische Einstellung fehlte.
17. Ist es ein Zufall, dass diese Position nach dem Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Staats-Sozialismus in der DDR aus der ekklesiologischen Diskussion hierzulande weitestgehend verschwunden ist?
18. Wie sieht das Thema Solidarität heute aus, angesichts unserer mehr und mehr vom Säkularismus bestimmten gesellschaftlichen Situation in Deutschland und in Westeuropa, wo es kaum noch bekennende Kommunisten gibt, dafür aber eine wachsende Zahl von bekennenden Vernunft-Atheisten, neben Esoterik-Klubs und religiösen Selbstversorgern?
19. Mit wem kann und muß die Kirche in ihrem heutigen gesellschaftlichen Umfeld solidarisch sein, wobei die Solidarität mit den Ausgegrenzten und Schwachen selbstverständlich nicht in Frage gestellt werden soll? Ist Solidaritätüben (vgl. Punkt 14) weiterhin ein Überlebensgebot der Kirche, wie es zur Zeit der DDR für die dortigen evangelischen Kirchen und Gemeinden („Kirche im Sozialismus“), also in einer kirchenfeindlichen Umwelt, der Fall war? Und wenn ja, hieße das dann, übertragen auf unsere (westeuropäische) Situation, Solidarität zu üben mit den Trägern und Vertretern der säkularistischen Ideologie, in der Annahme, das Christentum sei letztlich nur religionslos und säkular in der heutigen Welt überlebensfähig?
20. Demgegenüber scheint es vielen um die Zukunft der Kirche besorgten Mitchristen notwendig zu sein (und ich schließe mich dieser Position an), trotz aller nicht zu bestreitenden Anpassungszwänge (bes. in struktureller Hinsicht), das genuin religiöse Profil der Kirche zu schärfen, um in dieser Gesellschaft wieder als eigenständige Kraft wahrgenommen zu werden, was allerdings nicht zu konfessionalistischen Rückschritten führen darf. Im Gegenteil fordert dieser Prozeß von der evangelischen Kirche, sich auf ihre eigentliche Funktion zu besinnen.
21. Das kann nach evangelischem Verständnis nur durch Vertiefung in Bibel und reformatorischer Tradition geschehen, wobei auch die Bearbeitung der dringendsten Gegenwartsaufgaben nicht zu kurz kommen darf. Nur so wird sie selber glaubwürdig bleiben und zugleich den Menschen in unserer Gesellschaft die Sinne schärfen können für ein Leben das mehr will, als genug Geld und Freizeit auf jeder Altersstufe zu haben, um von niemandem abhängig zu sein. Wer sich nach Alternativen zu diesem von Banalitäten nur so strotzenden Alltags-Leben unserer Wachstums- und Konsumgesellschaft umsieht, der sollte allerdings in unseren Gottesdiensten mehr finden, als die bloße Wiederholung und Überhöhung unseres normalen Lebens, überkleidet mit biblischer "Sozialkritik" oder den Spruchweisheiten eines "gelingenden" Lebens, um alles beim alten lassen zu können. So wird der Name Gottes im kirchlichen Handeln leider nur zu oft mißbraucht.
22. Vielmehr muß das Ziel kirchlicher Reformbestrebungen auch heute in erster Linie darin bestehen, mit den Gemeindegliedern und anderen Interessierten, Perspektiven für eine andere Lebenspraxis zu entwickeln, für die der Glaube an Jesus Christus konstitutiv ist. Das bedeutet ein Leben in Freiheit, aber keineswegs ein ungebundenes Leben. Was die säkulare Gesellschaft am überlieferten christlichen Lebensstil ablehnt, muß nicht unbedingt auch in der Kirche überholt sein. Denn die Kirche kann sich die säkularen Lebensformen unserer Zeit nicht in jedem Fall zu eigen machen, ohne ihr Erbe zu verraten. Man kann es als Handicap sehen, das sie tragen muß. Aber wer glaubt, daß sie das alles über Bord werfen muß, was sie bisher als ihre Grundwerte z. B. Ehe und Familie betreffend gelehrt hat, um in unserer Gesellschaft beliebt oder modern zu sein, der hat den Sinn und den Zweck der Kirche in dieser Welt mißverstanden. Daß es außerhalb der Kirche ganz neue Entwicklungen gibt (vor allem was die Geschlechter-Frage anbelangt), ist unübersehbar und muß sie akzeptieren. Aber sie muß nicht zu allem ihr Ja und Amen sagen.
23. So kann auch die Segnung homosexueller Paare nicht pauschal von der Kirche verlangt werden, sondern nur wo eine echte kirchliche Beziehung der betroffenen Personen besteht. Andererseits: Identität, Authentizität, Festigkeit, Sinn und Orientierung aus christlichem Glauben zu gewinnen, ist ein Angebot, das die Kirche allen Menschen zu machen hat, nicht nur sexuell "normal" gepolten Menschen. Dennoch bleibt es dabei, daß die Kirche nicht allen Trends des Zeitgeistes nachgeben darf, weil sie nicht eine Zivilreligion pflegt, sondern den Gott Jesu und seinen Geist verkündigt, der wie wir an der Geschichte Jesu erkennen können, oft genug quer zum Zeitgeist steht.
24. Das bedeutet freilich für unsere kirchliche Region (Berlin) nichts weniger als einen „religionspolitischen“ Kurswechsel. Religiöse Inhalte und Wahrheitsansprüche verdienen offensichtlich (nicht zuletzt als Reaktion auf einen sehr selbstbewussten Islam) eine entschieden größere Aufmerksamkeit im Leben der Kirche als das, was der Zeitgeist für aktuell hält, den sie immer wieder mit dem Heiligen Geist verwechselt.
25. Doch darf dieser Ansatz nicht als unpolitisch oder gar als Verzicht der Kirche auf Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens missverstanden werden. Im Gegenteil: Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Kirche nur als unverwechselbar religiöse Institution wieder zu einem politisch ernstzunehmenden Faktor im gesellschaftlichen Leben unseres Landes aufsteigen.
26. Insofern scheint der Säkularismus unserer Zeit die Kirche vor neue und andere Herausforderungen zu stellen, als dies in der zurückliegenden Epoche unserer Kirchengeschichte der Fall war.
Wolfgang Massalsky, 13. 9. 2012
Für den „Arbeitskreis Bibel, Theologie, Kirche“
[1] vgl. dazu F. W. Marquardt, Solidarität mit den Gottlosen, in: FS für Heinreich Vogel „Vom Herrengeheimnis der Wahrheit“ 1962, S. 381-406